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# taz.de -- Nachruf: Der Akten-Forscher
> Zum Tod des Pioniers der Holocaustforschung Raul Hilberg, der erstmals
> die Vorstellung von einem, nur wenigen NS-Funktionären bekannten.
> Geschehen widerlegte.
Bild: Immer kritisch: Raul Hilberg 1997 bei einer Rede in Zürich
Im September 1938 saß der zwölfjährige Raul Hilberg im Wien im Haus seiner
Eltern und beobachtete die vorbeifahrenden Lastwagenkonvois mit deutschen
Soldaten, die zur tschechischen Grenze fuhren. Die Juden, schrieb er in
seinen autobiografischen Skizzen, wussten, was ihnen blühte, wenn sie nicht
auswanderten. "Meine Kindheit war mit einem Schlag beendet. Da mich das
Schreckgespenst der unaufhaltsamen Ereignisse in seinen Bann zog, entging
mir nichts mehr. Als ich aus dem Fenster starrte und das Schauspiel
betrachtete, durchzuckte mich ein Gedanke: Eines Tages werde ich über all
das schreiben, was ich sehe."
Im April 1939 emigrierte die Familie Hilberg über Straßburg, Paris, La
Rochelle nach Havanna. Von dort konnte sie schließlich in die USA einreisen
und war gerettet. Drei Jahre später wurde Raul Hilberg zur US-Armee
eingezogen, nach seiner Rückkehr begann er in New York Geschichte und
Politik zu studieren. Unter seinen Professoren waren es zwei Emigranten,
die ihn am meisten beeindruckten: der Sozialhistoriker Hans Rosenberg und
der Politologe Franz Neumann, der Autor des "Behemoth", der ersten
Gesamtinterpretation des NS-Regimes. Rosenberg lehrte damals vor allem die
Geschichte des preußischen Staates. Hier, schrieb Hilberg später, "machte
ich mir die Idee der Zuständigkeit bewusst, jenes Urgesteins der
Rechtsordnung, das sowohl die Stütze als auch das Hauptinstrument der
Bürokraten zu sein schien". Bei Neumann beeindruckte ihn vor allem dessen
Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems mit seinen vier
Blöcken Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei: "Im Prinzip anarchisch,
ein organisiertes Chaos, jedoch mit der Freiheit, in völlig unerforschte
Handlungsräume vorzustoßen." Zudem argumentierte Neumann kühl, frei von
moralischer Erregung: "trocken, apodiktisch, völlig schmucklos". So musste
man schreiben.
Hilberg hatte seine Vorbilder gefunden, sein Thema fand er selbst: "The
Destruction of the European Jewry". Es war ein randständiges Thema für
einen Nachwuchshistoriker, denn an amerikanischen Universitäten in den 50er
Jahren war der Mord an den Juden während des Zweiten Weltkrieges kein
adäquater Gegenstand der Geschichtsforschung - nicht anders in Europa und
Israel, zu schweigen von Deutschland. Für die überlebenden Juden in Israel
war es eine Qual, an das kaum Vergangene, das man mühsam beiseite gedrängt
hatte, erinnert zu werden. Das galt ebenso, jedoch mit umgekehrten
Vorzeichen, für die deutsche Gesellschaft, und auch in den USA würde man
mit diesem Thema keine akademische Karriere machen, warnte Franz Neumann
seine jungen Doktoranden.
Nur ein Außenseiter konnte ein solches Thema zum Gegenstand seiner
Doktorarbeit wählen, und Hilberg war ein Außenseiter. Für einige Zeit bekam
er eine Stelle im War Documentation Project, um die deutschen
Regierungsakten auszuwerten. Das war ein Glücksfall. Denn die
amerikanischen Geheimdienste hatten deutsche Akten in riesigem Umfang in
die USA gebracht. Eine systematische Auswertung der Akten nach
geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten indes erfolgte nicht; die
Auswertung des War Documentation Projects richtete sich vielmehr nach den
Interessen der verschiedenen Ressorts und folgte den amerikanischen
Interessen in der Frühphase des Kalten Krieges.
In dieser Situation begann Hilberg mit dem Studium dieser deutschen Akten,
das ihn über Jahre hinweg beanspruchte. Aus den Akten ergab sich ein ganz
anderes Bild, als es in der Öffentlichkeit der Zeit - und langer Jahrzehnte
danach - kolportiert wurde. Schon das Ausmaß des Mordgeschehens,
quantitativ wie territorial, die unglaubliche Vielfalt von Einzelmaßnahmen,
die in die Hunderttausende gehende Zahl derer, die daran mitwirkten, ließ
Vorstellungen von einem geheimen Geschehen, in das außer Hitler nur noch
wenige Vertraute eingeweiht gewesen wären, als ganz absurd erscheinen. Auch
die Vorstellung, die SS habe, einem früh gefassten Befehl Hitlers folgend,
die Juden seit den 30er Jahren systematisch mit dem Ziel ihrer
schließlichen Ermordung verfolgt, wie sie noch 1975 von Lucy Dawidowicz in
einem Bestseller verbreitet wurde, ließ sich nach Kenntnis der Akten nicht
halten. Hilberg arbeitete die Gleichzeitigkeit von Systematik und
Ziellosigkeit des Vorgehens der NS-Behörden heraus, die keinem früh
erteilten Befehl folgten, sondern 1940 noch nicht wussten, was 1941
geschehen würde, aber doch in der Verfolgung der Juden immer und stetig
schärfer und radikaler wurden. Er erkannte das Wirken einer staatlichen,
arbeitsteilig organisierten Verwaltung darin, ein öffentliches Geschehen,
das nach den Grundsätzen bürokratischer Rationalität funktionierte:
Schnellbriefe, Gesprächsprotokolle, Verordnungen, Bekanntmachungen,
Einbestellungen, Sonderfahrpläne der Reichsbahn - das waren die
Quellensorten, die Hilberg Aufschluss über das Geschehen gaben. Nichts an
dem furchtbaren Geschehen war mehr unheimlich oder unerklärlich, vielmehr
war die Vorstellung, es habe sich bei den Verantwortlichen um sadistische
Einzeltäter gehandelt, ebenso falsch wie die Behauptung, es seien nur
wenige Eingeweihte an dem Mordprozess beteiligt gewesen.
Nach Jahren der Arbeit mit den deutschen Akten legte Hilberg 1954, mit 28
Jahren, seine Dissertation vor, in der er die einzelnen Schritte der
Verfolgung genau nachzeichnete und die Struktur der nationalsozialistischen
Verfolgungs- und Mordpolitik gegenüber den Juden analysierte. Die Arbeit
wurde an der Columbia Universität hoch gelobt und ausgezeichnet - aber sie
wurde lange Zeit nicht gedruckt. Hilberg war seiner Zeit um Jahre voraus,
die meisten Historiker, die die Arbeit lasen und beurteilten - Neumann war
bereits früh verstorben -, erkannten gar nicht, was sie hier vor sich
hatten. Das lag auch an Hilbergs Stil: trocken, apodiktisch, völlig
schmucklos. Hilbergs Darstellung und Analyse schien demgegenüber
unangemessen, prosaisch, ja banal. Hinzu kam, dass israelische Historiker,
die noch damit beschäftigt waren, eine positive Identität für den auf der
Grundlage des Zionismus aufgebauten israelischen Staat zu schaffen,
Hilbergs Kritik an der Kollaborationspolitik der Judenräte ebenso scharf
ablehnten wie die Tatsache, dass es jüdischen Widerstand in seinem Buch
kaum gab - und dass die Studie aus der Perspektive der deutschen Akten
geschrieben war und das Geschehen als bürokratischen Prozess erklärte.
So erschien das Buch erst 1961 in englischer Sprache und wurde ein
ausgesprochener Non-Seller. Übersetzungen, auch ins Hebräische, blieben
aus. Hilberg hatte, wie wir heute sehen, eines der wichtigsten Bücher des
zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben, aber eine wissenschaftliche Karriere
machte er damit nicht. Er war froh, als Professor für Politik an der
kleinen Universität Burlington im Bergstaat Vermont unterzukommen, wo er
bis zu seiner Emeritierung lehrte.
In der Bundesrepublik interessierte sich der Droemer-Knaur Verlag für eine
deutsche Ausgabe, aber nach Lektüre des Manuskripts winkte man wieder ab,
mit der erstaunlichen Begründung, das Buch könnte den Rechtsradikalen
Auftrieb geben. Ein paar Jahre später, nun aber schon im Zeitalter von
Studentenbewegung und Antifaschismus, wurde das Buch dem Rowohlt Verlag
vorgelegt. Der Lektor, Raddatz, lehnte ab: Das sei gewiss interessant, aber
das Buch sei so dick - er könne dann mehrere Lyrikbändchen nicht machen,
das wolle er nicht verantworten.
Hilbergs Buch war erneut unzeitgemäß. Für die linken Antifaschisten, die
die Deutschen von ihrem "Judenknax" heilen wollten, waren die Juden die
Opfergruppe des Establishments, denen man die "vergessenen Opfer"
entgegenstellte, auf deren Seite man sich stellte, weil in deren
Vermächtnis die radikale Kritik an der Bundesrepublik historisch
legitimiert und radikalisiert werden konnte: die kommunistischen
Widerstandskämpfer etwa, die "Edelweißpiraten" oder die "Euthanasie"-Opfer.
War Hilberg in den 1950er und 60er Jahren von rechts isoliert worden, wurde
er es jetzt von links. Der Judenmord blieb in Deutschland wie anderswo
etwas, wozu man eine klare Meinung hatte, aber nicht viel wissen musste.
Erst 1982 wurde das Buch in deutscher Sprache publiziert - in niedriger
Auflage zwar und bei dem Kleinverlag Olle und Wolter, der zu dieser Zeit
trotzkistische Traktate und später esoterische Literatur produzierte - aber
immerhin war es nun auf dem Markt und bot so eine feste Grundlage für
jeden, der sich in der Bundesrepublik mit dem Judenmord in Europa
auseinandersetzen wollte. Aber auch Hilbergs zweites Buch über die Rolle
der Reichsbahn bei den Judentransporten fand zunächst keinen Verleger, bis
schließlich - ausgerechnet - der Deutsche Eisenbahnverlag das Buch druckte.
Im Jahr 1992 erschien dann auf Betreiben des Lektors der Schwarzen Reihe,
Walter Pehle, Hilbergs Buch über die Vernichtung der europäischen Juden in
einer erweiterten, dreibändigen Ausgabe im Fischer-Taschenbuchverlag - und
wurde nun zum Ausgangspunkt jener intensivierten Forschungsbewegung, die
Mitte der 1980er Jahre einsetzte und in den darauf folgenden etwa zwanzig
Jahren die Kenntnisse über den Judenmord so erheblich erweiterte. Die
bisherige Auflage liegt bei 45.000 Exemplaren.
In seinen Memoiren bezeichnete Hilberg seinen langjährigen Kampf um die
Verbreitung seines großen Buches als "dreißigjährigen Krieg", und in diesem
Wort werden seine Ironie und sein Sarkasmus deutlich, die ihn auszeichneten
und die er sein "Wiener Erbe" nannte. Zugleich wird aber auch die
Verbitterung spürbar über die Jahrzehnte der Isolierung und Ablehnung, die
er erfuhr, wenngleich er den Bedeutungszuwachs der Holocaustforschung seit
den späten 80er Jahren mit Genugtuung konstatierte. Aber es seien, darauf
hat er immer wieder hingewiesen, doch nach wie vor sehr wenige, die über
dieses Menschheitsverbrechen tatsächlich forschten und nicht nur
diskutierten. "Zwanzig Prozent" antwortete er auf die immer wiederkehrende
Frage, wie viel wir denn über die Geschichte des Judenmords heute wüssten.
"Das meiste ist noch offen", beschied er die Interviewer, die erkennbar
wissen wollten, ob denn nun nicht endlich alles bekannt sei.
Mit den sich etablierenden Gedenkritualen des Holocaust - schon der Begriff
war ihm fremd, er blieb bei dem ernüchternden "Ermordung der Juden" - hatte
Hilberg nichts im Sinn, noch weniger mit den Bemühungen staatlicher Stellen
und jüdischer Organisationen, den Judenmord zum Gegenstand einer Art
Zivilreligion zu machen. So unterstützte er auch Norman Finkelsteins
scharfe Kritik an der Entschädigungspolitik der amerikanischen jüdischen
Organisationen. In seiner Rolle als Außenseiter war er frei von politischen
Rücksichtnahmen und wissenschaftlichen Moden. Claude Lanzmann hat ihn in
seinem großen Film "Shoah" sehr authentisch in Szene gesetzt: als
Historiker, der, auf Aktenstapel gestützt, das Geschehen erklärt, die
Motive der Täter untersucht, die einzelnen Schritte des
Vernichtungsvorgangs beschreibt.
Erst dreißig Jahre nach dem Krieg reiste Raul Hilberg wieder nach
Deutschland, und er machte kein Hehl daraus, dass es ihm schwer fiel, in
dieses Land zu kommen und dort mit Vertretern der älteren Generation
zusammenzutreffen. Mit den Jahren änderte sich seine Einstellung und er
bekannte offen, wie erfreut - und verwundert - er über die politische und
gesellschaftliche Entwicklung war, die die Bundesrepublik genommen hatte.
Er erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen und kam häufig zu Vorträgen und
Konferenzen nach Deutschland. Aber er wehrte sich immer erneut gegen alle
Versuche, ihn zu einem Monument zu machen. "Erst beachten sie mich nicht,
dann machen sie mich zu einem Heiligen", bemerkte er dazu bei einer
Konferenz in Jerusalem im Sommer 2002. "Beide Male lesen sie meine Bücher
nicht."
7 Aug 2007
## AUTOREN
Ulrich Herbert
## TAGS
Antisemitismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gründungswerk der Holocaustgeschichte: Ein Buch schreibt Geschichte
Anfangs wollte es niemand, jetzt erscheint eine neue Ausgabe. Raul Hilbergs
„Vernichtung der europäischen Juden“ ist mehr als ein Standardwerk.
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