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# taz.de -- Bildungsforscher über Zukunft der Kinder: „Bitte nicht länger i…
> Viele Jahre wurde versäumt, die Position von Kindern zu stärken, sagt
> Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani. Er hat Ideen, wie man es besser
> machen kann.
Bild: Aladin El-Mafaalani plädiert für eine Gesellschaft, die kindergerecht u…
taz: Herr El-Mafaalani, angenommen Sie sind ein 14-jähriges Kind namens
Aladin. Als künftige Kanzler werden Olaf Scholz und Friedrich Merz
gehandelt. Also zwei Politiker im Rentenalter, die über die Zukunft des
Landes bestimmen wollen. Was denken Sie?
Aladin El-Mafaalani: Dem Kind wird sicher aufgefallen sein, dass es im
Wahlkampf überhaupt nicht um Kinder geht, und die recht angespannten
Verhältnisse, in denen sie und ihre Familien gerade aufwachsen, keine Rolle
spielen.
taz: Stimmt. Die Debatten drehen sich vor allem um Abschiebungen und
Wirtschaft. Ist es ein Problem, dass Kinder politisch überhaupt nicht
repräsentiert sind?
El-Mafaalani: Das waren sie ja noch nie. Die Idee ist eher, dass Eltern
ihre minderjährigen Kinder durch ihr Wahlverhalten mitdenken. Nur sind die
Eltern heute selbst nur eine relativ kleine Gruppe unter den
Wahlberechtigten. Und viele können hier gar nicht wählen, weil sie keine
deutsche Staatsangehörigkeit haben.
taz: Im Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ beschreiben Sie gemeinsam
mit zwei weiteren Soziologen, wie Kinder in der alternden Gesellschaft
chronisch vernachlässigt werden. Sie bezeichnen sie als strukturelle
Außenseiter. Wie ist das zu verstehen?
El-Mafaalani: Unsere Gesellschaft ist nicht kindergerecht und nicht gerecht
zu Kindern. Sie ist an den Bedürfnissen von Erwachsenen ausgerichtet. Neu
ist, dass Kinder in der alternden Gesellschaft zu einer Minderheit geworden
sind, genauso wie ihre Eltern. Kinder werden nicht gehört und sie werden
leicht übersehen, alleine, weil sie so wenige sind.
taz: Welche Folgen hat das?
El-Mafaalani: In einer alternden Gesellschaft ist es zwingend, Kinder viel
besser zu fördern. Denn auf sie warten ja die größten Herausforderungen,
wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Aber zuallererst müssen
wir verstehen, dass es hier ein großes Problem gibt.
taz: Es wird doch seit Jahrzehnten über Probleme diskutiert, wie zum
Beispiel, dass unser Bildungssystem ungerecht ist. Wir wissen: Der
Bildungserfolg hängt in einem hohen Maß vom Elternhaus ab.
El-Mafaalani: Ja, aber es ist doch erstaunlich: Kinder werden als
Bevölkerungsgruppe immer kleiner, trotzdem verschlechtert sich alles. Die
Bildungsergebnisse sind in allen Studien rückläufig, in der Grundschule, in
der weiterführenden Schule, in allen Stufen, in allen Bundesländern. Das
betrifft selbst Kinder aus privilegierten Familien, benachteiligte Gruppen
trifft es nur noch härter. Unser System stürzt ab. Aber es gibt keinen
Aufschrei. Das muss man erst mal zur Kenntnis nehmen.
taz: Wo zeigt sich dieser Absturz?
El-Mafaalani: Wir haben zu wenige Kitaplätze und Schulplätze. Obwohl wir
historisch betrachtet so wenig Kinder wie noch nie haben, können wir nicht
einmal die Schulpflicht in allen Bundesländern vollständig umsetzen. Es
gibt viele Tausend Kinder, die im schulpflichtigen Alter sind und keinen
regulären Schulplatz haben. Unsere Intuition würde doch sagen: Bei wenigen
Kindern können wir uns umso besser um sie kümmern. Wir müssten sie auch
wesentlich besser vor Armut schützen können. Aber stattdessen haben Kinder
ein [1][außergewöhnlich hohes Armutsrisiko].
taz: Die zerbrochene Ampelregierung [2][wollte eigentlich eine
Kindergrundsicherung] einführen, um mehr Kinder vor Armut zu schützen. Das
Vorhaben scheiterte. Die Diskussion drehte sich fast nur um die
Finanzierung, nach dem Motto: nette Idee, aber zu teuer.
El-Mafaalani: Ich glaube, das Problem war nicht die Finanzierung.
taz: Ach nein?
El-Mafaalani: Natürlich wurde über die Finanzierung gestritten, darüber, ob
es jetzt 2 oder 12 Milliarden Euro sein sollen. Aber es gab einen weiteren
Konflikt dahinter. Einerseits gibt es eine hohe gesellschaftliche
Zustimmung dazu, Kinder vor Armut abzuschirmen, andererseits gibt es keinen
Konsens darüber, dass der Haushalt, in dem ein Kind aufwächst, nicht arm
sein sollte. Manche wollen doch, dass die Eltern arm bleiben, damit zum
Beispiel Anreize bestehen bleiben, dass sie arbeiten gehen. Diesen
Widerspruch hätte man stärker thematisieren müssen.
taz: Die Kinder sollen nicht arm sein, aber die Eltern schon? Lässt sich
dieser Widerspruch überhaupt auflösen?
El-Mafaalani: Nur schwer. Kinder sind arm, weil ihre Familie arm ist.
Gleichzeitig ist das Armutsrisiko von Erwachsenen durch die Geburt eines
Kindes erhöht. Deshalb ist es ein paradoxes Vorhaben, nur Kinder von Armut
abzuschirmen. Man könnte zumindest eine Strategie forcieren, dass Kinder
dort, wo sie sich überwiegend aufhalten, in der Kita, in der Grundschule
und in den Ganztagsschulen, traumhaft versorgt sind. Aber das sehe ich auch
nicht.
taz: Bräuchte es eine Elterngrundsicherung oder mehr Geld für Bildung? Und
wo genau müsste dieses Geld investiert werden?
El-Mafaalani: Das sind zwei Bereiche, die beide sinnvoll sind. Die Familien
sollten genauso unterstützt werden wie die Bildungsinstitutionen. Es sind
die beiden Orte, an denen Kinder die meiste Zeit verbringen.
taz: Auch die Zusammensetzung der Kinder hat sich stark verändert. Im Buch
schreiben Sie von der „Generation superdivers“. Was ist damit gemeint?
El-Mafaalani: Zum Vergleich: Bei Menschen im Rentenalter haben unter 15
Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund. Diese Menschen kommen aus
relativ wenigen Ländern und sie sind fast alle nicht in Deutschland
geboren. Bei den Kindern hingegen sind es deutlich über 40 Prozent, sie
kommen aus fast allen Ländern der Welt, sie können selbst zugewandert sein
oder sind Teil der zweiten, dritten oder vierten Generation. Das heißt:
Immer mehr Kinder und Jugendliche kommen aus immer mehr Herkunftsländern
und Weltregionen. Sie sind quantitativ wenige, aber sie sind so divers wie
nie und damit auch so komplex wie keine andere Altersgruppe.
taz: Wie müssen denn Bildungsinstitutionen mit dieser Superdiversität
umgehen?
El-Mafaalani: Sie müssen sich fragen: Was muss ich über die Kinder wissen,
um sie optimal zu fördern? In einer Klasse werden vielleicht zehn Sprachen
gesprochen. Oder es gibt sechs religiöse Konfessionen, denen sich die
Kinder zugehörig fühlen. Die Kids können eine Duldung haben oder deutsche
Staatsbürger sein, reich oder arm. Die wichtigste Frage ist: Was muss eine
Institution können, um mit dieser großen Varianz konstruktiv umzugehen?
taz: Und? Was braucht es?
El-Mafaalani: Man kann sich zum Beispiel überlegen, ob ein
Verteilungsschlüssel von einer Lehrkraft auf 27 Kinder bei dieser
Diversität in der Grundschule noch zeitgemäß ist. Aber das ist nur die
langfristige Perspektive. Wir müssten die Erzieher und Lehrkräfte ja erst
mal ausbilden, und das würde erst in zehn Jahren etwas verändern. Um
diejenigen zu erreichen, die jetzt schon im System sind, ist es viel
entscheidender, dass wir die Funktion von Bildungsinstitutionen ganz anders
verstehen.
taz: Wie?
El-Mafaalani: Sie müssen einen Teil der Aufgaben, die klassischerweise der
Familie zugeschrieben werden, ersetzen. Wir haben einen großen Anteil an
Eltern, die ihren Kindern nicht so helfen können, wie es erforderlich wäre.
Weil sie gerade erst zugewandert sind, weil sie sehr arm sind, weil sie
krank sind, weil beide Eltern berufstätig sind. In einer alternden
Gesellschaft sind wir davon abhängig, dass beide Elternteile arbeiten. Die
Müttererwerbsquote sollte sich ja noch steigern, wenn wir die
Rentenversorgung und auch die Pflegeversorgung der alten Menschen
vernünftig organisiert bekommen wollen.
taz: Viele Schulen sind marode und schlecht ausgestattet, es gibt [3][zu
wenig Lehrkräfte], ständig fallen Stunden aus. Und jetzt sollen genau diese
Institutionen mehr Funktionen übernehmen? Das ist …
El-Mafaalani: Ich verstehe, was Sie meinen. Das ist genau das Problem.
Unser Bildungssystem war schon immer so schlecht, wie es jetzt ist, nur
haben sich die Herausforderungen verändert. Die Familien stehen stärker
unter Druck. In der Vergangenheit war es im westdeutschen Kontext ja so,
dass überwiegend die Mütter die Lücken des Systems geschlossen haben. Sie
waren ansprechbar für die Schule, für die Kinder, sie waren präsent. Unser
System basierte darauf, dass wir eine hohe Anzahl von Menschen im mittleren
Alter haben, die sich idealerweise um die Kinder gekümmert haben, bis sie
aus der Schule raus sind. Und dann später um die pflegebedürftigen Eltern.
Beides wird so nicht mehr funktionieren.
taz: Und das heißt?
El-Mafaalani: Wir müssen die Versorgung älterer Menschen zumindest zum Teil
davon entkoppeln, dass die Familien das regeln. Und die Versorgung der
Kinder auch. Das Unbehagen, das Sie in Bezug auf den Zustand der Schulen
haben, kann man ja genauso auf Pflegeeinrichtungen beziehen. Deswegen
müssen wir uns dringend systematische Gedanken machen.
taz: Wie können konkrete Lösungsvorschläge aussehen? Und wer muss sich
daran beteiligen?
El-Mafaalani: In unserem Buch beschreiben wir Community-Zentren. Dort
werden an einem Ort die Interessen und Bedarfe der Großelterngeneration,
der Eltern und der Kinder berücksichtigt. Das Konzept der „Caring
Communities“, das insbesondere auf die Versorgung Hochaltriger ausgerichtet
ist, haben wir erweitert und auch auf die Lage von Familien und Kindern
ausgerichtet. Und wir müssen auch über die Verantwortung von Rentnern
sprechen, insbesondere der großen Gruppe der Babyboomer. Sie sind viele und
sie sind kognitiv und körperlich so fit wie keine Generation vor ihnen. Auf
sie kann man nicht verzichten. Das gesellschaftliche Engagement dieser
Gruppe ist wesentlich, insbesondere in der Betreuung und Begleitung von
Kindern. Es ist also keineswegs unmöglich, die Lage von Kindern zu
verbessern.
taz: Leider geht es in diesen Debatten selten lösungsorientiert zu.
El-Mafaalani: Schauen Sie sich die Diskussionen in der Gesellschaft an.
Viele sagen, die Kinder von heute würden völlig verhätschelt. Wir reden
über Helikoptereltern, aber das ist so weit weg von der Realität vieler
Familien. Und über die großen Gefahren der Digitalisierung für Kinder und
Jugendliche sprechen wir auch kaum.
taz: Es wird aktuell diskutiert, Smartphones aus den Schulen zu verbannen.
El-Mafaalani: Studien zeigen, dass über die Hälfte der Kinder im
Grundschulalter ein Smartphone nutzt. In der weiterführenden Schule sind es
fast 100 Prozent. Wenn wir es [4][in der Schule verbannen], macht es die
Arbeit in der Schule einfacher. Aber was passiert außerhalb der Schule?
Kinder müssen einen Umgang damit lernen. Und wir müssen verstehen, dass die
digitale Welt ein Beruhigungsmittel für Kinder geworden ist.
taz: Wie meinen Sie das?
El-Mafaalani: Viele wissen nicht, dass es immer weniger Räume für Kinder
gibt, die sie frei nutzen können, wo sie sich entfalten können. Wir merken
das kaum, weil wir so gute digitale Ersatzangebote haben. Wenn digitale
Medien nicht so unfassbar attraktiv für Kinder sein sollen, mit all ihren
Gefahren, dann müssen wir viel mehr attraktive, analoge Möglichkeiten
schaffen. Die hohe Anziehungskraft des Digitalen hängt auch damit zusammen,
dass Kinder und Jugendliche in der analogen Welt an den Rand gedrängt
wurden.
taz: Von welchen Gefahren sprechen Sie?
El-Mafaalani: Dieses fehlende Angebot wurde allzu leicht [5][mit Tiktok
kompensiert]. Mit Verschwörungstheorien, mit Populismus. Lange hat außer
der AfD kaum eine Partei die jungen Leute angesprochen. Spätestens bei der
letzten Europawahl hat sich doch gezeigt, wie divers diese Generation ist.
Es wurden sehr linke und sehr rechte Parteien gewählt, außerdem sehr viele
Kleinstparteien. Es ist ein Riesendurcheinander. In diesem Aufwachsen im
Krisenzustand gibt es keine vernünftige Orientierung. Dass davon so viele
überrascht sind, zeigt doch nur, dass wir die jungen Leute nicht im Blick
haben.
taz: Was muss eine nächste Bundesregierung tun?
El-Mafaalani: Sie könnte sich mal überlegen, wie sie junge Menschen
ansprechen will.
taz: Wie macht man das, wenn alles so deprimierend ist?
El-Mafaalani: Im Prinzip gibt es zwei Varianten. Sie könnte etwa sagen: Wir
wissen, die letzten zehn Jahre waren scheiße für euch, aber die nächsten
werden deutlich besser. Das wäre eine Anerkennung der schwierigen Lage und
ein positives Signal für die Zukunft. Sollte man aber nicht davon ausgehen,
dass sich die Situation verbessern wird, dann müssen Kinder und Jugendliche
ins Zentrum aller Überlegungen gestellt werden. Sie müssen dann doch erst
recht so gut ausgestattet werden, dass sie die großen Herausforderungen,
die wir ihnen hinterlassen, bewältigen können. Ich wäre übrigens dafür,
beides zu machen. Wir müssen insgesamt stärker bedenken, dass sie in
Krisenzeiten aufwachsen, dass für sie der Ausnahmezustand zum Normalzustand
wird. Darf ich das mit einem Bild deutlich machen?
taz: Bitte.
El-Mafaalani: Wenn man auf hoher See ist und das Wetter ist sehr stürmisch,
kann man die Kinder unter Deck schicken und sagen: Haltet euch gut fest,
das dauert jetzt zwei Tage, ihr müsst stark sein, in zwei Tagen ist alles
wieder gut. Damit können Kinder zurechtkommen. Wenn aber dauerhaft
stürmische Zeiten erwartet werden, dann können wir die Kids nicht nach
unten schicken und ignorieren. Wir müssen dann alles an Bord so
organisieren, dass die Kinder eine vernünftig strukturierte Perspektive
bekommen – nicht obwohl, sondern gerade weil die Aussichten so schlecht
sind.
22 Feb 2025
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