| # taz.de -- Matthias Lilienthal zieht München-Bilanz: Im Moment der größten … | |
| > Leicht hatten es Matthias Lilienthal und die Münchner nicht miteinander. | |
| > Ein Rückblick auf fünf Jahre Intendanz an den Münchner Kammerspielen. | |
| Bild: Szenenbild aus „Wunde R“ mit Redetzki, Windischbauer, Löbau, Bozbay … | |
| Der alte Münchner Südfriedhof wurde 1563 für die Opfer der Pest gebaut. | |
| Heute zeigen wild wuchernde Pflanzen, dass das Lebendige stets über das | |
| Tote siegt und die Zeit über alles. Dies ist ein guter Ort, um während der | |
| Coronapandemie über fünf Jahre Münchner Kammerspiele zu reden – und einer, | |
| den Matthias Lilienthal sich wünscht. Hier hat er während des Shutdowns | |
| viel Zeit mit seiner kleinen Tochter verbracht. „Als die Spielplätze | |
| geschlossen waren, war auf jedem Grab ein spielendes Kind“, sagt der | |
| scheidende Intendant. | |
| Angesichts von Ewigkeitszeugnissen wie diesem werden fünf Jahre zu einem | |
| Fingerschnipsen und die Frage nach dem Erbe relativiert sich, über die | |
| Lilienthal zuletzt wiederholt gesagt hat, dass sie ihm angesichts der | |
| realen Bedrohung Tausender Leben und des Fortbestands der offenen | |
| Gesellschaft schnuppe sei. Ebenso schnuppe wie der vermurkste Abschied, | |
| der, sagt er, „zu einer sehr seltsamen Intendanz passt“. | |
| Coronas wegen sind die letzten Kammerspiel-Premieren ausgefallen. Zwei | |
| davon wurden nun nachgeholt. Just an dem Tag, an dem in Bayern die Theater | |
| öffneten, kamen die Uraufführung von Enis Macis „Wunde R“ und die | |
| Installation „Oracle“ auf die Bühne. | |
| Beide nicht für die (post-)pandemische Gesellschaft konzipiert, aber sehr | |
| gut von ihr aus zu lesen, weil sie – in hochartifizieller Formensprache – | |
| die Zerbrechlichkeit des Menschlichen thematisieren. Bei Felix | |
| Rothenhäuslers Inszenierung von „Wunde R“ sitzen vier starre Figuren um | |
| einen gläsernen Tisch, den ein Kreidekreis von 20 Zuschauern trennt. | |
| ## Overkills aus psychedelischen Farben und Formen | |
| Sie sprechen mit verfremdeten Stimmen von tragisch endenden weiblichen | |
| Vorbildern, dem Zwang zur körperlichen Selbstoptimierung, Schmink-Tutorials | |
| und der Absenz eines Wir-Gefühls, während vor ihnen perfekt geformte, | |
| quallenfarbene Törtchen schmelzen und ihnen gegen Ende als Eisschollen vor | |
| die Füße klatschen. Besagtes Ende kommt in „Wunde R“ coronaregelkonform | |
| nach einer Stunde. | |
| Der Gang zu Susanne Kennedys Orakel ist nur 35 Minuten kurz. Die Einsamkeit | |
| – ursprünglich wäre alle sechs Minuten ein Vierergrüppchen eingelassen | |
| worden, jetzt ist man alleine – verstärkt den Grusel bei der Begegnung mit | |
| den transhumanen Gestalten, die einen in Markus Selgs verschachtelter | |
| Rauminstallation freundlich lächelnd, aber mit brüchigen Stimmen und immer | |
| wieder aussetzender Atmung zu einem KI-Orakel geleiten, dem man drei Fragen | |
| stellen kann. | |
| Selgs Räume sind ein Overkill aus psychedelischen Formen und Farben. Beim | |
| Weg hindurch fühlt man sich wie in einer Mischung aus Geisterbahn, | |
| 3-D-Computerspiel, LSD-Trip und illustrem Initiationsritual. | |
| ## Keine Ersatz-Sause im Olympiastadion | |
| Diesen Reiz- und Wirkungs-Mash-up kennt man von Kennedy ebenso wie ihren | |
| über die Jahre intensivierten Flirt mit New-Age-Philosophien. Wobei in | |
| diesem Fall die Aufforderung zur Introspektion – das orakelte „Erkenne dich | |
| selbst!“ – und der überbordende Sinnesrausch einander an die Kandare | |
| nehmen. Reichlich bedröppelt fühlt sich der Live-Theater-Entwöhnte danach | |
| dennoch – und beeindruckt von dem Aufwand, der hier für vier | |
| Aufführungstage und eine Handvoll Besucher getrieben wurde. Länger zu | |
| spielen, geht wegen der Kurzarbeit, der beginnenden Proben von Lilienthals | |
| Nachfolgerin Barbara Mundel und der Vorbereitung der Abschiedsfeier am 11. | |
| Juli nicht. | |
| Lilienthals Herzensprojekt, eine 24-stündige Fahrt durch die ganze Stadt | |
| mit Stationen nach Roberto Bolaños Roman „2666“, ist „an einer Mischung … | |
| Zermürbungs-, Zeit- und Geldgründen gescheitert“, wie er ein wenig unwirsch | |
| sagt. Und die Ersatz-Sause im Olympiastadion, winkt er ab, ist gar keine. | |
| „Das wird ganz klein und ist eher der Versuch, ein paar Bilder von der | |
| Vereinzelung der Individuen in dieser Zeit zu zeigen.“ | |
| Das Ganze wird eine halbe Stunde dauern und hoffentlich mehr als die | |
| hundert Leute glücklich machen, die bis dato in bayerischen Theatern | |
| zugelassen sind. Das verwaiste Olympiastadion ist dafür groß genug – und, | |
| sagt der Intendant, „ein Lieblingsort der Münchner*innen und von mir“. | |
| Das ist schön, denn Lilienthal und die Münchner*innen hatten es nicht immer | |
| leicht miteinander. Da war der von vielen als arrogant empfundene Auftritt | |
| der Crew um ihn, seinen damaligen Chefdramaturgen Benjamin von Blomberg und | |
| Hausregisseur Nicolas Stemann als Heilsbringer für die Hinterwäldler, da | |
| wurde die Verquickung von freier Szene und Stadttheater zum Teil nassforsch | |
| forciert. In einer Sonderausgabe des Magazins „Das Wetter“ zum | |
| Kammerspiel-Abschied Lilienthals schreibt Josef Bierbichler dazu: „Er fiel | |
| auf den Boden wie ein Stern von einem anderen Stern und wurde entsprechend | |
| behandelt.“ | |
| ## „50 Grades of Shame“ | |
| Das Wort von den „Jammerspielen“ kursierte in der Presse, das alte | |
| Schauspieler- wurden gegen das vermeintlich neue, aber als dilettantisch | |
| verunglimpfte Performancetheater ausgespielt und falsche Oppositionen | |
| wurden aufgebaut. Und ja, vielleicht habe auch er anfangs einige | |
| Herausforderungen unterschätzt – wie etwa, was es bedeutet, wenn sieben | |
| Personen gleichzeitig an einem Stadttheater Regie führen. | |
| Aber Aussagen wie die eines SZ-Kritikers, She She Pops Produktion „50 | |
| Grades of Shame“ hätte ihm wohl gefallen, wenn er es in einer | |
| Freie-Szene-Spielstätte gesehen hätte, konnten Lilienthal nur bestärken. | |
| Denn sie denken die Ehrwürdigkeit der Institution Kammerspiele mit, deren | |
| „Entauratisierung“ seine Mission war. | |
| Diese Entauratisierung hat einige abgeschreckt und ein neues Publikum | |
| angezogen. Popkonzerte und politische Diskussionen im großen Haus, arabisch | |
| sprechende Performer, junge, internationale Regisseure – das zu etablieren | |
| braucht Zeit. Lilienthal und die CSU-Fraktion im Stadtrat haben sie | |
| einander nicht gegeben. 2018 verkündete er seinen Abschied für 2020. Danach | |
| kam der Erfolg. | |
| Er selbst spricht von drei „Kipppunkten“, die den Erfolg eingeleitet haben. | |
| Der erste war der Versuch der CSU, den Kammerspielen das | |
| Demonstrationsrecht gegen rechts abzusprechen, dem eine | |
| Solidarisierungswelle folgte. Der zweite war der erfolgreiche Auftakt der | |
| vierten Spielzeit, vor allem mit Christopher Rüpings elfstündigem | |
| Antikenprojekt „Dionysos Stadt“, das vielen den Glauben an die | |
| gemeinschaftsstiftende Kraft des Theaters wiedergab, und, als dritter | |
| Punkt, in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute für die | |
| Auszeichnung als Theater des Jahres, die für einen wahren Chart-Sturm | |
| sorgte. | |
| ## Lilienthal bald zurück in Berlin | |
| Lilienthal kennt diese Ehre von seiner Zeit an der Berliner Volksbühne und | |
| dem HAU. Doch „die Bedeutung war in München viel größer. Seit diesem | |
| dritten Umschalterlebnis hat sich das Verhältnis der Stadt zu uns komplett | |
| geändert. Und jetzt bricht das Experiment im Moment der großen Liebe ab.“ | |
| Vielleicht ist Liebe ein zu großes, zu plüschiges Wort für das Verhältnis | |
| der Münchner zum Mann aus Berlin. Doch 85 Prozent Platzauslastung sind | |
| nicht übel. Und ein Saisonbeginn mit Arbeiten von Toshiki Okada, [1][Anta | |
| Helena Recke], Florentina Holzinger und den im Juli wieder auf den | |
| Spielplan zurückkehrenden wilden „Räuberinnen“ Leonie Böhms boten Spaß … | |
| produktive Reibungsflächen. In dem diversen Ensemble sind einem viele junge | |
| Schauspieler wie Julia Riedler, Damian Rebgetz oder Thomas Hauser sehr ans | |
| Herz gewachsen. | |
| Und noch? „Total gut aufgegangen ist“, sagt Lilienthal selbst, „ein | |
| deutschsprachiges Stadttheater als Mogelpackung aufzubauen, weil auf den | |
| Proben locker zu fünfzig Prozent Englisch gesprochen worden ist. Und dass | |
| wir gezeigt haben, dass sich ein Stadttheater als ein Hybrid führen lässt.“ | |
| Auch wenn die Hybridform – also die Tatsache, dass sich die Kammerspiele | |
| zugleich als internationales Festival- und Produktionshaus der | |
| internationalen freien Szene verstehen, in der Stadt nach wie vor nicht | |
| unumstritten ist. | |
| Ende Juli geht Lilienthal zurück nach Berlin. Das Festival, das er in | |
| Beirut hätte kuratieren sollen, ist längst vom Tisch, weil es im Libanon | |
| gerade existenziellere Probleme gibt als Theater. Jetzt ist die Zukunft des | |
| Sechzigjährigen wieder offen, ein Bewerbungsschreiben aber schon unterwegs: | |
| „Eine Stadt, die mir 10 Millionen Euro im Jahr gibt und eine große Halle, | |
| in der man Projekte zwischen bildender Kunst, Kino, Theater und Performance | |
| Art frei denken kann, kann sich gerne bei mir melden.“ | |
| 27 Jun 2020 | |
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| [1] /Theaterregisseurin-Anta-Helena-Recke/!5628473 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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