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# taz.de -- Buch über Wolodymyr Selenskyj: Weisheit und Kriegsrecht
> Der Journalist Simon Shuster ist so nah dran an Selenskyj wie kaum
> jemand. In seinem neuen Buch zeichnet er ein aufschlussreiches Porträt
> Selenskyjs.
Bild: Selenskyj im Februar 2024. Er glaubte lange, Putin an den Verhandlungstis…
Durch seine Wahl zum Staatschef im Frühjahr 2019 wurde er auf die
politische Bühne katapultiert und trägt seit fast zwei Jahren die
Hauptverantwortung für ein Land, das in einem barbarischen Krieg gegen den
russischen Aggressor um seine Existenz kämpft. Wer ist Wolodymyr Selenskyj,
der Präsident der Ukraine? Was treibt diesen Mann an und um?
Diese Fragen dürfte sich manche/r vor allem in den vergangenen Monaten
gestellt haben. Da waren die [1][Differenzen zwischen Selenskyj und dem
Oberkommandierenden der Streitkräfte Walerij Saluschnyj] schon längst nicht
mehr zu kaschieren. Vor anderthalb Wochen, am 8. Februar, wurde Saluschnyj
seines Amtes enthoben.
Antworten, wenn auch keine abschließenden, finden sich in dem Buch des
Korrespondenten des US-Magazins Time, Simon Shuster, mit dem Titel „Vor den
Augen der Welt – Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine“.
Shuster gilt als ausgewiesener Kenner Russlands und der Ukraine sowie des
militärischen Konflikts zwischen den beiden Staaten.
Was gern in Vergessenheit gerät: Der Konflikt begann mit der
völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und den bewaffneten
Auseinandersetzungen in der Ostukraine bereits 2014. Shuster, der seit
Jahren einen Großteil seiner Zeit in der Ukraine verbringt, hatte und hat
einen exklusiven Zugang zu Selenskyj sowie dessen engstem Umfeld. Er
beobachtete Selenskyj im Wahlkampf und ging im Bunker, von wo aus der
Präsident seit dem 24. Februar 2022 die Regierungsgeschäfte führt, ein und
aus. Mehrmals begleitete Shuster ihn an die Front oder, so im November
2022, in die von russischer Besatzung [2][befreite südukrainische Stadt
Cherson.]
## Die Persönlichkeit Selenskyjs
Herausgekommen ist keine Biografie im klassischen Sinne, wenngleich Shuster
auch die wichtigsten beruflichen und privaten Stationen im Leben
Selenskyjs beleuchtet. Vielmehr ist die 500 Seiten lange, gut lesbare und
ausgewogene Abhandlung der gelungene Versuch, eine Annäherung an die
Persönlichkeit Selenskyjs vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Zeit
von 2019 bis 2023 mit eigenen Reflexionen zu verbinden.
Das ermöglicht den Leser*innen nicht nur, den bisherigen Kriegsverlauf
und die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine Revue passieren zu
lassen, sondern zeigt auch sehr plastisch, welchen Herausforderungen sich
Selenskyj und sein Team gegenübersahen.
Was die Person des Präsidenten betrifft, skizziert Shuster sowohl
Kontinuitäten als auch Wandlungen in Selenskyjs Entwicklung. Minutiös
zeichnet er dessen Ringen um eine Einigung mit Russland nach. Selenskyj
habe sich lange der Illusion hingegeben, Präsident Wladimir Putin an den
Verhandlungstisch bringen zu können. Und das auch noch, nachdem die
russischen Truppen Ende März 2022 aus dem Kyjiwer Vorort Butscha abgezogen
und Gräueltaten unvorstellbaren Ausmaßes bekannt geworden seien.
Dabei sei Selenskyj schon 2019 zu dem Schluss gekommen, dass das Abkommen
Minsk II von 2015 ein Mittel gewesen sei, „um die Ukraine in einem
dauerhaften Zustand der Instabilität zu halten“. Einige westliche
Politiker*innen halten dieses Dokument noch heute für eine ernst zu
nehmende Grundlage für Friedensgespräche.
## Mit Kritik umgehen
„Das Beängstigendste ist, die Menschen zu verlieren, die man um sich hat.
Die Leute, die dir Halt geben und es dir sagen, wenn du falsch liegst“,
zitiert Shuster einen Satz Selenskyjs einige Monate vor dessen Wahlsieg
2019.
Er attestiert ihm äußerste Empfindlichkeit gegen Kritik und vermerkt:
„Viele von denen, die Selenskyjs Pläne infrage stellten oder sich ihnen
widersetzten, stellten fest, dass sie aus seinem inneren Kreis an die
Peripherie gedrängt wurden.“ Am Beispiel Saluschnyjs legt Shuster
detailliert dar, dass die ersten Unstimmigkeiten zwischen den beiden schon
auf die Zeit vor der groß angelegten Invasion Russlands zurückgehen. Das
Ende der Zwistigkeiten ist bekannt.
Auch mit einigen Vertreter*innen der Opposition machte Selenskyj kurzen
Prozess – mit juristisch fragwürdigen Mitteln. So im Fall des
[3][prorussischen Politikers Wiktor Medwedschuk.] Der Schließung von
TV-Kanälen des Putin-Vertrauten 2021 folgten die Beschlagnahme seiner
Vermögenswerte sowie Hausarrest und schließlich die Festnahme. Im September
2022 wurde Medwedschuk bei einem Gefangenenaustausch Russland übergeben.
Am Ende seines Buches wagt Shuster einen Blick in die Zukunft und
prognostiziert Meinungsverschiedenheiten, wenn es um den Zeitpunkt zu einer
Rückkehr zum Leben in einer rechtsstaatlichen Demokratie kommen werde. „Ich
weiß nicht“, schreibt er, „ob Selenskyj […] die Weisheit und die
Zurückhaltung aufbringen wird, sich von den außerordentlichen Vollmachten
zu trennen, die ihm unter dem Kriegsrecht verliehen wurden, oder ob er […]
diese Macht als zu verlockend empfinden wird.“
## Mann ohne Eigenschaften
Die deutsche Ausgabe enthält bisher unveröffentlichtes Material eines
Interviews zur Situation in der Ukraine von Mitarbeiter*innen der Time
mit Bundeskanzler Olaf Scholz im April 2022 in Berlin, bei dem auch Shuster
zugegen war. Jemand, der mit der deutschen Debatte vertraut ist, erfährt
wenig Neues – außer, dass eines der Lieblingsbücher des Kanzlers der „Mann
ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist. Zumindest auf Selenskyj trifft
diese Beschreibung nicht zu.
18 Feb 2024
## LINKS
[1] /Abgesetzter-Armeechef-der-Ukraine/!5988633
[2] /Protokolle-aus-der-Ukraine/!5973841
[3] /Aktuelle-Lage-in-der-Ukraine/!5908422
## AUTOREN
Barbara Oertel
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