# taz.de -- Autorin über NS-Morde im Baltikum: „Auf Trümmern der Geschichte… | |
> Svenja Leibers Roman „Kazimira“ handelt von einer starken Frau und dem | |
> Mord an 3.000 Jüdinnen. Ein Gespräch über „Ostkolonisation“ und die | |
> Ukraine. | |
Bild: Spurensuche: Freiwillige pflegen am Strand von Palmnicken (heute Jantarny… | |
taz: Frau Leiber, wer ist Kazimira, Ihre Protagonistin? | |
Svenja Leiber: Eine Prußin im Samland, früher in Ostpreußen, heute in der | |
russischen Exklave Kaliningrad gelegen. Als Prußin ist sie Angehörige der | |
„heidnischen“ indigenen Bevölkerung und somit eine Randfigur in der | |
christlichen Mehrheitsgesellschaft. Als der Roman beginnt – 1871 zur | |
Gründung des Kaiserreichs –, ist der historische [1][baltische Stamm der | |
Prußen] nur noch an wenigen Nachnamen oder auch an typischem Grabschmuck, | |
wie hölzernen Kröten und Pferdeköpfen, auszumachen. Kazimira ist also eine | |
Figur, die aus einer verschwundenen Zeit herüberstrahlt. | |
Wie lebt sie? | |
Sie lebt in Armut mit ihrem Mann, dem Bernsteinschnitzer Antas, auf der | |
[2][Kurischen Nehrung]. Die Eheleute geraten in das Umfeld der | |
Bernsteingrube Anna, wo Antas Vorarbeiter wird. Um diese Grube herum | |
entspinnen sich verschiedene Schicksale. Wobei Kazimira immer wieder eine | |
Widerständigkeit versucht gegen Begrenzungen eines patriarchalen, aber auch | |
zunehmend nationalistischen Umfeldes. | |
Wie widersetzt sie sich? | |
Auf sehr eigenwillige Art. Denn sie ist kein gebildeter, aber ein sehr | |
starker Mensch, den man heute vielleicht als queere Person bezeichnen | |
würde, die sich nicht in Geschlechternormen zwängen lassen will. Einerseits | |
hadert sie mit Aufgaben, die ihr die Gesellschaft abverlangt – Haushalt, | |
Kinderkriegen und Zurückhaltung. Sie begehrt auf und möchte die gleichen | |
Freiheiten wie die Männerwelt. Sie hat zum Beispiel durchaus die besseren | |
Ideen für die Bernsteingewinnung als die Männer um sie herum. Wie so viele | |
Frauen ihrer Zeit bleibt sie aber im Hintergrund, während ihre Idee durch | |
ihren Mann durchgesetzt wird. Ein anderer Versuch aufzubegehren ist ihre | |
heimliche Liebesbeziehung mit einer Frau. Sie ist sich der Gefährlichkeit | |
bewusst, wirft der Begrenztheit und den gewaltvollen Gegnern aber ein | |
subversives Lachen entgegen. | |
Eine Rolle spielt in dem Roman auch ein Massaker im Jahr 1945. | |
Damals ermordeten die Nazis [3][an der Annagrube] – die als Tagebau immer | |
noch in Betrieb ist – 3.000 jüdische Frauen und Mädchen. Sie waren | |
Überlebende aus den Außenlagern des [4][KZ Stutthof]. Als die Rote Armee | |
1945 vor Königsberg stand, lösten die Nazis das KZ Stutthof hektisch auf | |
und schickten die Häftlinge auf „Todesmärsche.“ Von 10.000 Frauen | |
überlebten 3.000 den Marsch an die Ostsee. Sie wurden vor der Annagrube von | |
den Deutschen erschossen. Es gab nur 15 Überlebende, die erst in den 1990er | |
Jahren davon berichteten. Mein Anliegen war, ein literarisches Mahnmal für | |
diese Frauen zu schreiben. Weil ich aber nicht über die Opfer direkt | |
schreiben wollte – es ist mir unmöglich, literarisch über ein Massaker zu | |
schreiben –, bin ich 70 Jahre zurückgegangen, zur Gründung der Grube in | |
den 1870er Jahren durch einen jüdischen Unternehmer. | |
Wonach haben Sie gesucht? | |
Nach dem Boden, auf dem der Antisemitismus der Nazis wachsen konnte. Ich | |
habe bestimmte Spuren verfolgt: einerseits das Aufkommen eines gewissen | |
Homogenitätswahns der Deutschen, der sich mit der Gründung des Kaiserreichs | |
1870/71, in Ermangelung echter Ideen und auch möglicher Aufgaben als | |
Vermittler zwischen Ost- und Westeuropa, bildete. Diese territorialen | |
Homogenitätsvorstellungen spielten auch für den Antisemitismus eine | |
Riesenrolle. Gleichzeitig versuche ich die Spur der Misogynie | |
zurückzuverfolgen und Parallelen zwischen diesen beiden Formen des Hasses | |
herzustellen. Die antisemitische Rhetorik der „Verweiblichung“ jüdischer | |
Männer war nur möglich, weil es den Frauenhass schon gab. | |
Wie erlebt Kazimira das damalige Massaker? | |
Sie ist zu dem Zeitpunkt eine alte Frau. Als Prußin entstammt sie einer | |
„heidnischen“ Kultur, und es gibt einen Moment im Roman, wo sie die Frauen | |
auf ihrem Todesmarsch kommen hört, zur Grube geht und sie betritt. Es ist | |
ein Versuch Kazimiras, sich der Grube zur Verfügung zu stellen. | |
Sie will sich opfern? | |
So kann man das lesen. Aber es wird nicht ausbuchstabiert – und ist | |
natürlich rein fiktiv. Die Frauen wurden nicht gerettet, im Gegenteil: Der | |
Direktor des Bernsteinwerks, der sich in den Weg stellte, wurde selbst in | |
den Tod getrieben. | |
Die prußische Kultur gilt seit ungefähr 1700 als ausgestorben. Warum | |
spielen Sie im Roman darauf an? | |
Weil sie ein Politikum ist. Diese Kultur wurde durch die gewaltsame | |
Christianisierung durch den Deutschen Orden weitgehend zerstört. Der | |
Überfall auf die Sowjetunion 1941 setzte diese Ostkolonisation fort. Die | |
Prußin Kazimira ruft diese bis ins Mittelalter zurückreichende ungute | |
„Tradition“ in Erinnerung. | |
Das Buch reicht bis in die Gegenwart, seine Schauplätze sind heute teils | |
russisch. | |
Mich bewegt, wie die Menschen an der Annagrube heute mit den Trümmern der | |
Geschichte leben. Hinzu kommt, dass Misogynie im heutigen Russland ein | |
hochproblematisches Thema ist: Der Status der Frauen hat sich nach dem | |
[5][Zusammenbruch der Sowjetunion] nicht unbedingt verbessert. Vielmehr hat | |
er sich in eine patriarchale Form zurückverwandelt. | |
Wie zeigt sich das im Roman? | |
Durch die Figur Nadja, die immer noch in den Bernsteinbergwerken arbeitet. | |
Zu Sowjetzeiten war sie als gleichberechtigte Arbeiterin anerkannt. Heute | |
wird sie Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft – einerseits durch eine | |
Vergewaltigung, andererseits durch das Zurückdrehen ihrer Freiheiten. | |
Ein Wort zum Krieg in der Ukraine? | |
Er schmerzt mich zutiefst. Ich habe immer wieder längere Zeit in Russland | |
verbracht, Lesereisen in die Ukraine gemacht, ich habe in beiden Ländern | |
Freund:innen, und drei meiner fünf Bücher haben einen Russlandbezug. | |
Schipino, mein 2010 erschienener erster Roman, befasst sich mit der inneren | |
Emigration russischer Intellektueller. Schon in den 2010er Jahren wurde | |
klar, in welche Richtung sich die russische Politik entwickelt. Nicht ohne | |
Grund leben inzwischen viele russische Intellektuelle in Berlin. Die | |
westliche Politik hat da in den letzten Jahren viel verschlafen. Und auch | |
wir als westliche Intellektuelle und Kulturschaffende hätten eine | |
Verantwortung gehabt, uns den Problemen Osteuropas noch mehr zu öffnen. | |
Wer privat Polen, Tschechen, Esten kannte, wusste um die Bedrohung. | |
Ja. Und jetzt müssen wir zusehen, wie das umgesetzt wird, was unter anderem | |
der [6][Nationalist Alexander Dugin] seit Jahren propagiert – den Versuch | |
einer großen slawischen Reconquista. Mich macht das fertig. Ich weiß von | |
vielen Freundschaften zwischen Ukrainern und Russen, von Ehen und | |
Arbeitsbeziehungen, die jetzt zerstört werden. Wir wohnen der sinnlosen | |
Zerstörung von Leben und wirklich vielfältiger Kultur bei. Die Ukraine war | |
immer auch in sich ein kleines Europa. | |
14 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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