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# taz.de -- Flucht im Zweiten Weltkrieg: Die Grenze und der Tod
> Am 8. Mai jährt sich der Tag der Befreiung zum 77. Mal. Erinnern ist
> Gedenken – die taz hat die tragische Flucht eines Ehepaares
> rekonstruiert.
Die Nacht bleibt trocken, das Thermometer bewegt sich um den Gefrierpunkt.
Drei Tage nach Vollmond ist die Dunkelheit am Weihnachtsabend 1942 nicht
ganz so undurchdringlich, als das Ehepaar Grüneberg den Personenzug an dem
kleinen Bahnhof Grenzacher Horn an der deutsch-schweizerischen Grenze
verlässt. Auf den Fahrkarten, die Alex und Friederike, genannt Frieda,
gelöst haben, steht ein anderes Reiseziel als dieser Provinzbahnhof, denn
das hätte sie verdächtig gemacht.
In der Schweiz meldet die Neue Zürcher Zeitung für die Weihnachtstage
Pulverschnee und laufende Lifte in Graubünden. Die Schweiz, dieses
neutrale Land, ist auch das Ziel von Alex und Frieda Grüneberg. Aber nicht
zum Skifahren. Das Ehepaar, das eigentlich in Berlin lebt, ist auf der
Flucht vor den Nazis. Als Juden gelten sie im Großdeutschen Reich als
vogelfrei. Eine Auswanderung ist schon im vorigen Jahr verboten worden,
zugleich begannen die Deportationen von Jüdinnen und Juden in den deutsch
besetzten Osten, nach Lodz, Riga oder Minsk. In den Tod.
Alex und Frieda Grüneberg sind nicht mehr die Jüngsten. Der Ehemann zählt
71 Jahre, seine Frau ist 60 Jahre alt. Schwer bepackt mit Koffern und
Taschen machen sie sich auf den Weg. Es geht entlang der viergleisigen
Bahnlinie ein Stück der Strecke zurück, die sie am Vormittag schon einmal
genommen haben. Ihr Zug war auf seinem Weg entlang des Rheins kurz im
Transit in der Schweiz gewesen. Aber da durfte er nicht anhalten. Fenster
und Türen mussten geschlossen bleiben. Vielleicht wachten SS-Männer über
die Passagiere.
All das erfährt man aus historischen Zeugnissen wie Briefen,
Zeitungsartikeln, Protokollen. Fluchtgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg
sind schwer zu rekonstruieren. Das Material zu einem Fall liegt selten an
einem zentralen Ort und die Zeugen der Zeit sind inzwischen fast alle
verstorben. Die taz hat mehrere Archive besucht und Hunderte Schriftstücke
gesichtet. Dabei fand sich auch ein lange gesuchter Brief.
Auch eine Landkarte von 1939 befindet sich unter dem Material. Auf ihr
lässt sich der Grenzverlauf zwischen dem damaligen Deutschen Reich und der
Schweiz nachvollziehen. In der Region um Basel macht die Grenze
ungewöhnliche Verrenkungen. Östlich der Stadt markiert der Rhein den
Grenzverlauf. Dann springt die Linie plötzlich über den Fluss, macht einen
Bogen, bis sie südwestlich abbiegend wieder den Rhein erreicht.
Weil in Deutschland aus der Gefangenschaft geflohene Zwangsarbeiter,
Kriegsgefangene und Juden diese seltsame Beule zur Flucht vor dem
Naziregime entdeckt haben, muss der Reichsarbeitsdienst im Frühsommer 1942
den Abschnitt mit Stacheldraht absperren, bis zu acht Meter breit und drei
Meter hoch.
Nur an zwei Stellen fehlt diese Sperre: an einem in der Schweiz gelegenen
Waldstück, genannt „Eiserne Hand“. Und an dem Gelände der Eisenbahnlinie …
Grenzacher Horn. Schließlich müssen die Züge weiterhin freie Durchfahrt
haben. Doch nur etwa einhundert Meter von dieser Bahnlinie entfernt
befindet sich, direkt am Rhein, eine Zollstation. Und deren Beamte gehen
unregelmäßig auf Streife.
Das Ehepaar Grüneberg kommt auf seinem Weg durch die Nacht gut voran. Züge
dürften um diese Uhrzeit kaum mehr unterwegs gewesen sein. Die Gegend ist
unbebaut und kein Zöllner lässt sich blicken. Gegen 22.10 Uhr, so geht es
aus einem Schweizer Protokoll hervor, passieren sie auf dem Bahndamm den
deutsch-schweizerischen Grenzstein. Sie sind in Sicherheit. Aber dann
entdeckt Frieda, dass sie unterwegs eine Tasche verloren hat. Es ist die
mit dem verborgenen Bargeld und den Ausweisen. Sie läuft etwa zehn Schritte
zurück, um diese Tasche aufzuklauben, obwohl ihr Mann sie noch darum
bittet, dies nicht zu tun. Da tritt ihr in der Dunkelheit der deutsche
Zollbeamte Karl Wolowski entgegen. Und hält Friederike Grüneberg fest.
Achtzig Jahre später, an einem sonnigen Frühlingstag Ende März 2022, läuft
Horst Hallmann, Jahrgang 1935, mit dem taz-Reporter denselben Weg wie
damals die Grünebergs. Der schmale Mann wächst als Kind eines Zöllners am
Grenzacher Horn auf, doch der Vater ist 1942 längst zur Wehrmacht
eingezogen. Die Mutter, Horst und sein Bruder leben in einer Wohnung des
Zolls, nur wenige Schritte von der Grenze entfernt. Wie die anderen
Familien auch, pflanzt man einen Gemüsegarten hinter dem Haus.
Die Grenze war hier nur durch einen einfachen Zaun ohne Stacheldraht
markiert, erinnert sich Hallmann. Die Grenzstation war geschlossen, die
Straße durch Panzersperren blockiert. Ja, er habe die Fluchten damals
mitbekommen: „Aber ich habe selbst nichts gesehen. Man hat nicht darüber
geredet.“ Der Bahnhof Grenzacher Horn, wo die Grünebergs damals
ausgestiegen sind, ist seit über 40 Jahren außer Betrieb. Nur ein
Bahnwärterhäuschen erinnert noch an die ehemalige Station. Es liegen auch
nur noch zwei Gleise hier, nicht mehr vier.
Entlang der Bahnlinie ist rechts ein schmuckes Neubauviertel entstanden,
dahinter, am Rande eines Friedhofs, liegt schon die Schweiz. Ein
Trampelpfad biegt links zu den Gleisen ab. Dort steht ein historischer
Stein mit der Nummer 149. Er markiert den Ort, wo die Grenze einen
90-Grad-Winkel einschlägt und quer über die Bahnlinie verläuft. Hier müssen
Alex und Frieda Grüneberg damals die rettende Schweiz erreicht haben. Hier
wartete der Zollbeamte Karl Wolowski, als Frieda ihre Tasche aufheben
wollte.
Auf der anderen Seite der Gleise liegen ein aufgegebener Tennisplatz und
verwilderte Gärten, durch Maschendrahtzäune nur mäßig abgesperrt. Hier
befanden sich die Gemüsebeete von Hallmanns Familie. Und hier, ganz nahe an
den Gleisen und der Grenze, lag auch das Hühnerhaus von Xaver Beck. Horst
Hallmann kann sich noch gut an den Zollsekretär erinnern: „Etwa 1,75 Meter
groß, ein ganz normaler Bürger.“ Vor dem Mehrfamilienhaus der Zöllner
bleibt Hallmann stehen und weist auf einige Fenster hin: „Die Wohnung da,
da lebte der Beck.“ Was Hallmann damals nicht wusste: Dieser Xaver Beck
zählte zu den Fluchthelfern von Alex und Frieda Grüneberg.
Beck war nicht der einzige, der dem Ehepaar zur Flucht durch das
Schlupfloch verhalf. Ein sich von Berlin über das baden-württembergische
Weil am Rhein bis zum Grenzacher Horn erstreckendes Netzwerk war daran
beteiligt, insgesamt mindestens sechs Personen. Drei von ihnen leben 1942
wie die Grünebergs in Berlin: Margit Pieper-Stückelberger, eine
Schweizerin, verheiratet mit dem Deutschen Kurt Pieper, und ihre Bekannte
Else Kluck, eine Arzthelferin, die Berliner Juden mit Lebensmitteln
versorgt.
Auch in dem Freundeskreis der Eheleute Pieper sind viele Juden. Irgendwann
drängt Else Kluck das Paar, Verfolgten bei der Flucht in die Schweiz zu
helfen, und sie willigen ein. Pieper-Stückelberger erinnert sich an ihre
Freundin Adelheid Suger in Weil am Rhein, die ein Glied in der Kette der
Fluchthelfer sein könnte. Bald darauf besucht Suger das Ehepaar Pieper in
der Reichshauptstadt. Auch sie stimmt zu, Jüdinnen und Juden aus dem Reich
in die Schweiz zu schleusen.
## Frieda verliert die Tasche mit Bargeld und Ausweisen
Zurückgekehrt nach Weil weiht Adelheid Suger ihre Nachbarin Luzia Schaub
ein. Diese wiederum kontaktiert ihren Vetter: den NSDAP-Propagandaleiter
von Grenzach und Zollsekretär Xaver Beck. Der Mann mit dem Hühnerhaus an
der Grenze, der genau weiß, wann und wo sich die Grenzpatrouillen
aufmachen. Warum ausgerechnet ein kleiner NSDAP-Funktionär sich der
Helferkette anschließt, lässt sich nicht genau rekonstruieren.
Bereits am 23. November 1942 erreichen mit ihrer Hilfe eine Jüdin und ihre
Tochter ohne Zwischenfälle die Schweiz. Weitere folgen. Zu Weihnachten soll
das Ehepaar Grüneberg gerettet werden.
In ihren Lebenserinnerungen schreibt Margit Pieper-Stückelberger über diese
Zeit und ihre Furcht, bei der Gestapo, der sie ohnehin schon als verdächtig
gilt, aufzufliegen. „Heller Tag und dunkle Nacht“ ist der Titel des
Schriftstücks. Es sind eng beschriebene maschinenschriftliche Blätter,
gebunden in einem blauen Pappordner. Sie berichtet, wie sie von ihrer
Bekannten Else Kluck immer wieder bedrängt wird. Sie „flehte, nur noch
einem älteren Ehepaar zu helfen, gewiss zum letzten Mal, sie hätte alles
schon eingeleitet“. Irgendwann lässt Kluck von dem Ehepaar ab und findet
eine andere Lösung. „Wir fühlten uns befreit und atmeten auf.“
Wer waren die flüchtenden Frieda und Alex Grüneberg? Frieda wird 1882 als
Friederike Nassau in Essen geboren. Ihre Familie ist offenbar im
Bekleidungsgewerbe engagiert, zumindest betreibt ein Bruder von Frieda eine
Agentur für Damenkonfektion. 1904 heiratet sie Alex Grüneberg, so steht es
in der Heiratsurkunde im Stadtarchiv Essen. Die 21-Jährige ist dem Dokument
zufolge „ohne Beruf“, was den damaligen Gepflogenheiten entspricht.
Das Paar bekommt erst eine Tochter und später einen Sohn. Die Familie lebt
in Köln. Dort betreibt der 1871 in Westfalen geborene Alex Grüneberg
zusammen mit einem Kompagnon unter dem Namen „Löwenstein und Grüneberg“
ebenfalls ein angesehenes Geschäft für Damenkonfektion. Alex Grüneberg, so
erinnerte sich eine frühere Angestellte, sei ein ruhig auftretender Mann
gewesen.
1929 gibt Alex Grüneberg seine selbstständige Existenz auf. Das Haus für
Damenkonfektion wird vermietet und der 58-Jährige übernimmt den Posten des
Zentraleinkäufers bei einem Textilkonzern. Grüneberg erhält ein für die
damaligen Verhältnisse sehr hohes Gehalt, 45.000 Mark im Jahr plus Spesen.
Noch im gleichen Jahr zieht das Paar nach Berlin.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt der unaufhaltsame
Abstieg der Familie. Schon Ende 1933 wird Grüneberg aus seiner Stellung
gedrängt, die Firma bald darauf „arisiert“. Zweimal müssen Alex und Frieda
in Berlin die Wohnung wechseln, und das nicht zu ihrem Vorteil.
Aus einer herrschaftlichen Sechszimmerwohnung mit Konzertflügel,
Mahagonischlafzimmer und Gemälden von Liebermann und Lesser Ury verkleinern
sie sich auf Dreieinhalbzimmer. Um 1941 wird das Paar gezwungen, dort einen
jüdischen Untermieter aufzunehmen. Die von den Nazis erhobene
„Judenvermögensabgabe“ frisst Teile ihrer Ersparnisse auf.
Alex trägt nun den Zwangsnamen „Israel“, Frieda die Bezeichnung „Sara“.
Beide müssen den „Judenstern“ tragen, wenn sie ihre Wohnung verlassen. Ihre
Lebensmittelkarten sind mit einem großen „J“ gestempelt und für viele War…
ungültig, ihr verbliebenes Vermögen wird eingefroren. Ihrer Tochter gelingt
noch 1938 die Auswanderung nach Palästina. Der Sohn kann sich kurz vor
Kriegsbeginn 1939 nach England absetzen.
Alex und Frieda bleiben. In den Jahren darauf formiert sich der Kreis der
Berliner Fluchthelfer. Im Zentrum steht die Zahnarztpraxis von Hans Levy,
der als „Zahnbehandler“ nur noch Juden und Ausländer empfangen darf. Die
Grünebergs sind Patienten bei Levy und mit ihm befreundet. Über ihn lernen
sie den jüdischen Facharzt Dr. Bruno Peiser kennen, der ebenfalls Patient
von Levy ist. Durch seine Ehe mit einer „Arierin“ ist dieser halbwegs vor
Deportationen geschützt. Zu Levys Freundeskreis gehört außerdem das
deutsch-schweizerische Ehepaar Pieper-Stückelberger. Und in seiner Praxis
arbeitet die 46-jährige Arzthelferin Else Kluck.
Im August 1942 begeht der Zahnarzt Hans Levy aus Verzweiflung Suizid. Alle
seine Auswanderungspläne haben sich zerschlagen, und seine fast 75-jährige
Mutter ist soeben deportiert worden. Bald darauf bittet sein Patient und
Freund, der Facharzt Peiser, die Zahnarzthelferin Else Kluck darum, die
Flucht der Grünebergs zu organisieren. Kluck wiederum wendet sich an das
Ehepaar Pieper woraufhin dieses ihre Freundin Adelheid Suger in Weil am
Rhein kontaktiert. Offenbar gelingt es Kluck, in Berlin gefälschte
Postausweise für die Grünebergs zu besorgen.
Am 16. Dezember 1942, so schreibt es Alex Grüneberg nach dem Krieg, fahren
Frieda und er mit dem Zug von Berlin zu Adelheid Suger nach Weil am Rhein.
Das ist gefährlich, denn Reisen mit der Eisenbahn sind Jüdinnen und Juden
streng verboten. Den „Judenstern“, dieses Abzeichen der Ausgrenzung und
Verfolgung, werden die beiden mit Sicherheit abgenommen haben.
Für fünf Tage kommt das Ehepaar bei Adelheid Suger unter. Die ebenfalls
involvierte Nachbarin Luzia Schaub stattet das Ehepaar mit einer
Kartenskizze zum Grenzverlauf aus, auch ihr Vetter an der Grenze, der
Zollsekretär Xaver Beck, dürfte eingeweiht gewesen sein.
Am 24. Dezember besteigen die Grünebergs in Weil einen Zug. Er bringt sie
zunächst nach Säckingen. Ein Ort, der etwa 30 Kilometer vom Grenzacher Horn
entfernt liegt, dem Bahnhof an dem das Ehepaar die deutsch-schweizerische
Grenze übertreten will. So hoffen sie, kein Aufsehen zu erregen. Von
Säckingen aus geht es auf der gleichen Bahnstrecke etappenweise wieder
zurück zum Grenzacher Horn.
Was waren das für mutige Menschen, die damals den vom Tode Bedrohten zur
Flucht verhalfen? Warum nahmen sie das Risiko auf sich? Fragen, die auch
Siegfried Schätzle umtreiben. Der pensionierte Ingenieur hat einen
besonderen Grund dafür: Luzia Schaub, die Nachbarin von Adelheid Suger in
Weil am Rhein, geboren 1903, war seine Großtante.
Schätzle hat seine Großtante noch gekannt. „Sie hat einen ans Herz
gedrückt“, erinnert er sich. Aber über ihre Fluchthilfe hat Luzia Schaub
niemals gesprochen. Wie es halt so war in den 1960er Jahren, als man die
Vergangenheit ruhen lassen wollte. Als Schätzle vor ein paar Jahren von
ihren gefährlichen Rettungsaktionen erfuhr, ist er ins Staatsarchiv nach
Freiburg gefahren und hat dort in die Akten geschaut.
Luzia, eigentlich Luitgard, war mit einem Lokomotivführer verheiratet, der
erst 1942 nach Weil am Rhein versetzt worden war. Deshalb bezweifelt
Schätzle, dass sie über allzu große Ortskenntnisse verfügte. Auch kann sie
ihre Nachbarin Adelheid Suger erst seit wenigen Monaten gekannt haben. Eine
Tante von Luzia Schaub allerdings hatte als Hausangestellte bei Berliner
Juden gearbeitet. Rührte daher ihre Unterstützung? „Luzia war immer
hilfsbereit. Sie hat nie schlecht über andere Menschen gesprochen“,
erinnert sich Schätzle. Aber er sagt auch: „Ich kenne ihre Motive nicht.“
Es gibt Hinweise, dass sich zumindest ein Teil der Helfer ab Januar 1943
ihre Schleusungen teuer bezahlen ließ. Die Rede ist von 6.000 Mark für
jeden Flüchtenden. Es ist wahrscheinlich, dass Xaver Beck, der
Zollsektretär und Vetter von Luzia Schaub, Geld nahm, denn nach dem Krieg
fand man bei ihm 15.000 Mark. Ob dies auch für Luzia Schaub selbst gilt,
ist ungewiss.
Ihre Rettungsaktionen sind dennoch über jeden Zweifel erhaben. Am 24.
Januar 1948 schreibt eine der in die Schweiz Entkommenen an Eides statt:
„Am 12. September 1943 flüchtete ich illegal in die Schweiz, weil ich durch
die Gestapo bedroht war. Zu meiner Flucht verhalfen mir Frau Luzia Schaub,
wohnhaft in Weil am Rhein und der Zollbeamte Xaver Beck, wohnhaft in
Grenzach-Horn. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese Tat aus rein
menschlichen Gefühlen geschah.“
Die Zeugin führt sieben weitere Personen auf, die sich dank der Hilfe der
beiden retten konnten – Berliner Jüdinnen und Juden, so wie die Grünebergs.
Die Berliner Gedenkstätte Stille Helden kommt auf insgesamt 15 Menschen,
die dank Adelheid Suger, Luzia Schaub und Xaver Beck in die Schweiz
entkommen konnten.
Aber was geschah mit Frieda Grüneberg, nachdem sie an Heiligabend 1942 von
dem Zollbeamten Karl Wolowski festgenommen worden war?
Einen Tag nach dem missglückten Grenzübertritt, am 25. Dezember 1942, gibt
Wolowski zu Protokoll, Friederike Grüneberg habe ihn angefleht, sie zu
ihrem Mann zu lassen, der sich wenige Meter entfernt auf Schweizer Gebiet
befand. Und weiter: „Als ich ihre Bitte ablehnte, hörte ich ebenfalls von
Schweizer Seite her eine männliche Stimme, die mir zurief, Herr
Wachtmeister, lassen Sie doch um Gottes Willen meine Frau zu mir.“ Wolowski
reagiert nicht auf diese Bitten. Gemeinsam mit einem Kollegen bringt er
Frieda Grüneberg zur Zollstation.
Die deutsche Akte deckt sich mit einem Papier der Schweizer Polizei vom
selben Tag. Unter „Betrifft: jüdischer Flüchtling“ heißt es in dem
Protokoll, das die illegale Einreise von Alex Grüneberg vermeldet: „Als
sich die Frau auf Schweizerboden befand, bemerkte sie den Verlust der
Tasche und kehrte wieder um, um die verlorene Tasche auf deutschem Boden zu
holen. Als sie auf deutschen Boden zurücktrat, wurde sie von deutschen
Beamten angehalten.“
Friederike Grüneberg wird auf der Zollstation körperlich durchsucht und
anschließend scharf vernommen. Man findet bei ihr geringe Mengen an
Devisen, verschiedene, offenbar gefälschte Ausweispapiere, darunter
Postausweise, und eine zerrissene Kartenskizze.
Dem Vernehmungsprotokoll zufolge gibt Grüneberg an, mit dem Zug von Berlin
nach Freiburg und dann abschnittsweise weiter Richtung Weil gefahren zu
sein. Die Orte der Unterkünfte und ihre Gastgeber seien ihr nicht bekannt
gewesen, ebenso wenig wie die Adressen. Protokollant Wolowski notiert am
Schluss: „Frau Grüneberg hat die Unterschrift des Protokolls verweigert mit
der Begründung, sie lasse sich lieber totschießen.“
Um 2.30 Uhr am Morgen des 25. Dezembers 1942 ist die Vernehmung beendet.
Grüneberg wird in eine Zelle gesperrt.
Die Leibesvisitation, so erinnert sich der damals siebenjährige Horst
Hallmann aus der Zöllnerfamilie am Grenzacher Horn, sei von einer Putzfrau
durchgeführt worden, die damals ihre Nachbarin gewesen sei. Das Zimmer, in
das Friederike Grüneberg anschließend eingesperrt wurde, sei keine
Arrestzelle gewesen, sondern ein Umkleideraum.
Noch in derselben Nacht begeht Frieda Grüneberg in der Haft Suizid. Im
deutschen Polizeibericht heißt es: „Am 25. Dezember 1942, um 5 Uhr, wurde
die verheiratete Jüdin Friederike Sara Grüneberg, geb. Nassau, im
Untersuchungsraum des Zollamtes Grenzacher-Horn erhängt aufgefunden.“ Sie
habe dazu zusammengeknüpfte Taschentücher verwendet. Ein hinzugezogener
Arzt habe den Tod bestätigt.
In Entschädigungsakten aus den 1950er Jahren findet sich Ende April 2020
Grünebergs Abschiedsbrief. Darin schreibt Frieda: „Ich konnte dieses
schmachvolle Leben nicht mehr ertragen und habe vorgezogen, ein
freiwilliges Ende zu bereiten. Ich hatte nur den einen Wunsch meinen Mann
u. Kinder wieder zu sehen. Das ist mir versagt worden. Mein letzter Wunsch
ist darum meinen Mann in Kenntnis zu setzen. Flüchtlingslager in der
Schweiz.“
Gut drei Jahre später, im Januar 1946, erklärt der Witwer Alex Grüneberg
gegenüber den französischen Besatzungsbehörden in Deutschland, dass sich im
Boden der verlorenen Tasche rund 8.000 Mark befunden hätten. Dieses Geld
bleibt verschwunden. Man kann nur spekulieren, dass es der Zollbeamte Karl
Wolowski eingesteckt hat.
Am Morgen des 26. Dezember 1942 klingelt es an der Wohnungstür des Ehepaars
Pieper in Berlin. Es ist Adelheid Suger, die Helferin aus Weil am Rhein.
Sie ist die Nacht durchgefahren, um die Nachricht über die missglückte
Flucht zu überbringen. In Margit Piepers Aufzeichnungen ist die Begegnung
mit Suger beschrieben: „‚Was um Himmels Willen ist geschehen?‘, fragte ich
stockend. Wir befürchteten, alles sei entdeckt. Sie sank zunächst auf einen
Stuhl, und als sie sich etwas erholt hatte, erzählte sie: ‚Es ist etwas
Furchtbares geschehen mit dem alten Paar und ich komme, Sie zu warnen, weil
ich Ihnen nicht alles schreiben konnte.‘“
Piepers Erinnerungen über Sugers anschließenden Bericht decken sich bis auf
wenige Details mit dem, was in den deutschen Polizeiakten und in einem
späteren Bericht des entkommenen Ehemanns Alex Grüneberg steht.
Die Furcht vor einer Entdeckung des Helferkreises durch die Gestapo ist
begründet. Aber es geschieht nichts. Frieda Grüneberg hat in den letzten
Stunden ihres Lebens dichtgehalten. Dem Ehepaar Pieper gelingt es im
folgenden Jahr, legal und ohne Vorkommnisse in die Schweiz zu reisen. Sie
kommen nicht mehr nach Nazi-Deutschland zurück.
Einige Monate später, am 20. März 1943, lässt der Oberfinanzpräsident die
Berliner Wohnung von den Grünebergs räumen. Die Möbel werden auf einen Wert
von 245 Mark geschätzt und versteigert, ihr gesamtes Vermögen vom Deutschen
Reich eingezogen. Der Oberfinanzpräsident übernimmt die ausstehenden
Mietzahlungen und begleicht die Restschulden des Ehepaars in Höhe von 23,04
Mark für Strom. Die Gestapo stellt fest, dass Alex Grüneberg „flüchtig“
sei.
Die Flucht von Frieda jedoch ist gescheitert. Aber nicht wegen einer Tasche
mit 8.000 Mark. Sondern aufgrund der Entscheidung der Nazis, alle Jüdinnen
und Juden im Deutschen Reich bürokratisch geregelt und registriert in
Osteuropa zu ermorden. Hätte Frieda Grüneberg sich nicht selbst getötet, so
wäre sie mit Sicherheit aus der Haft direkt in ein deutsches
Vernichtungslager verbracht worden. Es existieren genügend Beispiele dafür,
dass dies bei anderen gescheiterten Fluchtversuchen so geschehen ist.
Nach dem Tod von Frieda Grüneberg bleiben die Helfer dank ihres Schweigens
über den Helferkreis zunächst unbehelligt. Erst knapp anderthalb Jahre
später, im Sommer 1944, schnappt die Gestapo doch noch zu. Ein Flüchtender
ist festgenommen worden und sagt aus. Am 7. Juli werden Luzia Schaub und
ihr Ehemann festgenommen, drei Tage später trifft es Adelheid Suger und
Xaver Beck. Die Verhaftungswelle betrifft auch zwei Berliner
Kontaktpersonen.
Im Herbst 1944 zieht der Volksgerichtshof das Verfahren an sich. Ermittelt
wird wegen „Feindbegünstigung“. Darauf steht die Todesstrafe. Die
Beschuldigten aus Baden warten verstreut in drei Gefängnissen auf den
Beginn ihres Prozesses, der sie das Leben kosten kann.
Doch dazu kommt es nicht mehr. Mit der Besetzung Deutschlands ist auch die
Haft der Retter beendet. Für sie ist es wortwörtlich eine Befreiung. Alex
Grüneberg wandert 1945 zu seinem Sohn ins englische Leeds aus. Er stirbt
1947. Es beginnen zähe Verhandlungen zwischen den Kindern der Grünebergs
und deutschen Behörden um eine Entschädigung. Bis diese abgeschlossen
werden können, vergehen fast 20 Jahre.
Auch das Gedenken an die Flucht der Grünebergs hat erst nach Jahrzehnten
wirklich Form angenommen. Etwa drei Kilometer vom Grenzstein Nummer 149
entfernt, dort wo an Weihnachten 1942 die Flucht von Frieda Grüneberg
scheiterte, befindet sich ein Friedhof. Dort steht auf einer Anhöhe an
einer kleinen Mauer ein Stein ohne Grab, der lange Rätsel aufgab.
Der Rentner Siegfried Schätzle wohnt heute nur ein paar Straßen weiter. Er
war es, dem dieser Stein bei den Recherchen über seine Großtante Luzia
Schaub als erstem auffiel. Dabei muss er hier schon länger stehen,
vermutlich seit den 1950er Jahren. Doch Unterlagen darüber, wer ihn in
welchem Auftrag gesetzt hat, sind nicht mehr aufzufinden. Was Schätzle
allerdings findet, ist ein in Grenzach ausgestellter Totenschein auf
Friederike Grüneberg.
Der nahezu schmucklose Stein trägt die Inschrift „Unserer lieben Mutter
Frieda Grünberg 1880–1942“. Dem Text nach müssen ihre Kinder die
Auftraggeber gewesen sein. Jedoch weist die Inschrift Fehler auf, denn die
Verstorbene wurde 1882 geboren und im Nachnamen fehlt ein „e“. Allerdings
taucht dieser Fehler schon in den Entschädigungsunterlagen auf. Das
wiederum könnte damit zusammenhängen, dass der nach England ausgewanderte
Sohn seinen Nachnamen tatsächlich in „Gruenberg“ geändert hatte.
Jahrzehntelang hat kein Hinweis die Besucher des Friedhofs über den
Gedenkstein für Frieda Grüneberg aufgeklärt. Jetzt ist es anders. Denn nach
Schätzles Recherchen hat der Verein für Heimatgeschichte der Gemeinde eine
kleine Tafel neben dem Stein aufgestellt. Auf ihr steht, was in der
Weihnacht von 1942 am Grenzacher Horn geschah.
Nein, das war keine Tragödie. Es war der willentlich durch einen
Terrorstaat provozierte Tod einer Frau, die keinen Ausweg mehr wusste. Und
diese Ausweglosigkeit war das Ergebnis streng bewachter und geschlossener
Grenzen.
Bei dem Spaziergang im Frühjahr 2022 entlang der Bahnlinie sind wir ein
paar Mal über die grüne Grenze in die Schweiz gelaufen. Kontrollen gab es
nicht. An der Zollstation „Grenzacher Horn“ fahren die Auto- und Radfahrer
durch. Es ist nicht so, dass sie durchgewunken werden. Es ist überhaupt
niemand da, der winken könnte.
8 May 2022
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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Lesestück Recherche und Reportage
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