# taz.de -- Spielfilm „Toxic“: Wo Kraftwerke noch Fortschritt versprechen | |
> In ihrem Spielfilmdebüt erzählt Saulė Bliuvaitė in markant komponierten | |
> Bildern von Modelagenturen in der litauischen Provinz. Wie realistisch | |
> ist das? | |
Bild: Hoffen auf eine Chance als Model in „Toxic“ | |
Dass sich Heidi Klum in den litauischen Film „Toxic“ verirrt, erscheint | |
eher unwahrscheinlich, zum Glück. Ansonsten könnte die Dompteurin des | |
Model-Nachwuchses noch auf Ideen für die nächste „Supermodel“-Staffel | |
kommen und ihre ebenso unbedarften wie hoffnungsvollen Modelanwärterinnen | |
mit der Realität von Saulė Bliuvaitės Regiedebüt konfrontieren. | |
Wobei sich im Laufe der harschen 100 Minuten von „Toxic“ immer wieder die | |
Frage stellt, ob das Gezeigte tatsächlich die Realität des ländlichen | |
Litauens darstellt oder nicht doch eher eine betont [1][miserabilistische | |
Version der Welt], die vor allem darauf abzielt, auf westlichen | |
Filmfestivals als besonders authentisch wahrgenommen zu werden. Das | |
zumindest hat gut geklappt, vergangenes Jahr wurde „Toxic“ beim | |
Filmfestival in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet, einer der | |
wichtigsten Auszeichnungen im internationalen Festivalbetrieb. | |
Die Welt, die Bliuvaitė zeigt, könnte kaum heruntergekommener sein. | |
Irgendwo im Hinterland Litauens spielt der Film, fernab der Hauptstadt | |
Vilnius, in einer Region, in der die EU-Subventionen noch nicht angekommen | |
oder versickert sind, wo die Straßen nicht asphaltiert sind, sondern | |
staubig, so als wäre man im Wilden Westen. Container stehen herum und | |
bilden einen improvisierten Markt, auf dem wohl nicht nur legale Dinger | |
verschachert werden. | |
Wer hier aufwächst, will raus, allzu viele Möglichkeiten gibt es allerdings | |
nicht. Was bleibt, ist dementsprechend oft das Aussehen und damit der | |
Einstieg in das harte Geschäft mit dem schönen Schein. Klassisch hübsch | |
sieht Kristina (Ieva Rupeikaitė) aus, eine 13-Jährige, die selbstbewusst | |
auftritt und auf der Schule im Mittelpunkt zu stehen scheint, aber das | |
wirkt nur so. Allein mit dem Vater wächst sie auf, in einer winzigen Bude, | |
aus der sie der Vater regelmäßig rausschmeißt, ihr ein paar Scheine in die | |
Hand drückt, damit er sich mit seinen wechselnden Freundinnen vergnügen | |
kann. | |
Im unbarmherzigen Beliebtheitswettbewerb an der Schule steht Kristina weit | |
oben, dementsprechend hat sie es, wie alle anderen auch, auf eine neue | |
Mitschülerin abgesehen: Marija (Vesta Matulytė), die von ihrer Mutter quasi | |
bei der im Ort lebenden Großmutter abgestellt wurde, die selbst irgendwo | |
ihr Glück sucht. Marija humpelt wegen einer angeborenen Behinderung, ist | |
zudem groß, schlaksig und etwas unbeholfen und dementsprechend beliebtes | |
Mobbing-Opfer in der Schule. | |
## Karriere im Glamourbusiness | |
Unfreiwillige Freundinnen werden die beiden Mädchen bald, verbunden von dem | |
Gedanken, auszubrechen. Einen Ausweg verheißt eine kleine, lokale | |
Modelagentur, betrieben von der überdeutlich zwielichtig wirkenden Romas | |
(Eglė Gabrėnaitė). Für viel Geld verspricht sie den jungen Mädchen des | |
Dorfes und oft auch deren Eltern eine Chance auf eine Karriere im | |
Glamourbusiness, die sich – selbstverständlich – nur selten, wenn | |
überhaupt, ergibt. | |
Was die Mädchen nun tun, um ihre Chance zu ergreifen, schildert Saulė | |
Bliuvaitė mit aller Härte: Rauchen, um keinen Hunger zu entwickeln, zählt | |
da ebenso wie Erbrechen nach dem Essen noch zu den harmlosen Dingen. Mit | |
verschluckten Wattebäuschen den Hunger stopfen, funktioniert nur bedingt, | |
viel besser dagegen der Bandwurm, den Kristina im Internet bestellt und mit | |
dem sie nicht nur ihr Hungergefühl abtötet. | |
Schonungslos zeigt Bliuvaitė den immer verzweifelteren Versuch der Mädchen, | |
einem Schönheitsideal zu entsprechen, dessen Ursprünge nicht explizit | |
genannt werden müssen: Poster westlicher Schauspielerinnen zieren die | |
Wände, [2][Britney Spears’ Song „Toxi]c“ dient nicht umsonst als Filmtit… | |
doch der versprochene Glamour bleibt reine Oberfläche. | |
## Windige Arbeitsangebot | |
Was in gewisser Weise auch für den Film selbst gilt, der sich auf | |
inhaltlicher Ebene nicht durch Originalität auszeichnet, stattdessen arg | |
bekannte Muster osteuropäischen Miserabilismus variiert, inklusive | |
geifernder älterer Männer, die den Minderjährigen hinterhersabbern, aber | |
auch windige Arbeitsangebote, vorgebliche „Massagen“, deren wahre Natur | |
nicht explizit gezeigt, aber unmissverständlich angedeutet wird. | |
Ganz andere Qualitäten beweist Saulė Bliuvaitė dagegen auf der formalen | |
Ebene, wo in Zusammenarbeit mit dem Kameramann Vytautas Katkus Bilder | |
gelingen, die sie als bemerkenswertes Talent ausweisen. Im klassischen, | |
fast quadratischen 4:3-Format wurde gedreht, in gestochen scharfen, satten | |
Digitalbildern, voller bemerkenswerter Einstellungen. | |
Egal ob in den engen Wohnungen, in denen die Tapeten wohl seit dem | |
Untergang des kommunistischen Systems nicht gewechselt wurden, oder in den | |
Industrielandschaften, in denen Kraftwerke, Autobahnen und | |
Hochspannungsleitungen Fortschritt suggerieren: Die markanten | |
Bildkompositionen verleihen „Toxic“ eine ästhetische, elegische Note, die | |
am Ende doch über die oft allzu konventionelle, sich etwas sehr dem Elend | |
verschriebene Handlung hinwegsehen lässt. | |
22 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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