| # taz.de -- Spielfilm „Mond“ von Kurdwin Ayub: Die Retterin im Käfig | |
| > In „Mond“ schickt Regisseurin Kurdwin Ayub ihre Hauptdarstellerin | |
| > Florentina Holzinger nach Jordanien. Der Thriller erzählt von | |
| > Frauenunterdrückung. | |
| Bild: Was erwartet Sarah (Florentina Holzinger) in der Villa in Jordanien? | |
| Berlin taz | Viel Mimik ist in Sarahs Gesicht nicht zu erkennen. Es wirkt | |
| gleichsam entschlossen und fest, ratlos und abwesend. Sarah, gespielt von | |
| Florentina Holzinger, ist eine ideale Projektionsfläche, von der man den | |
| Blick nicht abwenden kann. Sie trägt Kurdwin Ayubs zweiten Spielfilm „Mond“ | |
| mit einer Präsenz, die sie ganz selbstverständlich zur Hoffnungsträgerin | |
| dreier junger, sehr reicher Jordanierinnen macht. | |
| Ein Arrangement, das Ayub ohne viel Firlefanz, aber mit Dringlichkeit | |
| präsentiert und in das man, ebenso wie Sarah, quasi hineingeworfen wird. | |
| Denn seinen Ursprung nimmt „Mond“ nicht am Roten Meer, sondern in | |
| Österreich. Man könnte auch sagen, in der „Alpenhölle“, angelehnt an ein… | |
| Pullover, den Holzinger vor einigen Monaten in der Sendung „Willkommen | |
| Österreich“ trug. Sie bekennt sich damit zu einem Projekt, das sich dem | |
| Kampf gegen Femizide verschrieben hat, das 228 Millionen Euro für | |
| Gewaltschutz fordert und dessen Name in Gänze lautet: „ALPENHÖLLE. Heimat | |
| bist du toter Töchter“. | |
| Schon ist die Verbindungslinie zu „Mond“ geschlagen und gewissermaßen auch | |
| zu Kurdwin Ayubs vielfältigem künstlerischen Schaffen. Immer wieder geht es | |
| in ihm um patriarchale Strukturen, um das Eingesperrtsein und | |
| Eingesperrtwerden, emanzipatorische Prozesse und Selbstermächtigung. | |
| Zuletzt etwa im [1][Volksbühnen-Stück „Weiße Witwe“], einem überbordend… | |
| Abend mit männerfleischverzehrender Königin vor hyperorientalischer | |
| Kulisse. | |
| [2][Florentina Holzinger wiederum wurde jüngst ins Artistic Board der | |
| Volksbühne berufen], auch den österreichischen Pavillon der kommenden | |
| Biennale in Venedig wird sie verantworten. An Kurdwin Ayub und Florentina | |
| Holzinger kommt man aktuell nur schwer vorbei. Und wie schon beim Vorgänger | |
| „Sonne“ steht hinter der Produktion von „Mond“ kein Geringerer als Ulri… | |
| Seidl. | |
| Ayub, Holzinger, Seidl – sie alle gehen mit Vorliebe dorthin, wo es wehtut. | |
| Folgerichtig spritzt bereits in der ersten Szene von „Mond“ das Blut. | |
| Sarah, professionelle Mixed-Martial-Arts-Kämpferin, ist in einem Käfig zu | |
| sehen, auf der Matte liegend, ihrer Kontrahentin gnadenlos unterlegen. Die | |
| Niederlage bedeutet das Ende ihrer Karriere. Sarah hängt fortan in der | |
| Luft. Schläft in den Tag hinein und hinterlässt auf ihrem Nachttisch | |
| ebenjene unansehnlichen Tassenabdrücke, wie sie ihre Schwester, frisch | |
| Mutter geworden und sichtlich entnervt, nicht ausstehen kann. | |
| ## Überwachungskameras im Rücken | |
| Das MMA-Training zimperlich-alberner Wienerinnen trägt ebenfalls nicht zur | |
| Stimmung bei. Kurz: Das Angebot aus Jordanien, Privattrainerin dreier | |
| Schwestern im hauseigenen Gym zu werden, kommt Sarah nicht ungelegen. Und | |
| so blickt sie, nur wenige Schnitte später, aus dem 20. Stock eines | |
| Luxushotels über eine unbekannte, sandfarbene Stadt. | |
| Berührungspunkte mit ihr wird sie nur wenige haben: Das zentimeterdicke | |
| Glas der Hotelfenster kann auch sinnbildlich für die Isolation stehen, die | |
| Leere und das Vakuum, die sich in „Mond“ immer mehr zuspitzen sollen. | |
| Abgeschnitten von zu Hause und konfrontiert mit Menschen, die zwar höflich | |
| sind, aber um die Überwachungskameras im Rücken wissen – fehlt es der | |
| Österreicherin an ehrlicher Aus- und Ansprache. | |
| Ayub inszeniert eine Verflechtung westlicher Lebenskrise mit realer, | |
| lebensbedrohlicher Unterdrückung. Denn was Sarah in der palastähnlichen | |
| Villa ihres Auftraggebers erfahren wird, übersteigt nicht nur ihr | |
| Vorstellungsvermögen, sondern auch ihre Kompetenz. | |
| ## Das geheime Zimmer | |
| Das Bild des goldenen Käfigs mag abgegriffen sein, aber hier, an den | |
| Ausläufern der Metropole, im Haus jener mächtigen, allseits bekannten und | |
| doch nebulös bleibenden Familie, trifft es zu. Nour (Andria Tayeh), Fatima | |
| (Celina Sarhan) und Shaima (Nagham Abu Baker), die drei Teenagertöchter, | |
| denen Sarah mehr Ablenkung und Unterhaltung bieten denn Schlagkraft | |
| beibringen soll, wirken lethargisch und resigniert. | |
| Im Zentrum ihres Tages stehen Fragen nach dem zur Kleiderwahl passenden | |
| Make-up oder das Verfolgen von Seifenopern. Die Internetverbindung ist | |
| gekappt, die Eltern jetten irgendwo in der Welt umher – | |
| Hauptverantwortlicher ist ihr älterer Bruder, Sarahs kosmopolitischer | |
| Kontakt und Fan der Sachertorte, sowie seine wenig lieblichen Mannen. Klar | |
| ist: Die Stäbe dieses goldenen Käfigs stehen unter Strom. | |
| Seine Schläge tarnen sich als vermeintliche Lippenunterfüllungen. Oder | |
| verweisen auf das geheime Zimmer einer vierten Schwester namens Aya im | |
| Obergeschoss. In ihm: ein Bett mit Fesseln, erkennbar getrockneter Urin auf | |
| dem Laken, stapelweise Medikamente. Vom großspurigen Familienfoto, das | |
| prominent im Wohnzimmer über der Sofalandschaft hängt, ist sie längst | |
| verschwunden. | |
| ## Ein Labyrinth aus Vermutungen und Ahnungen | |
| Kurdwin Ayub inszeniert „Mond“ bald wie einen Thriller. Ein Genre, zu dem | |
| auch das Uneindeutige, im Dunkeln Liegende zählt. Außerstande, ihre | |
| Beobachtungen mit Dritten zu reflektieren, gerät sie in ein Labyrinth aus | |
| Vermutungen und Ahnungen. [3][Wie schon in „Sonne“ wird das Smartphone zum | |
| Handlungskatalysator], indem Nour etwa beginnt, Hilferufe im Videoformat an | |
| Sarah zu übermitteln. „My sisters, they like to play with you“, amüsiert | |
| sich ihr Bruder derweil wenig überzeugend. | |
| Gefangen in einem Krimiplot, pendelt Sarah zwischen Fiktion und Realität. | |
| Als eine Angestellte in der Hotelbar einige unschickliche Gerüchte über die | |
| Familie teilt, in denen es auch um mafiöse Machenschaften geht, entfährt es | |
| Sarah: „Sounds like Netflix.“ Und tatsächlich hat „Mond“ viel mit einer | |
| Verwechslung zu tun: Glaubt sich Sarah in einer Geschichte, die sie zur | |
| Actionheldin und Retterin macht? Glauben auch Nour, Shaima und Fatima, | |
| trainiert durch unzählige Film- und Seriennarrative, dass dank Sarah eine | |
| Flucht aus ihrem Gefängnis möglich wäre? | |
| Vielleicht. Auf Kurdwin Ayub dürfte das jedoch nicht zutreffen. Zu bewusst | |
| spielt sie mit dem White Savior Complex, für den „Mond“ wie geschaffen | |
| scheint. Sie kalkuliert den Clash zwischen Wirklichkeit und | |
| Rettungsfantasie und macht damit eine Erfahrung möglich, die uns mit | |
| eigenen Erwartungen und Fehlschlüssen konfrontiert. | |
| ## Mumm und Widerständigkeit | |
| Entpuppte sich „Sonne“ als überraschend vielschichtiges Lehrstück darübe… | |
| wie sich Unwissenheit, Naivität und kulturellere Aneignung zu einem | |
| unglücklichen Cocktail verpaaren, legt „Mond“ den Finger in eine andere | |
| Wunde: die Ohnmacht, die man angesichts der systemischen Unterdrückung von | |
| Frauen empfinden kann. Sowie die Erkenntnis, dass auch die Bereitschaft zu | |
| Heldentaten nur schwer an einem Fundament zu rütteln vermag, das derart | |
| fest verankert ist. Sich in Erzählungen zu flüchten, in denen Einzelnen | |
| Großartiges gelingt, trösten, inspirieren möglicherweise. Mit den Tatsachen | |
| haben sie oft nichts gemein. | |
| Ayub offeriert all dies nie süffisant, nie herablassend. Sie setzt auf ihre | |
| Protagonistinnen, schenkt ihnen Mumm und Widerständigkeit. „Mond“ ist ein | |
| Film, der einem den Puls hochtreibt. Worauf sie nicht setzt, ist das | |
| einfache Austricksen der Machthabenden. Worauf sie nicht setzt, sind | |
| Männer. Allerdings: Wie im MMA findet auch im Leben jeder Kampf in Runden | |
| statt. | |
| Und wenn Sarah am Ende zu Rihannas „S & M“ auf die Bühne steigt, und singt: | |
| „Feels so good being bad / There’s no way I’m turning back“, dann steigt | |
| die Hoffnung auf, dass es sich bei Kurdwin Ayubs kommendem Film „Sterne“ | |
| eventuell um eine weitere Genre-Spielart handeln könnte: Revenge. | |
| 25 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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