# taz.de -- Film „Flow“ von Gints Zilbalodis: Eine Katze empört sich | |
> Bei Flut müssen Tiere zusammenhalten: Der für einen Oscar nominierte | |
> Animationsfilm „Flow“ trägt sein Publikum durch eine traumhaft reduzierte | |
> Welt. | |
Bild: „Flow“ gewann unzählige Preise, darunter den Golden Globe als bester… | |
Als die Wasser immer höher steigen, klettert die dunkelgraue Katze auf eine | |
Katzenstatue, die sich in der Landschaft erhebt. Während schließlich auch | |
die Ohren der Statue in den Wassern versinken, nähert sich in der | |
Abendsonne ein Segelboot. Doch kaum ist die Katze auf den Rand des Boots | |
gesprungen, steht sie vor einem Problem: Sie ist nicht allein. Vom Bug her | |
röhrt irritiert ein Capybara. | |
Die Katze springt kurz entschlossen ins Innere des Boots. Als das Capybara | |
interessiert auf sie zutapst, hält sie es zunächst mit einem Schlag ihrer | |
Tatze auf Abstand. Dann kratzt sich das Capybara, gähnt und lässt sich auf | |
die Seite fallen, um weiter zu schlafen. Mit dem Nagetier hat die Katze | |
ihren ersten Reisegefährten gefunden, der sie in „Flow“, einem | |
Animationsfilm des lettischen Regisseurs Gints Zilbalodis, begleiten wird. | |
## Eine Flutwelle bedroht die Tierwelt | |
„Flow“ beginnt mit einem Streifzug der Katze durch eine idyllische | |
Waldlandschaft. In einer verlassenen Hütte eines Bildhauers mit einem | |
Faible für Katzenskulpturen findet sie ein Nachtlager. Als sie am nächsten | |
Tag vor einer Hundemeute flieht, der sie einen Fisch geklaut hat, treibt | |
eine Flutwelle ihr plötzlich alle Tiere des Waldes entgegen. | |
Bevor sich die Katze retten kann, wird sie von den Fluten mitgerissen. | |
Zunächst sind einige Landstriche noch nicht unter Wasser und wie die | |
übrigen Tiere sucht auch die Katze auf immer enger werdendem Raum Zuflucht | |
– bis ihr schließlich nur noch der Sprung auf das Segelboot bleibt. | |
Zilbalodis zeigt eine Naturwelt, die vor der Zerstörung steht. Auf den | |
Spuren seiner Protagonistin treibt der Film durch die überspülten | |
Landschaften. Zilbalodis verzichtet darauf, den Tieren Stimmen zu | |
verleihen. Stattdessen besteht eine der Faszinationen des Films darin, wie | |
sich die Tiere mit ihren verschiedenen Verhaltensweisen und Lauten | |
zusammenfinden und lernen, miteinander zu kommunizieren. | |
Sobald sich die Irritation der Katze über das Capybara gelegt hat, trifft | |
das Boot auf den nächsten künftigen Reisegenossen, einen Lemuren mit einem | |
ausgeprägten Ordnungs- und Besitzsinn. Eifersüchtig wacht der Lemur über | |
einen Korb, in dem er diverse Fundstücke zusammengesammelt hat. Nach und | |
nach findet sich auf dem Segelboot eine Reisegemeinschaft zusammen, zu der | |
neben der Katze, dem Capybara und dem Lemuren noch ein Labrador und ein | |
Sekretär-Vogel gehören. | |
## Niedlichkeit und Magie liegen nahe beieinander | |
Die Bilder des Films sind ebenso eindrucksvoll wie aufgeräumt. Die Tiere | |
setzen sich mit ihrer angedeuteten Fellstruktur vor den klaren Texturen der | |
Hintergründe wie dem Pflanzengrün der Waldlandschaften oder dem Holz des | |
Schiffes ab wie vor einem Bühnenraum. Immer wieder liegen in den Bildern, | |
die aus diesem Kontrast entstehen, Niedlichkeit und Magie nahe beieinander. | |
Das wichtigste Gestaltungselement des Films sind jedoch die weit | |
aufgerissenen, orange leuchtenden Augen der Katze, in denen sich feline | |
Empörung über die plötzliche Veränderung der Welt, zaghafte Neugier und | |
Einschüchterung über die Naturgewalten spiegeln. | |
„Flow“ entstand wie Zilbalodis’ Langfilmdebüt „Away“ (2019) als | |
unabhängiges Ein-Mann-Projekt, bei dem der Regisseur auch das Drehbuch | |
schrieb, den Film produzierte, die Animation verantwortete und sogar die | |
Musik beisteuerte (bei „Flow“ unterstützt vom Komponisten Rihards Zaļupe). | |
„Flow“ entstand über einen Zeitraum von fünf Jahren zwischen 2019 und 202… | |
nach dem Pitch des Films auf dem Animationsfilm-Koproduktionsforum Cartoon | |
Movie in Bordeaux stiegen die belgische Produktionsfirma Take Five und das | |
französische Animationsstudio Sacrebleu Productions in die Produktion ein. | |
Der Unterschied zu fotorealistischen Animationen großer Hollywoodstudios | |
ist zum Beispiel im Verzicht auf die Animation des Tierfells unübersehbar, | |
trägt aber eher zum Charme des Films bei, als dass dies ein Manko wäre. Es | |
braucht einen Moment, bis man sich als Zuschauer auf den Stil eingesehen | |
hat, aber dann überlässt man sich der Welt von der Animation. | |
## Weltpremiere auf dem Filmfestival in Cannes 2024 | |
Zilbalodis’ Langfilmdebüt „Away“ feierte 2019 zwar auf dem wichtigsten | |
Animationsfilmfestival Westeuropas in Annecy Premiere und wurde | |
international ein großer Erfolg, reüssierte aber zunächst vor allem auf | |
Animationsfilmfestivals. Ganz anders [1][„Flow“: Der Film feierte 2024 auf | |
dem Filmfestival in Cannes im Rahmen der Reihe „Un certain regard“ seine | |
Weltpremiere] und lief danach auf vielen größeren Festivals der Welt, unter | |
anderem in Toronto, Busan und Melbourne. | |
Der Film gewann unzählige Preise, darunter den Golden Globe als bester | |
animierter Langfilm und Preise diverser Filmkritikerverbände in den USA. | |
Aktuell ist der Film noch im Rennen um den Oscar als lettischer Beitrag und | |
als bester animierter Langfilm. | |
Vor seinen beiden Langfilmen hat Zilbalodis insgesamt sieben Kurzfilme | |
realisiert. Zilbalodis’ Talent für die Form des Animationsfilms zeigt sich | |
nicht zuletzt darin, dass von diesen nur der erste, der eineinhalbminütige | |
„Rush“ (2010), rückblickend wie eine Fingerübung wirkt. | |
Der zweite, „Aqua“ (2012), siebeneinhalb Minuten lang, ist hingegen einer | |
der direkten Vorläufer von „Flow“ und funktioniert bis heute als | |
selbständiger Film. Wie „Flow“ zeigt der Film eine Katze, die vor den | |
Fluten fliehen muss, und wer die beiden Filme vergleicht, wird bis in | |
einzelne Motive hinein wie das Schiff, auf das die Katze springt, große | |
Ähnlichkeiten entdecken. | |
Die größte Differenz zwischen „Flow“ und allen Vorgängern ist der Stil d… | |
Animation. Noch bis „Away“ ist die Animation Zilbalodis deutlich flächiger, | |
die Katze in „Aqua“ besteht gar einfach aus dunklen Flächen mit hellen | |
Umrissen. | |
## Quantensprung in der Animation | |
Die Animation von „Flow“ ist ein Quantensprung gegenüber den Vorgängern u… | |
einer der zentralen Faktoren, die zum Erfolg des Films beigetragen haben. | |
Guillermo Del Toro schrieb kurz nach der Premiere in Cannes zu „Flow“: | |
„Wenn ich mir eine Zukunft des Animationsfilms wünschen könnte, wären diese | |
Bilder ihr großartiger, atemberaubender Anfang.“ | |
Von Animationsfilmen, die nicht explizit als Kinderfilm entstanden sind, | |
wird oft erwartet, dennoch den Spagat hinzubekommen, neben Erwachsenen | |
zumindest auch Kinder anzusprechen – vor allem in einem Land wie | |
Deutschland, in dem die ehemals vorhandene Animationsfilmkultur weitgehend | |
ausgestorben ist und Animationsfilme von Kinobetreibern fast zwanghaft in | |
der Nachmittagsschiene programmiert werden. | |
Zugleich passiert es bei langen Animationsfilmen nicht selten, dass über | |
der Komplexität der Produktion und den Schauwerten der Animation die | |
Narration vernachlässigt wird und sich erzählerische Durchhänger | |
einstellen. | |
## Wie im Traum durch die Handlung | |
Gints Zilbalodis’ „Flow“ löst beide Herausforderungen, indem er die | |
Narration auf ein Minimum reduziert und sich vor allem darauf konzentriert, | |
Elemente zu finden, die die Interaktion seiner tierischen | |
Protagonist:innen in Schwung halten und so ihren Reiz zur Geltung zu | |
bringen. Dadurch entsteht ein überraschend kurzweiliger Film, der wie im | |
Traum durch seine Handlung treibt. | |
Getragen wird der Film ganz von den Welten, die er in seinen Bildern | |
entwirft. „Flow“ ist der rare Fall eines ebenso unterhaltsamen | |
Animationsfilms, der es bei aller Leichtigkeit nicht an Denkanstößen fehlen | |
lässt. Gints Zilbalodis ist ein Glücksfall für den europäischen | |
Animationsfilm und stellt das mit „Flow“ ein weiteres Mal unter Beweis. | |
28 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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