# taz.de -- Essayband von Raul Hilberg: Die Verwalter der Endlösung | |
> Raul Hilberg wäre dieses Jahr 90 geworden. Die neue Sammlung zeigt ihn | |
> als Analytiker der Rationalität hinter der NS-Vernichtungsmaschine. | |
Bild: Gedenken am Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Von hier aus wurden mehrere Ze… | |
Vor deutschem Publikum hielt Raul Hilberg 1980 einen Vortrag über „Die | |
Anatomie des Holocaust“. Hilberg bezeichnete ihn später selbstkritisch als | |
„den harmlosesten Vortrag, den ich je gehalten habe“. Das ist keine | |
Koketterie, denn der mit seinen Eltern ins Exil vertriebene Hilberg | |
zögerte, im Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ öffentlich aufzutreten �… | |
aus Angst vor antisemitischen Reaktionen. | |
Der Historiker, der im August 2007 verstorben ist, wäre diesen Sommer 90 | |
Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Anlass hat der Fischer Verlag ein | |
Buch herausgebracht, das 13 Aufsätze und Vorträge enthält, die bisher nur | |
an entlegenen Publikationsorten auf Englisch zugänglich waren. Die | |
Herausgeber des Buches sind Walter H. Pehle, langjähriger Lektor für | |
Geschichte beim Verlag S. Fischer und der Zeithistoriker René Schlott. | |
Die 13 Arbeiten gliedern sich in die drei Abschnitte: Forschungen, | |
Kontroversen und Erinnerungen. Der älteste Text stammt aus dem Jahr 1965, | |
der jüngste aus Hilbergs Todesjahr 2007. So bieten die Beiträge einen | |
Querschnitt durch die Forschungsarbeiten und das Forscherleben des | |
Historikers. | |
In seinem Vortrag „Die Anatomie des Holocaust“, der dem Buch auch als Titel | |
dient, verneigte sich Hilberg vor seinem akademischen Lehrer, dem | |
Emigranten Franz Neumann. Der hatte 1942/44 die erste Studie unter dem | |
Titel „Behemoth“ über die Struktur und Praxis des Nazi-Regimes | |
herausgebracht. Dieses Buch, das von den vier konkurrierenden Akteuren | |
Beamtentum, Militär, Wirtschaft und NSDAP ausgeht, war maßgebend für | |
Hilbergs 1955 eingereichte Dissertation „Die Vernichtung der europäischen | |
Juden“ – ein Buch, das in den USA 1961 einen Verleger fand und erst 1982 in | |
einem sehr kleinen Verlag auf Deutsch erschien, bevor es 1990 in großer | |
Auflage im Verlag S. Fischer einen angemessenen Platz fand. | |
## Vernichtung als bürokratisches Phänomen | |
Hilbergs Grundlagenarbeit fand erst mit erheblicher Verzögerung die | |
verdiente Resonanz in den USA, in der Bundesrepublik und in Israel. Wie | |
kein anderer Historiker betonte Hilberg in allen seinen Arbeiten die | |
herausragende Bedeutung staatlicher und parastaatlicher Bürokratien für die | |
Vorbereitung und Durchsetzung der Vernichtung der europäischen Juden. Diese | |
institutionalisierten Prozesse hielt er für wichtiger bei der Analyse von | |
Tätern, Opfern und Zuschauern als die Berufung auf ideologische Faktoren | |
oder psychologische Dispositionen, weil es „kein organisiertes Element der | |
deutschen Gesellschaft“ gab, „das nicht auf irgendeine Weise in den | |
Vernichtungsprozess eingebunden war“. | |
Hilbergs bahnbrechende Studien zur Rolle der Reichsbahn und verschiedener | |
Polizeiorgane belegen, wie diese bürokratisch durchorganisierten | |
Institutionen zu Teilen der „Vernichtungsmaschine“ wurden. Alltägliche | |
Verwaltungsfunktionen und wirtschaftliche Rationalitäts- und | |
Effizienzkalküle unterschieden sich nicht von der „Umsetzung der | |
Endlösung“. Exemplarisch untersucht Hilberg in einem Beitrag die | |
Vernichtung „als bürokratisches Phänomen“ anhand ausgedehnter Archivstudi… | |
zur Arbeitsweise der Reichsbahn bei der logistisch sehr schwierigen | |
Aufgabe, Juden in Güterwagen kreuz und quer durch Europa zu transportieren. | |
Vier Beiträge drehen sich um kontroverse Deutungen der Gettos in Polen und | |
deren administrative Mitverwaltung durch Judenräte, aber auch um den | |
gemeinsamen Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch Präsident Ronald | |
Reagan und Kanzler Helmut Kohl. Der „Strategie der Rettung durch Arbeit“, | |
die viele Judenräte verfolgten, entzog Hilberg mit seinen Forschungen ihre | |
Plausibilität, denn „auf diese Art opferte das Judentum mehr und mehr für | |
weniger und weniger, bis es vernichtet war“. | |
Außer strenger empirischer Überprüfbarkeit anhand von Quellen fühlte sich | |
der Historiker Raul Hilberg einem methodischen Minimalismus bei der | |
Darstellung verpflichtet: „Mit möglichst wenigen Worten viel sagen.“ Er | |
berief sich dabei ausdrücklich auf Elie Wiesel, der gesagt hatte: „Wenn es | |
ein Roman ist, kann er nicht von Auschwitz handeln, und wenn es um | |
Auschwitz geht, ist es kein Roman.“ | |
21 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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