| # taz.de -- Opfer des NS-Regime: Eine Stimme für die Vergessenen | |
| > Ernst Nonnenmacher verbrachte drei Jahre als „Asozialer“ in KZs. Jetzt | |
| > gründet sein Neffe einen Verein, um an die vergessenen Opfer zu erinnern. | |
| Bild: Häftlinge des KZ Flossenbürg müssen im Steinbruch Schwerstarbeit leist… | |
| Ernst Nonnenmacher hatte schon des öfteren gesessen, immer wegen kleiner | |
| Delikte: Diebstahl, Hehlerei, Verstoß gegen das Meldegesetz, Widerstand. | |
| Kurz nach dem Jahresbeginn 1939 bemüht sich der 30-Jährige wieder einmal um | |
| einen Job, nachdem er kurz zuvor entlassen worden war. Er findet nichts, | |
| nur Drohungen und Verwünschungen werden gegen den Wandernden ausgestoßen. | |
| Im schwäbischen Herrlingen lässt er aus zwei Gärten einen Arbeitsanzug und | |
| zwei Hemden von der Wäscheleine mitgehen. Als er danach pinkelnd am | |
| Straßenrand steht, nimmt er zwei Schulmädchen wahr, dreht sich um. Und sein | |
| Penis ist zu sehen. | |
| Am selben Tag greift ihn die Polizei auf. Im Mai 1939 wird Ernst | |
| Nonnenmacher zu zwei Jahren Haft verurteilt. Der Angeklagte besitze zwar | |
| „keine eigentliche verbrecherische Veranlagung“, heißt es in der | |
| Urteilsbegründung. Dennoch sei „man zu der Überzeugung gelangt, dass ein | |
| längerer Freiheitsentzug heilsam sein wird“. | |
| Knapp zwei Jahre später, im April 1941, kommt Nonnenmacher frei. Er findet | |
| einen Job in Stuttgart und will sich ordnungsgemäß polizeilich anmelden. | |
| Doch die Polizei behält in dort. So jemand wie er dürfe nicht mehr frei | |
| herumlaufen, heißt es. Am 19. Mai 1941 wird Ernst Nonnenmacher in das KZ | |
| Flossenbürg in der bayerischen Oberpfalz eingeliefert. [1][Sein Kategorie, | |
| ein schwarzer Winkel, kennzeichnet ihn als „Asozialen“.] Er ist einer von | |
| Zehntausenden angeblichen „Berufsverbrechern“ und „Asozialer“, die ohne | |
| Urteil in Konzentrationslager gesperrt werden. | |
| ## Ein schwieriges Unterfangen | |
| 81 Jahre später möchte sein Neffe Frank Nonnenmacher an diese vergessenen | |
| Opfer des NS-Regimes erinnern. Der 77-Jährige emeritierte Pädagoge plant | |
| die Gründung eines Verbands der Angehörigen dieser über Jahrzehnte | |
| ignorierten Menschen. Doch das Unterfangen ist schwierig. „Es gibt kein Amt | |
| und keine Gedenkstätte, die ich fragen könnte“, sagt er. Viele der Opfer | |
| und ihrer Familien haben lange aus Scham geschwiegen. „60, 70 haben sich | |
| gemeldet“, sagt Nonnenmacher. Dabei sind vermutlich etwa 70.000 Menschen in | |
| deutschen KZ inhaftiert, gequält und ein großer Teil von ihnen ermordet | |
| worden, weil es Unangepasste waren, die nicht den Normen der | |
| „Volksgemeinschaft“ entsprachen. | |
| Disziplinar-Maßnahmen gegen Menschen, die als „arbeitsscheu“ bezeichnet | |
| wurden, nicht sesshaft waren, bettelten oder der Prostitution nachgingen, | |
| haben eine lange Tradition. Aber erst das NS-Regime ging gegen sie mit | |
| „erbbiologischen Vorstellungen“ vor, weil sie glaubten, Kriminalität und | |
| unangepasstes Verhalten seien vererbbar und somit nicht veränderbar, sagt | |
| Ulrich Baumann, der stellvertretende Direktor der Stiftung Denkmal für die | |
| ermordeten Juden in Berlin. Das gipfelte in der Praxis, dass diese ohne | |
| Urteil eingesperrt werden konnten, für eine Tat, die sie nicht getan | |
| hatten, aber angeblich beabsichtigten zu tun. So konnten „Gewohnheit- und | |
| Sittlichkeitsverbrecher“ ab 1941 mit dem Tode betraft werden, auch wenn gar | |
| kein konkreter Tatvorwurf vorlag. Sie „verfallen der Todesstrafe, wenn der | |
| Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Strafe es | |
| erfordern“. | |
| Schon zuvor, ab 1933, gerieten zehntausende Menschen mit „sozial | |
| abweichendem Verhalten“ in die Konzentrationslager, nach dem sie ihre | |
| Strafe – meist wegen geringfügiger Vergehen – abgesessen hatten. Im März | |
| 1933 erklärte Heinrich Himmler die „Ausmerzung des Verbrechertums“ zu einem | |
| wichtigen Ziel. Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ vom November 1933 sah die | |
| Möglichkeit einer unbegrenzten Sicherungsverwahrung vor. Im selben Monat | |
| führte Hermann Göring die „polizeiliche Vorbeugehaft“ ein. Die KZs begann… | |
| sich mit mutmaßlichen Kriminellen und Landstreichern zu füllen. Zeitweise | |
| stellten sie die größte Kategorie dort, noch vor politischen Häftlingen | |
| oder Juden. | |
| ## Er trug jetzt einen grünen Winkel | |
| In Flossenbürg kam Ernst Nonnenmacher in eine enge Baracke mit 125 | |
| Häftlingen und musste fortan schwerste Zwangsarbeit in einem Steinbruch | |
| leisten. Es gab jeden Tag Tote. Im November 1942 wurde er nach | |
| Sachsenhausen verlegt. Dort musste er Körbe flechten. Dort galt er nun als | |
| „Berufsverbrecher“ und trug einen grünen Winkel. Er kam in Kontakt mit | |
| inhaftierten Kommunisten und freundete sich mit einem von ihnen an. | |
| Die Subkultur der Unangepassten sollte im NS-Reich eleminiert werden. Im | |
| März 1937 folgten auf Anordnung von Heinrich Himmler landesweite Razzien | |
| gegen „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“, die in Konzentrationslager | |
| überstellt wurden. Wer „durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit | |
| gefährdet“, so ein weiterer Erlass von 1937, wurde weggesperrt. Im Juni | |
| 1938 etwa traf es 9.500 „asoziale“ Männer: Die Polizei durchsuchte dazu | |
| landesweit Bahnhöfe, Kneipen und Obdachlosenasyle und brachte viele der | |
| Angetroffenen in Konzentrationslager, ohne dass diesen konkret etwas | |
| vorgeworfen wurde. | |
| Der Justiz seien Fälle von Kriminalität immer stärker entzogen worden, sagt | |
| Ulrich Baumann. Die Behandlung straffälliger Unangepasster wurde zur | |
| Aufgabe der Kripo. Selbst Wohlfahrtsempfänger ohne jedes Vergehen wurden | |
| als „Volksschädlinge“ nach Dachau gebracht, aber auch mehr und mehr Sinti, | |
| deren Lebensweise nicht länger geduldet wurde. | |
| ## Schlechter Forschungsstand | |
| Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs erlaubte die | |
| „Polenstrafrechtsverordnung“ die Verhängung der Todesstrafe selbst bei | |
| geringsten Vergehen. Viele polnische Staatsbürger wurden nach Verbüßung | |
| einer Haftstrafe in KZs verschleppt. Und schließlich wurden viele der | |
| sozial Unangepassten sterilisiert, weil ihr Verhalten nach den | |
| Vorstellungen der Nazis vererbbar war. | |
| Das Schicksal seines Onkels Ernst war für den Pädagogen Frank Nonnenmacher | |
| Grund genug, um sich über Jahrzehnte mit den vergessenen NS-Opfern zu | |
| beschäftigten, deren Entschädigung nach dem Krieg nicht vorgesehen war. Im | |
| Februar 2020 hatte eine Petition von ihm Erfolg: [2][Der Bundestag erkannte | |
| die Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ als Nazi-Opfer a… | |
| und versprach eine Finanzierung der Erforschung des Schicksals der | |
| betroffenen Menschen. | |
| Dazu zählt auch eine Wanderausstellung, die derzeit von der Stiftung | |
| Denkmal für die ermordeten Juden und der Gedenkstätte Flossenbürg | |
| vorbereitet wird. Man werde in der Schau sowohl Einzelfälle als auch das | |
| System der Verfolgung in den Blick nehmen, sagt Baumann dazu. Eine | |
| Eröffnung ist für den Sommer 2024 vorgesehen. Bei der wissenschaftlichen | |
| Aufarbeitung des Themas habe sich dagegen entgegen dem Bundestagsbeschluss | |
| bis heute wenig bewegt, kein Sonderforschungsbereich sei eingerichtet | |
| worden. Immer noch sei das Thema „sehr schlecht erforscht“, sagt Baumann. | |
| Frank Nonnenmacher ist mit der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses nicht | |
| zufrieden. „Drei Jahre sind vergangen“, das sei zu viel Zögerlichkeit. | |
| „‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ – diese Bezeichnungen müssen | |
| verschwinden“, sagt er. Im Aufruf zur Gründung des Verbands der „Nachkommen | |
| der verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ heißt es: „Ein Verband kann | |
| auch nach außen wirken, zum Beispiel als Kritiker halbherzig ausgeführter | |
| Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken präsent sein | |
| sollte.“ | |
| Am nächsten Wochenende soll es so weit sein. Dann will sich der Verband der | |
| vergessenen Nazi-Opfer in Nürnberg gründen. Frank Nonnenmacher und seine | |
| MitstreiterInnen hoffen, etwa 30 Menschen dort begrüßen zu können. | |
| Sein Onkel Ernst kommt im April 1945 nach einem Todesmarsch frei. Doch als | |
| Nazi-Opfer anerkannt wird er nicht. Vielen aus politischen Gründen | |
| Inhaftierten gelten die vorgeblichen „Berufsverbrecher“ als willfähige | |
| Helfer der Nazis, auch wenn nur eine kleine Minderheit als Kapos in den KZs | |
| eingesetzt war. Die Mär, dass damals lauter Mörder und Schwerverbrecher in | |
| den KZs einsaßen, und nicht etwa Kleinkriminelle, Hausierer und Menschen, | |
| die sich schlicht den Normen der „Volksgemeinschaft“ entzogen, hält sich | |
| bis heute. | |
| Angehörige vergessener NS-Opfer können sich bei der Initiative zur | |
| Verbandsgründung melden unter: [email protected] | |
| 16 Jan 2023 | |
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| [1] /Vergessene-Opfer-der-Nazis/!5768783 | |
| [2] /Aufarbeitung-im-Bundestag/!5659750 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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