# taz.de -- Biografie über Selenski: Viele Namen, viele Leerstellen | |
> Was für ein Mensch ist Wolodimir Selenski? Sergii Rudenkos Biografie über | |
> den ukrainischen Präsidenten bietet nur mühsame Antworten darauf. | |
Bild: Da trug er noch Zivil: Wolodimir Selenski 2014 als Schauspieler und Pr�… | |
Der [1][tapfere Kriegspräsident,] in kakifarbener Kleidung und mit müden | |
Augen, standhaft, auch persönliche Risiken eingehend, der einem | |
übermächtigen Gegner trotzt: So kennt die Welt den ukrainischen Präsidenten | |
Wolodimir Selenski. Man erinnert sich dunkel, dass das einmal ein | |
erfolgreicher Fernsehkomiker gewesen ist. Aber der Lebensweg dieses Mannes | |
und seine Techniken der Machtausübung sind außerhalb des Landes weitgehend | |
unbekannt geblieben. | |
Als „erste Biografie Selenskyjs“ bewirbt der Hanser-Verlag sein Buch des | |
ukrainischen Journalisten Sergii Rudenko über den Präsidenten (der im Buch | |
nach anderer Transkription mit -yj geschrieben wird). Das mag so sein, das | |
Werk lässt den deutschen Leser aber ratlos zurück. Denn man erfährt zwar | |
Vieles aus der jüngeren Vergangenheit von Intrigen und Ränkespielen inner- | |
und außerhalb von Selenskis Partei „Diener des Volkes“, man liest die Namen | |
Hunderter seiner Helfer und Gegner – aber was Selenski letztlich will und | |
wofür er steht, bleibt weitgehend im Dunkeln. | |
Sergii Rudenko nähert sich seinem Protagonisten über die Frauen und Männer | |
an, die er zu seinen Getreuen zählte oder noch zählt. Das hat den Vorteil, | |
intime Erkenntnisse über die Techniken der Macht Selenskis ans Tageslicht | |
zu fördern, die dieser nicht unbedingt an die große Glocke hängen möchte – | |
dass er von seinen Mitstreitern etwa unbedingte Loyalität erwartet. | |
Dieses Verfahren birgt freilich auch die Gefahr, sich in Details zu | |
verheddern, deren Bedeutung und Tragweite dem unkundigen Leser verborgen | |
bleiben müssen. Zudem ist die Zahl der Handelnden derart inflationär, dass | |
es eines Personenindexes bedürfte, den es aber nicht gibt. Kurz: Der Leser | |
und die Leserin ersäuft in Einzelinformationen, ohne dass ihn oder sie eine | |
Hand hilfreich führt, um sie einzuordnen. | |
Für ukrainische Politjunkies, die all diese Nebenfiguren aus eigener | |
Anschauung gut kennen, ist das gewiss eine vergnügliche Lektüre. Für | |
Außenstehende, denen die Verästelungen ukrainischer Politik nicht geläufig | |
sind, aber ist es eine Zumutung. So artet die Lektüre in ein unfreiwilliges | |
Politikstudium aus, für das die Zuhilfenahme eines Literaturapparats | |
dringend zu empfehlen ist. | |
## Essenzielle Hintergründe fehlen | |
Und weil dies ganz offenbar ein Buch für ukrainische Leserinnen und Leser | |
ist, dem zu Beginn und Ende jeweils eine Aktualisierung über Selenski im | |
Krieg angefügt wurde, fehlen essenzielle biografische Informationen und | |
Hintergründe. Dass der in Kiew geborene ukrainische Präsident in der | |
Mongolei aufwuchs, wo seine Eltern als Ingenieure tätig waren, erfährt man | |
erst auf Seite 190. Dass seine Familie jüdische Wurzeln hat, kann man | |
später einem Nebensatz entnehmen. | |
Wie beides Wolodimir Selenski geprägt hat, bleibt unklar. Denn der Ausflug | |
in seine Kindheitsgeschichte endet schon nach zwei Absätzen, und sein | |
religiöser Hintergrund wird überhaupt nicht thematisiert – ebenso wenig wie | |
sein abgeschlossenes Jurastudium, von dem man lediglich erfährt, dass er | |
danach niemals als Jurist tätig gewesen ist. | |
Hinzu kommen sprachliche Schnitzer, wobei unklar bleibt, ob dies am Autor | |
oder an der Übersetzung liegt. Aber es ist nun einmal ein Ding der | |
Unmöglichkeit, „stets elegant im Dreiteiler oder einfach mit Weste“ | |
gekleidet zu sein, da sollte man sich schon entscheiden. Was bitte soll | |
eine „politische Titanic“ sein, und wie ist es zu verstehen, wenn ein | |
Berater „auf freiwilliger Basis“ Assistent eines Abgeordneten wird – geht | |
das auch gezwungenermaßen? | |
## Kometenhafter Aufstieg | |
Einiges erfährt man immerhin über Selenskis kometenhaften Aufstieg zu einem | |
Fernsehstar im Bereich der komischen Unterhaltung – wer einmal eine Folge | |
aus der Serie „Diener des Volkes“ sah, weiß, wie großartig er dort agiert. | |
„Ich bin nicht Ihr Gegner, ich bin Ihr Urteil“, schleuderte er 2019 dem | |
damaligen Präsidenten Petro Poroschenko entgegen, ein Satz, den man nicht | |
beim Jurastudium lernt – aber im Fernsehstudio. Selenski siegte mit | |
gewaltigem Abstand. | |
Deutlich wird auch, dass der Politnewcomer sich bei der Ausgestaltung der | |
Macht auf sein altes Netzwerk verließ und bei Personalentscheidungen | |
[2][alles andere als zimperlich] agiert – und dass die Macht der Oligarchen | |
in der Ukraine keineswegs gebrochen ist. | |
Und schließlich wird klar, wie sehr sich der alte Wolodimir Selenski von | |
dem neuen Selenski im Krieg unterscheidet. Da ist kein Komiker mehr, aber | |
einer, der auf das Angebot der USA, ihn in den ersten Tagen des russischen | |
Angriffs aus Kiew zu evakuieren, antwortete: „Ich brauche Munition, keine | |
Mitfahrgelegenheit.“ Das ist jemand, dem es gelungen ist, als Vorbild für | |
ein ganzes Volk zu agieren. | |
23 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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