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# taz.de -- Buch „Transit Istanbul-Palästina“: Retter, Schwindler und Verf…
> Reiner Möckelmanns Studie über Istanbul als Transitpunkt für Juden im
> Zweiten Weltkrieg ist eindrucksvoll. Sie entlarvt Lügen und
> Halbwahrheiten.
Bild: Gedenken an die 790 jüdischen Flüchtlinge, die auf der „Struma“ sta…
Nach dem Krieg haben sie sich alle gebrüstet: der deutsche Botschafter in
Ankara, [1][Franz von Papen], phantasierte, er habe mehr als 10.000
Jüdinnen und Juden gerettet. Der Vatikan verwies gar auf 25.000 Menschen,
die dank seiner Hilfe dem Holocaust entgangen seien. Und staatliche Stellen
in der Türkei behaupten bis heute, das Land sei eine „Retter-Nation“ für
die vom Tod Bedrohten gewesen.
Von diesen Mythen bleibt nach der Lektüre von Reiner Möckelmanns Studie
über Istanbul als Transitpunkt in Richtung Palästina für südosteuropäische
Juden im Zweiten Weltkrieg nichts übrig. Sauber wie mit einem Skalpell
geschnitten zerstört der Autor mithilfe von vielen bisher unbeachteten
Quellen die Vorstellungen von der großartigen Hilfe.
So habe die Türkei auf die Drohung der Nazis hin, dass ihre in Frankreich
lebenden Staatsbürger nach Polen deportiert würden, wenn man sie nicht in
ihre Heimat zurückbrächte, erst verspätet reagiert und dann nur einem
Bruchteil die Möglichkeit gegeben, sich in Sicherheit zu begeben. Die
anderen endeten in deutschen Vernichtungslagern. Der Beitrag zur Hilfe
durch die katholische Kirche sei maßlos zugunsten von Papst Johannes XXIII.
aufgepumpt worden. Und die Heldenerzählungen Papens entpuppten sich als
„erlogene Wahrheit“ eines notorischen Schwindlers.
Im Mittelpunkt von Möckelmanns Studie stehen freilich diejenigen, die
tatsächlich alles in ihrer Macht Stehende in Bewegung setzten, um den
Verfolgten zu helfen.
## Wirkliche Helfer
Das war an erster Stelle eine in Istanbul stationierte Gruppe der
Jerusalemer Jewish Agency mit [2][Chaim Barlas] an der Spitze und zudem
türkischer Juden. Die kleine Organisation unternahm alles Erdenkliche: Sie
entsandte Emissäre nach Südosteuropa, setze Regierungsstellen in der Türkei
unter Druck, hielt den Kontakt mit jüdischen Organisationen in Budapest und
Bratislava und antichambrierte bei britischen und US-Botschaftsangehörigen
in Ankara.
Am Ende waren es viel weniger Menschen, die gerettet werden konnten, als
die großsprecherischen Behauptungen anderer weismachen wollen. Aber ihnen
wurde zuerst und vor allem von Barlas und seinen engagierten Helfern aus
der Not geholfen.
Istanbul, das war im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum von Spionage und
Gegenspionage. Die Türkei widerstand den Versuchen der Alliierten, sie zu
einem Kriegseintritt gegen Hitler zu bewegen, und bemühte sich stattdessen
um gute Beziehungen – und Geschäfte – zu allen Beteiligten.
Infolge der Neutralität Ankaras konnten mehrere Austauschaktionen zwischen
dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über die Drehscheibe
Istanbul abgewickelt werden. Dabei wechselte man in Nazi-Europa gestrandete
Juden sowie Angehörige des Commonwealth gegen in Palästina verbliebene
deutsche Staatsbürger aus. Die Züge mit den Austauschkandidaten kamen aus
dem Deutschen Reich und dem syrischen Aleppo – am Bosporus stiegen die
Passagiere um. Die einen entkamen so dem Holocaust, die anderen durften
„heim ins Reich“.
## Die Mandatsmacht sträubte sich
Freilich waren bei diesen Austauschaktionen nur solche Jüdinnen und Juden
zugelassen, die eine nahe Verbindung ins britische Mandatsgebiet nachweisen
konnten, etwa weil sie als Touristen aus Tel Aviv bei Verwandtenbesuchen in
Polen 1939 gestrandet waren. Dadurch blieben Millionen andere Verfolgte von
den Transporten ausgeschlossen.
Die Mandatsmacht in Jerusalem sträubte sich lange dagegen, diesen Juden
einen Zutritt nach Palästina zu erlauben. Dementsprechend sah sich die
Türkei nicht in der Lage, diesen Menschen Trasitvisa auszustellen. In der
Türkei sollten die Menschen keinesfalls verbleiben, so die Position
Ankaras.
Doch gerade für die bedrohten Juden in der Slowakei, Ungarn, Kroatien,
Bulgarien und Rumänien lag es nahe, diese über Istanbul in Sicherheit zu
bringen. Barlas und sein Büro der Jewish Agency verhandelten mit allen nur
denkbaren Entscheidungsträgern, um das zu ermöglichen.
Kurz vor Kriegsende, als die ungarischen Juden von den Nationalsozialisten
nach Auschwitz getrieben wurden, kam es gar zu indirekten Kontakten zu
SS-Angehörigen. Erfolg hatten die Initiativen nur in den seltensten Fällen:
Mal fehlten Transportkapazitäten, mal gab es keine sichere Schiffsroute,
mal entpuppten sich großspurig angekündigte Hilfsangebote als Schwindel.
Zudem unternahm Deutschland alles Erdenkliche, um die Transporte zu
verhindern.
## Das „Struma“-Desaster
Dass die Türkei nicht gerade als Held in dieser dunklen Geschichte
erscheint, zeigt am eindrücklichsten das Desaster der „Struma“. Dieses mit
Menschen überladene und nahezu manövrierunfähige Schiff hatte aus Rumänien
kommend Ende Dezember 1941 den Bosporus erreicht. Aber hier ging es nicht
weiter. Türkische Regierungsstellen verweigerten Transitvisa für den
Eisenbahntransport in Richtung Syrien, die britische Mandatsverwaltung
wiederum wollte die Flüchtlinge nicht in Palästina annehmen.
Wochenlang blieben die Passagiere der „Struma“ auf dem Dampfer gefangen. Am
23. Februar 1942 schließlich wurde das Schiff an die Grenze der türkischen
Hoheitsgewässer geschleppt. Einen Tag später torpedierte ein sowjetische
U-Boot irrtümlich die „Struma“. Von 791 Menschen überlebte nur ein
einziger.
Möckelmann ist eine eindrucksvolle Studie über ein wenig bekanntes Kapitel
des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust gelungen. Sein akribisch
recherchiertes Buch zeigt auf, an welchen Fallstricken die Rettung von
Jüdinnen und Juden scheiterte – und dass es damals doch Menschen gab, die
alles dafür gaben, um die Verfolgten zu retten.
3 Jul 2023
## LINKS
[1] /Zentrum-fuer-Politische-Schoenheit/!5648119
[2] https://www.infocenters.co.il/gfh/notebook_ext.asp?book=9270&lang=eng&a…
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Holocaust
Juden
Türkei
Invasion
Antisemitismus
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Lesestück Recherche und Reportage
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