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# taz.de -- Gründungswerk der Holocaustgeschichte: Ein Buch schreibt Geschichte
> Anfangs wollte es niemand, jetzt erscheint eine neue Ausgabe. Raul
> Hilbergs „Vernichtung der europäischen Juden“ ist mehr als ein
> Standardwerk.
Bild: Raul Hilberg 1992 in einer Berliner Schule
Am 26. November 1982 erschien in der noch jungen taz auf Seite 9 unter der
Seitenrubrik „Reportage“ ein Text, der ganz gewiss keine Reportage
darstellt. Der Text beginnt mit den heute schwer verständlichen Worten: „Es
ist über ein Ereignis zu berichten, das eigentlich noch wichtiger ist als
die Fernsehserie über Holocaust.“
Der Satz bezieht sich auf eine US-Serie, die in der Bundesrepublik nur in
den dritten Programmen zu sehen war, aber dennoch für Furore sorgte, weil
dort der Judenmord der Nazis anhand einer verfolgten Familie geschildert
wurde. Auf dieser Seite 9 aber geht es um ein neues Buch, kürzlich
erschienen bei einem linken Berliner Kleinverlag. Dann folgt der Titel:
„Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden“.
Die Rezension von Urs Müller-Plantenberg blieb über Jahre die einzige im
deutschen Blätterwald, erinnert sich Christian Seeger, der damals Hilbergs
Text übersetzte. Weder Frankfurter Allgemeine noch Süddeutsche oder Die
Zeit verloren auch nur ein Wort über das Buch. Es sei aber nicht so
gewesen, dass der Verlag Olle & Wolter an der Veröffentlichung der 840
Seiten im Großformat zugrunde gegangen sei, das Ende des Verlags habe ganz
andere Gründe gehabt.
Seeger spricht ganz am Ende einer Veranstaltung in der Berliner Topographie
des Terrors über das Buch, das ein Standardwerk zu nennen eine gewaltige
Untertreibung wäre. Seeger hat ein Nachwort geschrieben zur nun erfolgten
neuen Ausgabe von Hilbergs Klassiker, der an diesem Abend vorgestellt wird.
## Die ganze deutsche Gesellschaft wirkte dezentral mit
Olle & Wolter gibt es längst nicht mehr. Raul Hilberg ist im August 2007 in
den USA verstorben. Aber sein Buch, an dem er sein halbes Leben lang
gearbeitet hat, diese „Gesamtgeschichte des Holocaust“, wie es im
Untertitel der ersten deutschen Ausgabe heißt, ist geblieben, ist größer
geworden, ist verstanden worden als das, was es darstellt: ein Buch, das
weitgehend emotionslos auf Basis von Täter-Quellen etwas scheinbar
Unbeschreibliches beschreibt, analysiert und einordnet, ohne moralische
Adjektive, ruhig, bestimmt und von schneidender Präzision.
Das „Gründungswerk der Holocaustgeschichte“, so die lernfähige Frankfurter
Allgemeine im Jahr 2007, legte die Basis für Hunderte weitere Forschungen
zum Thema.
„Bleibe bei den Debatten, bei den Quellen“, das sei es, was dieses Buch
mitteile, sagt Hilberg-Biograf René Schlott, der für die Neufassung das
biografische Vorwort geschrieben hat. Der Massenmord an den Juden sei weder
zentral geplant noch mittels eines eigenen Budgets finanziert worden.
Die „Vernichtungsmaschine“ sei das Werk der ganzen deutschen Gesellschaft
gewesen, die effizient und dezentral mitgewirkt habe, sagt Schlott. Das
Geschehen habe logisch aufeinander aufgebaut, sei aber nicht zwangsläufig
gewesen. Hilberg sei es um die Struktur des Vernichtungsprozesses gegangen,
führt Schlott aus, also um eine Dreiteilung – Definition, Konzentration,
Vernichtung.
Definition, das heißt: Wer ist ein Jude und wer ist es nicht? Hilberg macht
dazu schon 1961 darauf aufmerksam, dass die von den Nazis gefundene
Definition zwar „rassischen“ Kriterien zu folgen vorgibt, aber allein nach
der Abstammung von Eltern und Großeltern fragt – weil sich keine anderen
Kriterien fanden.
Konzentration, das sind die Vertreibungen und Ghettoisierungen, die
Zwangsarbeit und Ausbeutung. Und Vernichtung – das erklärt sich von selbst.
Die Deportationen in den Osten, die Tötung in Vernichtungs- und
Konzentrationslagern, in Gräben durch Genickschüsse, durch medizinische
Experimente, durch Verhungern.
## Deutsche Schriftstücke als Quellen
Die Quellen, das waren zuerst und vor allem deutsche Schriftstücke, also
Beweise, die die Täter selbst hinterlassen hatten. Zeichen dafür, dass
Leugnen zwecklos ist, dass Lügen Lügen bleiben. [1][1945 war es, als der
junge Raul Hilberg als US-Soldat nach Europa kam.] Der Krieg war schon fast
beendet. Hilberg, der aus einer von den Nazis vertriebenen jüdischen
Familie aus Wien stammte, sah das KZ Dachau kurz nach der Befreiung mit
eigenen Augen.
Er entdeckte in München die in Kisten verpackte Privatbibliothek Adolf
Hitlers, befragte im Auftrag der Army deutsche Soldaten. Er war immer nahe
bei den Quellen, auch nach Aufnahme eines Politikstudiums in New York.
Geschichte kam damals für ihn nicht infrage, denn der Holocaust – die
Bezeichnung für den Massenmord an den Juden gab es noch nicht – war ja
keine Geschichte, sondern eben erst geschehen.
[2][Damals, Ende der 1950er Jahre, habe all das aber kaum jemand wissen
wollen,] nicht in den Vereinigten Staaten, nicht in Deutschland, ja nicht
einmal unter vielen der überlebenden Opfer, erzählt Schlott. Hilberg fand
für seine voluminöse Promotion über den Judenmord zunächst keinen Verlag
und landete schließlich 1961 bei einer kaum bekannten Neugründung in
Chicago.
Er musste lange nach einer Stelle an einer Universität suchen, die er
schließlich in Burlington, Vermont, nahe der kanadischen Grenze fand,
sozusagen am Ende der Welt, wo er zuständig für amerikanische Außenpolitik
wurde. Für Hilbergs eigentliches Thema interessierten sich nur wenige, auch
wenn die New York Times das Werk damals durchaus zur Kenntnis nahm.
## Unrühmliche Veröffentlichungsgeschichte
Die Veröffentlichung von Hilbergs „Vernichtung der europäischen Juden“ ist
längst selbst Geschichte geworden. Es ist keine gute, schon gar nicht in
Deutschland. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei das so
renommierte Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, gegründet extra
zur Untersuchung der jüngsten deutschen Geschichte.
Schon 1964 empfahl ein namentlich unbekannter Gutachter des IfZ dem Droemer
Knaur Verlag auf Anfrage, auf eine Übersetzung und deutsche
Veröffentlichung zu verzichten. Man verwies dabei unter anderem auf
anstehende Veröffentlichungen durch das eigene Haus, meinte aber auch, die
Analyse Hilbergs sei nicht umfassend genug.
1967 zeigte Rowohlt kein Interesse. 1980 fragte der Münchner Beck-Verlag
beim IfZ nach, was man von einer Veröffentlichung hielte. Die Antwort fiel
erneut negativ aus, das Werk sei nämlich inzwischen „veraltet“. Und so
hätte es ewig weitergehen können – hätte sich nicht der Kleinverlag Olle &
Wolter 1982 erbarmt.
## Deutsche Borniertheit
War es Antisemitismus, den das Institut für Zeitgeschichte damals bei
seiner Ablehnung geleitet hat? René Schlott bleibt da vorsichtig.
Möglicherweise spielt deutsche Borniertheit die entscheidende Rolle.
Damals, das ist inzwischen hinlänglich durch Veröffentlichungen bekannt,
glaubten die selbst nicht immer ganz unbelasteten Herren in München, gerade
die Deutschen seien ganz besonders befähigt, deutschen Krieg und Massenmord
zu analysieren, keinesfalls aber die verfolgten Juden, die mit zu viel
Emotionalität an das Thema herangehen würden.
„Verteidigung des eigenen wissenschaftlichen Stammesgebiets und der
Deutungshoheit gegen bessere, als Konkurrenten wahrgenommene Kollegen“
nannte der Historiker Götz Aly ein solches Verhalten schon vor Jahren.
Aber auch diese Schlachten scheinen heute Geschichte zu sein. Was bleibt,
ist ein Buch mit zusammen 1.472 Seiten. Nicht nur Vor- und Nachwort von
René Schlott beziehungsweise Christian Seeger sind neu, auch der Text
entspricht nun der letzten amerikanischen Version Hilbergs, der die
Angewohnheit besaß, sein Lebenswerk immer wieder zu aktualisieren, wenn
neue Forschungsergebnisse dies nahelegten.
28 Jun 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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