| # taz.de -- Neuer Intendant an der Volksbühne Berlin: Der, der Widerstand aush… | |
| > Unter Frank Castorf war er Chefdramaturg und stellvertretender Intendant | |
| > der Volksbühne. Nun soll Matthias Lilienthal die dortige Leitung | |
| > übernehmen. | |
| Bild: Der neue alte Lenker der Geschicke mit festem Blick und Vision auf die Zu… | |
| Weißer Rauch über dem Rosa-Luxemburg-Platz. Wie Kulturstaatssekretär Joe | |
| Chialo (CDU) am Freitag verkündet, wird Matthias Lilienthal die Intendanz | |
| der Volksbühne Berlin ab der Spielzeit 2026/2027 übernehmen. Er tritt damit | |
| in die Fußstapfen des vor einem Jahr überraschend verstorbenen [1][René | |
| Pollesch]. Ein ganz Neuer ist Lilienthal freilich nicht, eher handelt es | |
| sich um eine Rückkehr. In den neunziger Jahren war er Chefdramaturg und | |
| stellvertretender Intendant unter Frank Castorf. | |
| Er hat also maßgeblich mitgewirkt am rebellischen Geist dieses Hauses, der | |
| einen auch viele Jahre nach Castorfs erzwungenem Abschied noch anweht. | |
| Lilienthal jedoch hat sich von diesem Geist nicht in gleicher Weise | |
| vereinnahmen lassen wie all jene, die irgendwann an diesem Haus als | |
| Künstler oder Zuschauer aufschlugen und es seither als ihre Heimat | |
| verstehen. | |
| Er ist kein Protegé der einflussreichen Angehörigen des verstorbenen | |
| Bühnenbildners Bert Neumann und auch kein Abgesandter der langjährig hier | |
| arbeitenden Schauspielenden wie etwa Martin Wuttke, Kathrin Angerer oder | |
| Sophie Rois. | |
| Während ihre Namen, nicht geringen Erfolgen an anderen Theatern sowie in | |
| Film und Fernsehen zum Trotz, sehr stark mit der Volksbühne assoziiert | |
| sind, hat Lilienthal sich seit seinem Abschied im Jahr 1998 emanzipiert. Er | |
| verantwortete seither erfolgreich Festivalprogramme, leitete von 2003 bis | |
| 2012 das Berliner HAU und übernahm 2015 die Münchner Kammerspiele, womit | |
| ein äußerst spannendes Experiment begann. Lilienthal – in Neukölln | |
| aufgewachsen, stets mit dem Fahrrad unterwegs, weite Jeans, wirres Haar – | |
| passte schon äußerlich nicht besonders gut an die schicke Maximilianstraße. | |
| ## Wiederholt sich die Geschichte? | |
| Mit so einem fremdelten sie dort ganz persönlich, und erst recht mit seinem | |
| Theater, das Abstand nahm vom fein ziselierten Schauspiel und dem Münchner | |
| Publikum stattdessen Performatives, Freieres und Offeneres zumutete. Am | |
| Anfang gab es viel Ärger, am frühen Ende seiner [2][nur fünfjährigen | |
| Intendanz] wollten sie ihn dann kaum gehen lassen. Lilienthal kann | |
| Widerstand aushalten, auch das qualifiziert ihn für den neuen Job. | |
| Denn man hat hier nicht vergessen, dass er [3][einst Chris Dercon als | |
| Intendant] ins Spiel brachte, jenen belgischen Kurator, den Presse, | |
| Publikum und Politik nach ein paar glücklosen Monaten mit Schimpf und | |
| Schande aus der Stadt jagten. Lilienthal selbst steht für vieles, womit | |
| Dercon damals programmatisch scheiterte: für Internationalisierung, | |
| Mehrsprachigkeit, eine Öffnung hin zu anderen Disziplinen, zu Tanz, | |
| Bildender Kunst und Kino. Droht hier nicht die Gefahr, dass sich die | |
| Geschichte wiederholt? | |
| Nein, weil Lilienthal anders als Dercon das Haus und die Stadt bestens | |
| kennt und sie – in ihren berechtigten Ansprüchen wie auch in ihren Neurosen | |
| – zu nehmen weiß. Vor allem aber wurde Dercons verhasstes Programm | |
| inzwischen längst von anderen durchgesetzt. | |
| Regisseurin Susanne Kennedy zieht hier seit Jahren ein Publikum an, das man | |
| sonst eher in den Galerien der Stadt antrifft, die Choreographin Constanza | |
| Macras war unter Pollesch eine feste Größe. Und [4][vor allem die | |
| österreichische Performancekünstlerin Florentina Holzinger], die zusammen | |
| mit der Choreographin Marlene Monteiro Freitas Teil der neuen | |
| künstlerischen Leitung sein wird, hat mit ihren feministischen Stuntshows | |
| viele Bewunderer gewonnen. | |
| Wie genau ihre Arbeit als künftiges „Artistic Board“ aussehen wird, muss | |
| noch ausgehandelt werden, klar sei aber, dass das Duo Holzinger-Monteiro | |
| Freitas dem in der Hauptstadt noch unterrepräsentierten Genre Tanz zu mehr | |
| Aufmerksamkeit verhelfen solle, formulierte es Lilienthal auf der | |
| Pressekonferenz in der Volksbühne. | |
| Alles in allem hat Lilienthal gute Startchancen und könnte der geeignete | |
| Mann sein, um die Volksbühne aus den Klauen ihrer eigenen Geschichte zu | |
| retten. Leicht wird das aber sicher nicht. Die Castorf-Ära wiegt nach wie | |
| vor sehr schwer, nach seinem Abschied geriet die Bühne in eine fortwährende | |
| Krise. Aktivisten besetzten das Haus und intrigierten im Hintergrund, | |
| während Corona wurde der Rosa-Luxemburg-Platz zum Betätigungsfeld | |
| politischer Sektierer, zwei Intendanten gingen vorzeitig, [5][einer starb | |
| viel zu jung.] | |
| Derart geschwächt war klar, dass das Haus in den Haushaltsverhandlungen mit | |
| dem Senat erhebliche Einschnitte erleiden musste. Mit Lilienthal, so die | |
| Hoffnung, kann es sich finanziell, strukturell und künstlerisch | |
| konsolidieren. Klar, er ist nicht die spannendste Wahl, schon weil er nicht | |
| selbst Regie führt. [6][Das Duo Vegard Vinge und Ida Müller] hatte im | |
| Herbst, als die [7][Kürzungen verkündet] wurden, bereits für ein Interim | |
| abgesagt. | |
| Der junge Regisseur Ersan Mondtag brachte sich zuletzt offensiv in | |
| Stellung, auch Florentina Holzinger hätten viele gern als Intendantin | |
| gesehen. Gegen die beiden spricht jedoch ihre mangelnde Erfahrung in der | |
| Leitung eines Hauses. Die Volksbühne ist zu wichtig, um sie den Künstlern | |
| allein zu überlassen. Mit Lilienthal kommt jetzt ein Profi, der das | |
| Adressbuch und die Sensibilität mitbringt, das Haus behutsam neu zu | |
| erfinden. | |
| 7 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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