# taz.de -- Drei Jahre Krieg in der Ukraine: Ein Präsident, viele Fronten | |
> Der Aufstieg Wolodymyr Selenskyjs vom Schauspieler zum Staatschef ist | |
> beispiellos. Dann kam der Krieg. Der Druck steigt, doch aufgeben gilt | |
> nicht. | |
Bild: Präsident Wolodymyr Selenskyj im Dezember 2024 auf Frontbesuch in der Re… | |
Berlin taz | Es war [1][keine einfache Woche] für Wolodymyr Selenskyj und | |
für die Menschen in der Ukraine. Der ukrainische Präsident muss sich von | |
den USA verraten fühlen und kämpft mit den unberechtigten Vorwürfen seines | |
einstigen Verbündeten. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump | |
kopieren russische Propaganda und betreiben klassische Täter-Opfer-Umkehr. | |
Beobachter:innen der Kriegslage weisen darauf hin, dass Selenskyj | |
einen fatalen Fehler begangen hat, als er es wagte, Trump herauszufordern. | |
Vor allem, als er ein für die Ukraine ungünstiges Abkommen über den Zugang | |
zu Seltenen Erden ablehnte. Aber ist es nicht das, was der Staatschef eines | |
Landes tut, das um sein Überleben kämpft? Selenskyj bezeichnet so die | |
Eigenschaft, in kritischen Momenten „unbequem zu sein“. Vielleicht ist er | |
genau das – ein unbequemer Präsident für jene, die ihre demokratischen | |
Werte verkaufen. | |
Der ukrainische Präsident hat in den sechs Jahren seiner Amtszeit einen | |
bemerkenswerten Wandel durchlaufen – von einer politisch unerfahrenen und | |
zufällig in der ukrainischen Politik gelandeten Figur zu einem der | |
bekanntesten und einflussreichsten Politiker der Gegenwart. Er zeigte | |
persönlichen Mut zu Beginn der russischen Invasion und widersetzte sich | |
bereits zu Trumps erster Amtszeit dessen Forderungen. Beides sind lästige | |
Eigenschaften für den russischen Autokraten Putin ebenso wie für den | |
US-Präsidenten mit seinen autoritären Tendenzen. | |
Als Selenskyj 2019 völlig überraschend die Präsidentschaftswahlen gewann, | |
war dies für viele ein Ausdruck für die Unzufriedenheit der ukrainischen | |
Gesellschaft mit der Politik seines Vorgängers Petro Poroschenko. | |
## Novum in der Geschichte | |
Mit über 73 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang – einer überwältigenden | |
Mehrheit in fast allen Regionen des Landes – wurde Selenskyj nicht nur der | |
jüngste Präsident der Ukraine, sondern auch der erste, dem es gelang, eine | |
traditionell gespaltene Wählerschaft zu vereinen. Wenige Monate später | |
gelang ihm ein weiterer Erfolg: Bei den Parlamentswahlen gewann seine | |
Partei Diener des Volkes eine deutliche Mehrheit und bildete eine | |
Alleinregierung. Ein Novum in der ukrainischen Geschichte. | |
Das Ergebnis gab Selenskyj praktisch eine Carte blanche für die Umsetzung | |
seiner Wahlversprechen. Rasch verabschiedete er eine Reihe neuer Gesetze, | |
die für die geplanten Reformen notwendig waren. Sein Regierungsstil bekam | |
das Prädikat „Turbo“. Mit ähnlich hohem Tempo wechselte er auch sein Team | |
aus, selbst engste Vertraute aus seinem Wahlkampf wurden nicht verschont. | |
Etliche Entlassungen begründete er mit dem Stichwort „Ineffizienz“, ein | |
Muster, das sich bis heute fortsetzt. So verabschiedete sich Selenskyj etwa | |
vom Leiter des Präsidialamtes Andrij Bohdan, dem Oberbefehlshaber der | |
ukrainischen Streitkräfte Waleryj Saluschnyj und dem – auch international | |
anerkannten – [2][Außenminister Dmytro Kuleba.] Aus seinem ursprünglichen | |
Team hat Selenskyj nur Andrij Jermak behalten. Heute ist er sein | |
Präsidialamtschef. | |
Zeitgleich mit der Beliebtheit Selenskyjs kamen weitere fragwürdige | |
Personalentscheidungen. Viele seiner Verbündeten gerieten schnell in | |
Korruptionsskandale. Obwohl der Präsident und dessen Partei versuchten, | |
sich schnell von ihnen zu trennen, blieben wichtige Reformprojekte auf der | |
Strecke. Die Regierung Selenskyjs punktete aber bei Fortschritten in der | |
Digitalisierung der Verwaltung. | |
## Kaum Fortschritte | |
Ein zentrales Wahlversprechen Selenskyjs war das Ende des [3][Kriegs in der | |
Ostukraine]. Seine anfängliche Strategie war simpel: aufhören zu schießen | |
und dann verhandeln. Selenskyj glaubte, dass er mit Wladimir Putin zu einer | |
Einigung kommen könnte. Dies führte zur Wiederaufnahme der sogenannten | |
[4][Normandie-Gespräche] 2019 mit Unterstützung der damaligen | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel | |
Macron. | |
Doch die Gespräche brachten kaum Fortschritte, außer einem teilweisen | |
Truppenabzug. Rückblickend ist klar, dass Russland diesen Rückzug für die | |
groß angelegte Invasion im Februar 2022 nutzte. | |
„Ich war ein junger und unerfahrener Politiker, aber selbst damals konnte | |
er mich nicht dazu bringen, eine für die Ukraine ungünstige Vereinbarung zu | |
unterzeichnen“, erinnert sich Selenskyj kürzlich an sein Treffen mit Putin | |
2019. Diese Äußerung bezieht sich vermutlich auch auf den gegenwärtigen | |
Druck aus den USA, mit dem Kreml zu verhandeln. | |
Eine weitere Herausforderung für Selenskyj war die Corona-Pandemie, die | |
bereits 2020, im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, begann. Es fehlte an | |
Schutzmaßnahmen, wirtschaftliche Probleme während des Lockdowns und die | |
stockende Reformagenda führten zu einem enormen Vertrauensverlust. Während | |
Selenskyj 2019 Zustimmungswerte von 80 bis 90 Prozent verzeichnete, sanken | |
seine Beliebtheitswerte bis Anfang 2022 auf 37 Prozent. | |
## Heftige Kritik | |
Aber alles änderte sich am 24. Februar 2022. „Ich bin hier, wir alle sind | |
hier“ – diese Worte Selenskyjs am Tag der russischen Invasion werden in die | |
ukrainische Geschichte eingehen. Er und sein Team verließen Kyjiw trotz | |
Lebensgefahr nicht und begannen, die Verteidigung der Hauptstadt zu | |
organisieren. | |
Innenpolitisch wird Selenskyj immer noch heftig dafür kritisiert, dass er | |
die Bevölkerung nicht vor der realen Bedrohung warnte, sondern auf | |
Beruhigung setzte. Einige Expert:innen erklären dies damit, dass | |
Selenskyj trotz westlicher Geheimdienstberichte erst an einen Angriff | |
glaubte, als er selbst die Explosionen in Kyjiw hörte. | |
Sein Mut, nicht zu fliehen, die Fähigkeit, sein Land zu einen, die | |
Unterstützung des Westens zu gewinnen, und die erfolgreiche Befreiung des | |
Kyjiwer Oblast von der Besatzung machten Selenskyj in den Augen der | |
internationalen Gemeinschaft und der Ukrainer:innen selbst zum Symbol | |
des ukrainischen Widerstands gegen die russische Aggression. | |
In diesem existenziellen Moment für die Ukraine wurden alle früheren Fehler | |
und Unzulänglichkeiten Selenskyjs irrelevant. Er konnte den | |
Ukrainer:innen beweisen, dass er über alle Qualitäten eines Präsidenten | |
verfügt, den ein angegriffenes und sich verteidigendes Land braucht. Im Mai | |
2022 erreichte Selenskyj Beliebtheitswerte von rund 90 Prozent. | |
## Per Videobotschaft | |
All diese Faktoren trugen dazu bei, dass auch die westlichen Partner | |
Selenskyj vertrauten und schnell handelten. Es gelang ihm auch, die | |
Unterstützung der Opposition zu gewinnen, so dass das Parlament schnell für | |
das Kriegsrecht und zusätzliche Vollmachten für den Präsidenten stimmte. | |
Jeden Tag informiert Selenskyj die Bevölkerung per Videobotschaft über die | |
Kriegslage. Er appelliert an den Widerstand, den Zusammenhalt, daran, dass | |
die Ukrainer:innen durchhalten. Von jedem internationalen Treffen setzt | |
er Tweets ab, adressiert die Staats- und Regierungschefs öffentlich. Sein | |
Kommunikationsstil, sein unkonventionelles Verständnis von Diplomatie und | |
die Art und Weise, wie er die drängenden Probleme seines Landes angeht, | |
haben viele Menschen überrascht. Sie wurden sein Markenzeichen. | |
In den vergangenen drei Jahren haben Selenskyjs Handlungen und Reden | |
Millionen von Menschen auf der ganzen Welt motiviert und ihnen den Glauben | |
an den Wert der Demokratie zurückgegeben. Ein besonderer Moment war seine | |
Rede vor dem US-Kongress im Dezember 2022, als er mit stehendem Applaus | |
empfangen wurde. Es schien, als würde die Unterstützung für die Ukraine | |
auch unter einem anderen US-Präsidenten nicht nachlassen. | |
[5][Doch jetzt, nur drei Jahre später, wendet sich das Blatt.] Mit Trump im | |
Weißen Haus wird Selenskyjs Legitimität als Vertreter der Ukraine in Frage | |
gestellt. Von Washington wird er gar als Diktator diffamiert. Trump | |
verbreitet gezielt falsche Behauptungen, etwa, dass Selenskyj in der | |
Ukraine nur von rund vier Prozent der Bevölkerung unterstützt wird. Dabei | |
zeigen Umfragen aus dem Februar des Kyjiwer Internationalen Instituts für | |
Soziologie (KMIS), dass rund 57 Prozent der Ukrainer:innen ihm weiterhin | |
vertrauen. | |
## Welle der Solidarität | |
Trumps Attacken haben eine Welle der Solidarität ausgelöst und stützen | |
Selenskyj als Präsidenten. Selbst seine schärfsten innenpolitischen | |
Kritiker:innen, darunter Ex-Präsident Petro Poroschenko, die ehemalige | |
ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der Bürgermeister von | |
Kyjiw Vitali Klitschko, lehnen Trumps Forderungen nach | |
Präsidentschaftswahlen in der Ukraine ab. | |
Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung teilt das, denn eine Wahl unter | |
Kriegsrecht ist nicht rechtskonform und auch praktisch unmöglich. Wie soll | |
die Stimmabgabe von mehr als einer Million Soldat:innen mitten im Krieg | |
funktionieren? Wie organisiert man die Wahl von etwa acht Millionen | |
Ukrainer:innen, die ins Ausland geflohen sind? Was ist mit den Millionen | |
Menschen in den besetzten Gebieten? | |
Die russische Armee greift immer wieder zivile Gebäude an, [6][bombardiert | |
die Energieversorgung,] die Infrastruktur des Landes. Wie können Wahllokale | |
und Menschenansammlungen vor Raketen- und Drohnenangriffen geschützt | |
werden? Und: Woher sollen die mehr als 130 Millionen Euro für die Wahlen | |
kommen, wenn das Geld doch viel dringender für die Bevölkerung und den | |
Wiederaufbau gebraucht wird? Fragen, die niemand beantworten kann. Noch | |
gibt Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nach und bleibt unbequem. | |
23 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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