# taz.de -- Russlands Angriffskrieg in der Ukraine: „Wir sind nur kleine Leut… | |
> In dem unscheinbaren russischen Dorf Diktatura hat die Sowjetunion | |
> allerlei Ruinen hinterlassen. Doch verschwunden ist die Diktatur hier | |
> nie. Ein Ortsbesuch. | |
Bild: Als sei hier die Zeit stehen geblieben: Das Dorf Diktatura im Februar 2025 | |
Diktatura taz | Sie hat selten etwas anderes gesehen in ihrem Leben. Das | |
Dorf, das war ihre Welt. Die Kinder, die Arbeit in der Bibliothek. Immer | |
nur Diktatura. Ein Ort, wie es so viele gibt im großen Russland, ein paar | |
hundert Seelen, viel Land, viel Wald, viel Wiese. Die Straßen heißen | |
Sowjetische Straße, Straße der Arbeit, Straße der Jugend. Ein Spielplatz | |
mit Schaukel und Rutsche, eine Erste-Hilfe-Station. Das Werk nennt sich | |
immer noch „Bestarbeiter“, wie einst die sowjetische Sowchose. | |
Tatjana Grischina kennt jede Ecke von Diktatura, sie ist hier aufgewachsen | |
und nie weggegangen. „Einmal Moskau und zweimal Kyjiw, noch zu | |
Sowjetzeiten. Für andere Abenteuer hat das Geld gefehlt. Und auch der | |
Wille. Ich bin eine Diktatur-Seele“, sagt die 68-Jährige und lächelt | |
verschmitzt. Mancher zweistöckige Plattenbau, einst der Stolz des Orts, ist | |
nur noch ein Geisterhaus. Im Hof flattert bunte Wäsche zum Trocknen. | |
Diktatura ist ein Sackgassendorf, der Bus macht hier kehrt, Endstation. | |
Moskau ist knapp 300 Kilometer nördlich. Knapp 400 Kilometer südwestlich | |
liegt die Front. Drei Jahre Leid, Zerstörung, Verheerungen, die Russlands | |
Präsident Wladimir Putin seit seinem Marschbefehl am 24. Februar 2022 nicht | |
nur über die Ukraine, sondern auch über sein eigenes Land gebracht hat. | |
[1][„Saschka, Wowan, Artur, Serjoschka, Mischka, Aljoscha.“ Tatjana | |
Grischina zählt die Namen derer aus dem Dorf auf, die in den Krieg gezogen | |
waren. Fast alle freiwillig. Einer ist verschollen, ein anderer tot.] „Sie | |
sind Patrioten, sie erfüllen ihre Pflicht“, sagt die Rentnerin und stapft | |
weiter durch den Schnee, vorbei an verfallenen Holzhäuschen zur | |
Essensaufbewahrung, den Mülltonnen mit einem aufgemalten Z, dem Zeichen der | |
Unterstützung des Krieges, den brachliegenden Garagen. An einen | |
Trümmerhaufen im Feld hat jemand „Pustota“ hingepinselt, Leere. | |
## Leere überall | |
Ein Wort, das den Zustand der Menschen im Land gut beschreibt. Äußerlich | |
wie innerlich. Als würde das Schweigen sich im ganzen Land wie ein Sumpf | |
ausbreiten und alles Lebendige, wenn es denn jemals da war, verschlingen. | |
Hineinziehen in den Morast aus Verwerfungen und Beschönigungen. | |
Bloß nicht nachdenken! Nichts wissen wollen! Nichts fühlen! Nicht über | |
Dinge sprechen, die Schmerzen verursachen, die Zweifel hervorrufen! Lieber | |
verstecken in der Scheinwelt, in der jemand in verächtlichstem Schwarz-Weiß | |
die Dinge seit Jahrzehnten stumpf wiederholt, bis sie scheinbar zur | |
Realität werden. Eine Realität voller Angst und Ungewissheit. Mittlerweile | |
tägliche Normalität. | |
Irgendwo in der Tiefe aber modert es weiter. Wie es all die Jahrzehnte | |
zuvor moderte, weil niemand aus der Führungsspitze die Verantwortung für | |
die Verbrechen übernommen hat, die der eigene Staat seinen Menschen antat | |
und antut. Gewalt ist Staatsräson. Die Menschen tragen sie mit. | |
„Wir haben fast alle Verwandte in der Ukraine“, erzählt Tatjana Grischina. | |
Ihr Bruder war zu Sowjetzeiten nach Kyjiw gezogen. „Seine Familie spricht | |
nicht mehr mit mir. Ich verstehe nicht, warum. Wir haben ihnen doch nichts | |
getan“, sagt sie. Für sie ist das Thema damit erledigt. „Ach, Chochly“, | |
schimpft sie immer wieder und gebraucht diese abwertende Bezeichnung, die | |
Russlands Propagandist*innen und Nationalist*innen für | |
Ukrainer*innen benutzen. „Sie sind doch eh unser russisches Volk“, sagt | |
sie. | |
## Nichts infrage stellen | |
Tatjana Grischina wiederholt die Sätze, die sie Tag für Tag im Fernsehen | |
hört. Sie stellt sie gar nicht infrage. Wie auch, wenn sie ihr Leben lang | |
gelernt hat, nichts infrage zu stellen? Sie versorgt ihr Haus, besucht | |
manchmal die Töchter, die längst weggezogen sind aus Diktatura, die Enkel, | |
den Urenkel. „Kluge Leute machen sich Gedanken über das Leben. Kluge Leute | |
haben auch mehr Kopfweh als ich.“ | |
Hunde bellen an jeder Ecke, Hühner gackern. Ein beißender Wind fegt über | |
die Felder, irgendwo am Dorfrand repariert jemand sein Auto. Tatjana | |
Grischina läuft fast täglich die Wege durch den Ort. In der Bibliothek hat | |
die Rentnerin noch eine Viertelstelle, das gibt zu ihrer Rente von | |
umgerechnet 150 Euro noch 80 Euro dazu. | |
Seit 50 Jahren arbeitet sie dort, sortiert Bücher, notiert handschriftlich | |
die Ereignisse im Dorf. Ein neues Denkmal für die Gefallenen im Zweiten | |
Weltkrieg, ein Besucher aus Frankreich, weil dessen Vorfahr noch aus dem | |
zaristischen Russland geflüchtet war, Neujahrsfeiern, Leseabende. Mit | |
bunten Stiften unterstrichen, ausgedruckte Bilder aufgeklebt. | |
„Ach, da waren wir alle noch so jung und schön. Schön waren die Zeiten in | |
der Sowjetunion“, sagt sie. Auch ihre jüngeren Bekannten Inessa und | |
Swetlana, die sie im Kontor des Dorfunternehmens antrifft, betonen immer | |
wieder „die schöne Sowjetzeit“. Das Werk baut Getreide für eine | |
Geflügelfabrik in der Regionalhauptstadt Tula an und liefert Raps und | |
Sonnenblumen für eine Butterfabrik in die nächstgrößere Stadt Orjol. | |
## Im Griff der Vergangenheit | |
„Früher hatten wir Kühe, Schweine, Geflügel. Das Leben brodelte“, sagt | |
Inessa und klingt bedauernd. „Niemand hat Russland je als Partner gesehen, | |
alle wollten es vernichten. Und wir haben uns in den Neunzigern, als hier | |
alles brach lag, mit leckeren Essenspaketen aus dem Westen kaufen lassen. | |
Was schmeckten mir damals als Jugendlicher die Kaugummis!“, sagt Swetlana. | |
„Aber wir lassen uns nicht mehr kaufen. Wir machen jetzt alles selbst.“ | |
Sie sitzen am dunklen Tisch im Kontor, trinken Tee, essen den selbst | |
gemachten Speck. „Wir sehen von hier aus täglich die Ruinen unseres | |
früheren Kontors, unsere Sowjetvergangenheit lässt uns nie los“, sagt | |
Inessa. In den Neunzigern war sie aus der Nähe nach Diktatura gezogen. Sie | |
hatte einen Mann kennengelernt, hier einen Job als Buchhalterin gefunden. | |
„Wo du geboren bist, da wirst du auch Verwendung finden“, sagt sie voller | |
Passivität den wohl russischsten Satz, den auch Tatjana Grischina gern | |
gebraucht. | |
Im Jahr 1932 hatten die Bolschewiki hier ein Dorf für die „Unerwünschten“ | |
errichten lassen, die Opfer der Repression des Stalin-Regimes, die sich | |
stets mehr als 100 Kilometer von städtischen Zentren anzusiedeln hatten. | |
„Diktatur des Proletariats“ hätte der Ort in der weiten, flachen Landschaft | |
heißen sollen. Geblieben ist nur Diktatura, bis heute. | |
„Ein blöder Name“, sagt Inessa. „Ein Name, für den ich mich früher | |
geschämt habe, ich wünschte, mein Dorf könnte etwas positiver klingen“, | |
sagt Tatjana Grischina. „Wir kommen aus Diktatur, wie klingt denn das?“, | |
fragen beide fast gleichzeitig. Wie etwas Wahres? Die beiden lachen laut | |
und wehren sofort ab: „Wir verstehen nichts von Politik, wir sind der | |
Politik vollkommen fern. Wir sind einfache Leute. Wir können gar nicht | |
beurteilen, was so los ist in der Welt. Wir leben nur unser bescheidenes | |
Leben.“ | |
## Per Knopfdruck abgestellt | |
Sätze, die einem Propagandalehrbuch zu entspringen scheinen. Einem Werk, | |
das beschreibt, wie Menschen jegliches Selbstwertgefühl und jeglichen | |
Zweifel verlieren und sich quasi freiwillig zum Spielball von | |
Herrscherinteressen machen sollen. Die der Chance beraubt werden, zum | |
Bürger oder zur Bürgerin des eigenen Landes zu werden, zum politischen | |
Subjekt mit Rechten. Zum Ich. Sie finden sich ab damit. Sie wiederholen | |
menschenverachtende Sätze, erliegen zynischen Narrativen und sprechen über | |
eigene Wunden so schmerzfrei, als hätten sie ihre Gefühlsverarbeitung im | |
Gehirn einfach per Knopfdruck abgestellt. | |
„Wir sind doch nur kleine Leute“, sagt Tatjana Grischina. „Wir kennen nur | |
Gutes. Wir wollen auch unseren Kindern nur Gutes beibringen. Wir erzählen | |
ihnen zum Beispiel viel über die militärische Spezialoperation. Über unsere | |
Helden. Über unseren Präsidenten, der unser Land von den Knien erhoben | |
hat.“ | |
Sie sagt das so nüchtern und sachlich, wie sie fast alles nüchtern und | |
sachlich sagt. In ihrem Leben ergibt all das Sinn. Das Gute sei das, was | |
der Staat sage. Dem Staat dürfe man nie widersprechen. Sonst sei man ein | |
Verräter, ein ausländischer Agent, ein Feind. So sei das immer schon | |
gewesen. | |
„Es ist so, nichts zu machen“, ist ein Satz, der scheinbar mit ihr | |
verwachsen ist. Die Heizung in ihrer Bibliothek läuft seit Jahren nicht | |
mehr? Ihre Rente reicht kaum zum Leben? Der Enkel ihrer Nachbarin ist | |
gefallen? „Es ist so, nichts zu machen.“ | |
## Täglich vier Stunden Fernsehen | |
Im Fernsehen daheim: Kriegsrauschen samt Hassgebrüll. „Mindestens vier | |
Stunden täglich. Ich schaue mir das alles an und verstehe doch nicht, was | |
Sache ist. [2][Haben wir denn wirklich die Ukraine überfallen? Sind wir | |
denn wirklich schuld? Das kann nicht sein.] Wir sind Sieger, wir waren | |
immer Sieger. Auch diesmal werden wir siegen und dann der ganzen Welt | |
verzeihen, weil sie uns so schlecht behandelt hat“, sagt sie. Nüchtern. | |
Sachlich. | |
Sie packt ihre Plastiktüte zusammen, macht sich auf zur Schule. 1989 war | |
der graue Plattenbau für 200 Schüler*innen gebaut worden, unterrichtet | |
werden da zurzeit lediglich 13 Jungen und Mädchen. Mit ihnen will Tatjana | |
Grischina an diesem Nachmittag Karten für die Soldaten an der Front malen. | |
„Schade nur, dass unser Klub verfallen ist, sonst hätten wir dort genügend | |
Platz zum Flechten von Tarnnetzen.“ Ein freundliches Gesicht hat sie. Ein | |
gütiges, das Schaudern hervorruft. Es gibt viele solcher Gesichter in | |
Russland. Einen Ort namens Demokratie gibt es in Russland nicht. | |
22 Feb 2025 | |
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Inna Hartwich | |
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