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# taz.de -- Lage in der Ukraine: Der Zermürbungskrieg
> Kurz vor den US-Wahlen ist die militärische Lage der Ukraine unsicher.
> Indessen bekommt Russland Unterstützung durch Tausende Soldaten aus
> Nordkorea.
Bild: Wie lange noch und zu welchem Preis? Ein Gebäude in Kyjiw nach einem Dro…
Der Oktober war für die Ukraine ein Monat voller Herausforderungen. Die
Lage an der Front ist schwierig, die Regierung macht militärische und
politische Fehler, der tägliche Beschuss und die [1][Aussicht auf
Stromausfälle im Winter] haben große Auswirkungen auf die Moral. Der Krieg
dauert nun schon sehr lange und die Erschöpfung fordert ihren Tribut.
Allzu sehr erwarteten manche, Präsident Wolodymyr Selenskyj würde [2][mit
seinem „Siegesplan“ ein magisches Rezept erfinden], um die
Kriegsmaschinerie des Kremls ohne große Anstrengungen der Partner zu
stoppen. Er präsentierte den Plan zuerst in Washington, dann in Europa und
schließlich im ukrainischen Parlament. Die eher verhaltene Reaktion darauf
war eine kalte Dusche.
Selenskyjs Plan löste keine große Euphorie aus, da er lediglich die
Schritte systematisiert, die die Ukraine in den letzten zweieinhalb Jahren
bereits mehrfach als Weg zum Frieden geäußert hat – Nato-Beitritt,
Lieferung aller heute notwendigen Waffen und Abschreckungsmittel für die
Zukunft.
Was wirklich neu war und zum ersten Mal geäußert wurde, waren die
Bereitschaft des ukrainischen Militärs, nach dem Krieg die US-Truppen in
Europa zu ersetzen, und die Forderung, die natürlichen Ressourcen der
Ukraine für eine zukünftige gemeinsame Nutzung zu schützen. Der Schlüssel
zu diesen Schritten bleibt die formelle Einladung der Ukraine in die Nato,
um ein klares Signal an Wladimir Putin zu senden.
## Die US-Wahlen verlangsamen alles
Doch auch wenn diese Schritte aus militärischer Sicht durchaus logisch
erscheinen, haben die wichtigsten Partner – die USA und Deutschland – keine
Eile, eine solche politische Entscheidung zu treffen. Alle warten die
Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahlen ab. Die Unsicherheit über die
weitere Unterstützung des Landes durch die USA ist in der Ukraine deutlich
zu spüren. Es ist offensichtlich, dass die Demokratische Partei beschlossen
hat, im Wahlkampf keine lauten Aussagen zur Ukraine zu machen, und Donald
Trumps Äußerungen zur Beendigung des Krieges stimmen bisher wenig mit der
Vision der Ukrainer überein.
Eines ist sicher: Nach den Wahlen könnte sich das Tempo der
Waffenlieferungen an die Ukraine weiter verlangsamen. So hat US-Präsident
Joe Biden die Lieferung von JASSM-Langstreckenraketen, die für den
effektiven Einsatz von F16-Kampfflugzeugen notwendig sind, noch nicht
genehmigt. Auch hat er die westlichen Waffen nach wie vor nicht für den
Angriff auf Militärziele auf russischem Territorium zugelassen, von denen
die ukrainische Seite den Partnern eine Liste vorgelegt hat.
Verspätete Waffenlieferungen, verzögerte Entscheidungsfindung und das
Fehlen einer westlichen Vision gehören zu den Hauptgründen, warum sich der
Zermürbungskrieg in die Länge zieht. Die Strategie „Die Ukraine darf nicht
verlieren und Russland darf nicht gewinnen“ ist weder zielführend noch
realistisch. Russland, der Iran und Nordkorea, zweifellos mit Billigung
Chinas, treten als geschlossene Front gegen die Ukraine auf. Die Allianz
der autoritären Staaten macht sich nicht nur lustig über die westlichen
Demokratien, sondern zeigt ganz offen ihre Schwäche auf, sich gegen äußere
und innere Bedrohungen zu verteidigen. Die russische Armee nutzt diese
Schwäche direkt auf dem Schlachtfeld in der Ukraine aus.
Im Oktober machte die russische Armee die schnellsten Vorstöße seit den
ersten Kriegswochen und besetzte 470 Quadratkilometer ukrainischen
Territoriums, darunter die Großstädte Wuhledar, Selidowe, Nowohrodiwka,
Otcheretyne, Hirnyk, Ukrajnsk und Dutzende weiterer Dörfer. Die russischen
Truppen haben ihre taktischen Offensiven in vielen Richtungen gleichzeitig
wieder aufgenommen.
## Russischer Durchbruch in Pokrowsk
Im Gebiet Charkiw rücken die Russen auf die Stadt Kupjansk vor, die bereits
2022 einige Monate unter ihrer Kontrolle war. Ihr unmittelbares Ziel ist
es, das Ufer des Flusses Oskil zu erreichen und dort Fuß zu fassen. Die
Grenzstadt Wowtschansk im Norden der Region wurde von russischen Bomben
völlig zerstört, aber die ukrainische Armee konnte die Offensive dort
stoppen.
Am schwierigsten ist die Lage nach wie vor in der Region Donezk, wo von
einst 1,9 Millionen Menschen nur noch 340.000 dort leben. Während die
ukrainische Armee den russischen Vormarsch bei Siwersk auf dem Weg zu den
Großstädten Slowjansk und Kramatorsk sowie bei Tschasiw Jar stoppen konnte,
gelang den russischen Streitkräften im weiteren Verlauf ein Durchbruch.
Toretsk ist bereits zur Hälfte unter russischer Kontrolle. Die Eroberung
der Stadt Wuhledar, einer wichtigen Anhöhe in der Region, sowie der Stadt
Hirnyk, die ebenfalls auf einer Anhöhe liegt und von den Ukrainern nicht
nur für den Abschuss von Drohnen, sondern auch für den Funkverkehr genutzt
wurde, öffnet den Weg nach Kurachowe. Die Einnahme von Kurachowe, um das
bereits blutige Kämpfe im Gange sind, wird den Verlust der Kontrolle der
ukrainischen Streitkräfte über den gesamten Süden der Region Donezk und
ihren Rückzug an die Grenze der Region Dnipro bedeuten.
Der größte Durchbruch gelang den Russen in Richtung der nur etwa zehn
Kilometer entfernten Stadt Pokrowsk. Die Stadt ist ein wichtiger
logistischer Knotenpunkt für die ukrainische Armee. Außerdem befindet sich
in Pokrowsk das einzige Bergwerk der Ukraine, das Kokskohle abbaut, die für
die Stahlproduktion unerlässlich ist. Die Ukraine müsste ihre
Stahlproduktion um die Hälfte reduzieren, wenn die Besatzer dieses Bergwerk
einnehmen. Obwohl sich der direkte russische Vormarsch verlangsamt hat,
gehen Experten davon aus, dass die Schlacht um Pokrowsk noch vor dem Winter
beginnen wird.
## Ein zweiter Staat an Russlands Seite
Neben dem seit Langem bekannten Problem des Munitionsmangels hat die
ukrainische Seite eine Reihe von Fehlern bei der Vorbereitung der
Verteidigungslinien gemacht, die es den zahlenmäßig deutlich unterlegenen
Russen ermöglicht haben, die Front zu durchbrechen. Ein weiteres
gravierendes Problem auf ukrainischer Seite ist die oft unkoordinierte
Führung der Truppen vor Ort. Hinzu kommt ein drastischer Personalmangel.
Die Soldaten, erschöpft von zwei Jahren harter Kämpfe, können nicht für
eine Rotation oder eine kurze Pause und Erholung ausgewechselt werden. Die
ukrainische Militärführung will nun weitere 160.000 Soldaten mobilisieren,
um die Einheiten wenigstens zu 85 Prozent zu besetzen.
Vor diesem Hintergrund hat die russische Armee auch eine Offensive in der
russischen Region Kursk gestartet, wo die Ukraine seit mehr als zwei
Monaten rund 1.000 Quadratkilometer unter ihrer Kontrolle hält, und unter
erheblichem Kräfteeinsatz einen Teil des Gebietes zurückerobert. Nach
offiziellen Angaben sind auf ukrainischer Seite mehr als zehn Brigaden an
der Operation Kursk beteiligt. Kritiker bezweifeln die Sinnhaftigkeit
dieser Operation auf russischem Gebiet angesichts der Lage im Donbas.
Andere verweisen auf die Bedeutung asymmetrischer Aktionen, bei denen die
Einnahme russischer Gebiete Teil eines größeren militärischen Plans sein
könnte.
Gleichzeitig meldet der ukrainische Militärgeheimdienst, dass bereits
[3][mehrere tausend nordkoreanische Soldaten] in der Region Kursk
eingetroffen seien. Darunter sollen sich auch mehrere hundert Offiziere
befinden, was darauf hindeuten könnte, dass sie als selbständig operierende
Einheiten eingesetzt werden sollen – zum Beispiel, um bereits von den
Russen zurückeroberte Gebiete zu halten und so Tausende russische Soldaten
für weitere Offensivoperationen freizusetzen. „Das ist de facto bereits die
Beteiligung eines zweiten Staates am Krieg gegen die Ukraine an der Seite
Russlands“, sagte kürzlich Selenskyj. Offensichtlich hat Wladimir Putin den
Moment genutzt, in dem sich die USA auf den Wahlkampf konzentrieren.
Nicht zuletzt setzt die russische Armee ihre täglichen Raketen- und
Drohnenangriffe auf ukrainische Städte fort. Allein in der vergangenen
Woche wurden 1.100 gelenkte Luftbomben, mehr als 600 Angriffsdrohnen und
mehr als 20 Raketen verschiedener Typen auf das Land abgefeuert. Die Städte
Cherson, Sumy und Charkiw werden mehrmals täglich angegriffen. Im
Durchschnitt werden in der Ukraine täglich etwa ein Dutzend Menschen durch
Beschuss getötet und Dutzende verletzt, regelmäßig sind auch Kinder unter
den Opfern.
Es ist ein Zermürbungskrieg. Eine völlige Erschöpfung der einen oder
anderen Seite ist jedoch noch nicht abzusehen, sodass trotz der schwierigen
Lage noch nicht von einer bevorstehenden Niederlage oder einem Ende des
Krieges gesprochen werden kann. Pawlo Palisa, Kommandeur der 93. Brigade
der ukrainischen Streitkräfte, die seit drei Jahren im Donbass im Einsatz
ist und unter anderem um die Stadt Bachmut gekämpft hat, meint: „Frieden
und Sieg sind sehr unterschiedliche Konzepte. Wenn wir die Hälfte der
Ukraine verlieren, ist das kein Sieg. Ein solcher Frieden ist nur eine Zeit
vor dem nächsten Krieg.“
30 Oct 2024
## LINKS
[1] /Nach-russischen-Angriffen-auf-Stromnetz/!6039881
[2] /Selenskyj-mit-Siegesplan-in-der-EU/!6040197
[3] /Nordkorea-an-der-Seite-Russlands/!6045209
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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