| # taz.de -- Nachwirkungen der Sowjetunion: Hier spricht Moskau | |
| > 30 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR ist Russlands Einfluss noch weithin | |
| > spürbar. In Russland selbst wirkt das sowjetische Erbe bis in die | |
| > Gegenwart. | |
| Ob in Kiew, Tiflis oder Jerewan: Millionen Bürger*innen der Sowjetunion | |
| klebten so erwartungsvoll wie ängstlich an ihren Radiogeräten, wenn es | |
| hieß: „Wnimanie, govorit Moskwa!“ – „Achtung, hier spricht Moskau!“ … | |
| diese getragene pathetische Ankündigung erklang, gab es stets Bedeutendes | |
| zu vermelden: sei es ein Erfolg der Roten Armee im Großen Vaterländischen | |
| Krieg, die Übererfüllung des Plans bei der Kartoffelernte im Kolchosbetrieb | |
| „Roter Oktober“ oder Juri Gagarins weltweit erster Ausflug ins All. | |
| „[1][Wnimanie, govorit Moskwa!]“, das war die Stimme des Kreml schon zu | |
| Zeiten von Josef Stalin bis hin zur Ära von Michail Gorbatschow. Die Stimme | |
| des Machtzentrums eines Riesenreichs, das für ewig währen sollte. Doch dann | |
| kam alles anders – das, was Russlands Präsident Wladimir Putin Jahre später | |
| als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen | |
| sollte. | |
| Am 25. Dezember 1991 hielt [2][Michail Gorbatschow], der vielen seiner | |
| Landsleute als Totengräber der UdSSR gilt, seine letzte Fernsehansprache | |
| als Staatsoberhaupt. „Aufgrund der sich verkomplizierenden Situation beende | |
| ich meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR“, sagte er. Wenige Stunden | |
| später wurde die rote Fahne eingeholt und die russische Trikolore auf dem | |
| Kreml gehisst. Fortan war die Sowjetunion Geschichte. „Wnimanie, govorit | |
| Moskwa?“ | |
| Die Stimme Russlands wurde leiser, aber sie verstummte nicht. An die Stelle | |
| der Sowjetunion traten 15 neue Staaten. Russland, Belarus und die Ukraine | |
| gründeten die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die auch anderen | |
| ehemaligen Unionsrepubliken offenstehen sollte. Doch die Freude über die | |
| Unabhängigkeit und eine vermeintlich gewonnene Freiheit währte nicht lange. | |
| Die Wirtschaft kollabierte, Zigtausende Betriebe wurden stillgelegt. | |
| ## Der Rubel stürzte ab | |
| Der sowjetische Rubel, der in neue nationale Währungen umgetauscht werden | |
| musste, stürzte ins Bodenlose. Die Menschen verfeuerten ganze Geldbündel in | |
| ihren Öfen oder überließen die Banknoten ihren Kindern als Spielzeug. | |
| Millionen verloren ihre Ersparnisse. Es gab keine Heizung, Strom und Wasser | |
| nur wenige Stunden am Tag. Eine Badewanne diente als Wasserspeicher, in | |
| jeder Familie mutierte jemand über Nacht zu einem Meister für die | |
| Herstellung von Kerzen. | |
| Brot war nur gegen Vorlage einer Lebensmittelkarte erhältlich, die die | |
| Behörden pro Person ausgaben. Die wirtschaftliche Misere ging einher mit | |
| einem erwachenden Nationalbewusstsein: Dazu gehörte eine Rückbesinnung auf | |
| ihre Landessprache, die die Menschen nicht mehr dem vielfach als | |
| aufgezwungen empfundenen Russischen unterordnen wollten. Auch Kultur, | |
| Traditionen sowie die Religion wurden als Teil der eigenen Identität | |
| wiederentdeckt. Vorher hatte es nur einen Glauben gegeben – den an den | |
| Kommunismus. | |
| Das war auch ein Grund dafür, dass sich die viel gepriesene Brüderlichkeit | |
| und Freundschaft in Hass verwandelten. Und letztendlich zu Kriegen zwischen | |
| Völkern führten, die doch „unter einer Sonne“ gelebt hatten, wie es im | |
| Volksmund so schön hieß. Schon Anfang der 90er Jahre kam es in der | |
| Republik Moldau zu ersten militärischen Auseinandersetzungen um die | |
| abtrünnige Region Transnistrien. | |
| ## Brüderlichkeit wurde zu Hass | |
| Ähnliche Szenarien wiederholten sich im Südkaukasus, im ersten Krieg | |
| zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach sowie in Georgien. | |
| Dort versuchte Tiflis die Absetzbewegungen von Südossetien und Abchasien | |
| mit Waffengewalt zu stoppen. Und heute, 30 Jahre danach? „Wnimanie, govorit | |
| Moskwa!“, tönt es, und zwar lauter und entschlossener denn je. Keiner | |
| dieser territorialen Konflikte ist gelöst. In Transnistrien, das der | |
| Kontrolle Moldaus entzogen ist, sind immer noch russische Truppen | |
| stationiert. | |
| Dasselbe gilt für Südossetien, das im August 2008 zum Schauplatz eines | |
| fünftägigen Krieges zwischen Russland und Georgien wurde. Auch hier hat | |
| Russland de facto das Kommando. Die Erbfeindschaft zwischen Armenien und | |
| Aserbaidschan entlud sich im vergangenen Jahr wieder mit voller Wucht. Der | |
| [3][44-tägige Krieg] kostete insgesamt über 6.000 Menschenleben und machte | |
| Zehntausende zu Flüchtlingen. | |
| Den für Armenien demütigenden Waffenstillstand mit großen Gebietsverlusten | |
| handelte Moskau aus, 2.000 russische Soldaten sollen ihn durchsetzen. | |
| Hinzugekommen ist eine maßgeblich von Moskau ausgelöste Dauerkrise in der | |
| Ukraine. 2014 annektierte Russland im Handstreich die Halbinsel Krim. Kurz | |
| darauf begann in der Ostukraine ein Krieg zwischen prorussischen | |
| Separatisten und der ukrainischen Armee, der über 13.000 Tote gefordert hat | |
| und bis heute andauert. | |
| Derzeit stehen über 100.000 russische Soldaten an der Grenze zum | |
| Nachbarland, und es nicht ausgeschlossen, dass sie in die Ukraine | |
| einmarschieren. Dieses Katz-und-Maus-Spiel oder, anders gesagt, die | |
| Aufrechterhaltung des konfliktären Status quo dient der Führung in Moskau | |
| dazu, weiter Einfluss auf die früheren Satelliten zu nehmen beziehungsweise | |
| ihn zurückzugewinnen mit dem vorrangigen Ziel, deren Hinwendung zum Westen | |
| zu verhindern. | |
| ## Putin findet Verbündete | |
| Denn der Kreml, dessen Rhetorik zusehends aggressiver wird, nimmt für sich | |
| in Anspruch, ein Zugriffsrecht auf die Ex-Sowjetrepubliken zu haben und | |
| historische Entwicklungen, wenn möglich, zu revidieren. Die größte | |
| geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts …? Eben. Zumindest, was die | |
| politischen Führungen im „nahen Ausland“ angeht, findet Wladimir Putin bei | |
| seinen Bemühungen so einige Brüder und Schwestern im Geiste. Der KGB lässt | |
| grüßen. | |
| In Belarus ist der Geheimdienst, der immer noch so heißt, mindestens so | |
| mächtig wie zu Sowjetzeiten: bespitzeln, Angst schüren, manipulieren, | |
| erpressen, Jagd auf vermeintliche „Staatsfeinde“ machen – das ganze | |
| Programm. Nicht zuletzt diese Handlanger sind es auch, dank deren sich | |
| Präsident Alexander Lukaschenko nach 27 Jahren immer noch an der Macht | |
| hält. | |
| Auch Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan, im Zuge der Samtenen | |
| Revolution 2018 zum Symbol für demokratische Veränderungen und ein Ende des | |
| Polizeistaates stilisiert, nutzt die ortsansässigen „Schlapphüte“ gnadenl… | |
| für den eigenen Machterhalt. Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren wechselte | |
| er fünfmal den Chef des Nationalen Geheimdienstes aus. Loyalität geht eben | |
| über alles. | |
| Georgien, unter dem „Helden“ der Rosenrevolution von 2003 und ehemaligen | |
| Präsidenten Michail Saakaschwili vermeintlich auf strammem Kurs in Richtung | |
| EU und Nato, hat die sowjetische Vergangenheit ebenfalls eingeholt. Ein | |
| rechter Mob, der im vergangenen Sommer am Rande einer Pride [4][Jagd auf | |
| LGBTQ-Aktivist*innen] machte, war immer schon vor deren Eintreffen an Ort | |
| und Stelle. Wer da Schützenhilfe geleistet hatte, liegt auf der Hand. | |
| ## Der Homo sovieticus lebt | |
| Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ findet auch nichts dabei, mit dem | |
| aserbaidschanischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten beziehungsweise diesen | |
| zumindest gewähren zu lassen. So geschehen im Fall des nach Georgien | |
| geflohenen aserbaidschanischen regimekritischen Journalisten [5][Afgan | |
| Mukhtarli], der 2017 am helllichten Tag in Tiflis entführt und nach Baku | |
| verschleppt wurde. Eine Hand wäscht die andere, auch wenn es die eines | |
| Autokraten ist. | |
| Doch auch in der Bevölkerung wirkt das sowjetische Erbe nach. Kurzum: Der | |
| Homo sovieticus hat überlebt und er lebt weiter. Für viele Ältere, die nie | |
| ein anderes System kennen gelernt haben, brachten die tiefgreifenden | |
| Veränderungen seit 1991 Instabilität, Unsicherheit und einen | |
| wirtschaftlichen Abstieg mit sich. Die Transformation, deren Ausgang | |
| ungewiss ist, wird vor allem mit Chaos assoziiert. Selbst Entscheidungen zu | |
| treffen haben die Leute nicht gelernt. | |
| Dafür ist der Staat beziehungsweise sind die Regierenden zuständig, die mit | |
| der Gesellschaft, so die Wahrnehmung, nichts zu tun haben. „My i vlast“ – | |
| „wir und die Macht“ lautet die Zauberformel, die bis heute gültig und immer | |
| noch überall zu hören ist. Aber auch viele Vertreter*innen der jungen | |
| Generation sind diesem Geist verhaftet. Im Zweifel braucht es eben die oft | |
| und gern zitierte „harte Hand“. | |
| So erreichte die neue Partei „Bürgerentscheid“ in Armenien, ein | |
| Sammelbecken für Aktivist*innen unterschiedlicher Couleur, bei den | |
| letzten [6][armenischen Parlamentswahlen] im Juni 2021 gerade einmal 0,3 | |
| Prozent. Wohin die Reise gehen wird, ist unklar. Doch die Perspektiven sind | |
| düster – zumindest für diejenigen, die demokratische Reformen wollen, sich | |
| couragiert dafür einsetzen und, wie in Belarus, einen hohen Preis dafür zu | |
| zahlen bereit sind. | |
| In Staaten wie beispielsweise der Ukraine, Georgien und Armenien ist eine | |
| Generation von neuen Politiker*innen nicht in Sicht. Diejenigen, die | |
| vielleicht das nötige Rüstzeug dafür hätten, etwa durch ein Studium im | |
| westlichen Ausland, bleiben vielfach ihrer Heimat fern – sei es aus | |
| Ermangelung an geeigneten Betätigungsfeldern oder weil sie bereits ihr | |
| Scheitern angesichts des Beharrungsvermögens der „alten Garde“ vor Augen | |
| haben. | |
| Und dann ist da auch noch der große Bruder. Derzeit deutet wenig bis gar | |
| nichts auf einen baldigen Regimewechsel in Russland hin. Solange jedoch im | |
| Kreml Machthaber sitzen, deren Bestrebungen darauf ausgerichtet sind, zu | |
| alter Größe zurückzukehren, und das um jeden Preis, wird Moskau nolen | |
| volens im einstigen Imperium ein gehöriges Wort mitzureden haben. Wie heißt | |
| es doch so schön: „Wnimanie, govorit Moskwa!“ Dieses Radioprogramm wird | |
| noch so einige Folgen ausstrahlen. | |
| 25 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=iw8o0uZ2hck | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=LLH5F57Rx6c | |
| [3] /Militaerparade-in-Aserbaidschan/!5730525 | |
| [4] /Gewalt-gegen-Queers-in-Georgien/!5780619 | |
| [5] https://globalvoices.org/2020/03/27/an-interview-with-afgan-mukhtarli-abduc… | |
| [6] /Parlamentswahl-in-Armenien/!5777415 | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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