# taz.de -- Debütfilm „Milch ins Feuer“: Denn sie wissen, was sie spielen | |
> In ihrem Debütfilm „Milch ins Feuer“ erzählt Justine Bauer fast | |
> dokumentarisch vom Bäuerinnenleben. Die meisten vor der Kamera sind | |
> Laien. | |
Bild: Chillen auf dem Land? Katinka (Karolin Nothacker) in „Milch ins Feuer“ | |
Er ist wahrlich ein Berg von einem Ochsen. Riesig, massig und rotbraun, | |
scheint sein breiter Rücken die Leinwand zu sprengen. Eine junge Bäuerin | |
striegelt das Tier sorgfältig; wenn sie schließlich auf ihm reitet, schwebt | |
sie wie in einer holprigen Sänfte über die grüne Wiese. Der „Anton“ sei … | |
groß geworden, erklärt eine Frauenstimme im weichen, hohenlohischen Dialekt | |
dazu, weil er kastriert wurde. Denn „Kaschtratione schließe die | |
Wachstumsfuge an de Knoche spädder. Und der wo greßer ist, kann mehr | |
schaffe.“ | |
In „Milch ins Feuer“ handelt es sich beim „Schaffe“ – wenn man mal vom | |
„Anton“ absieht – fast ausschließlich um Frauenarbeit: Justine Bauers | |
Debütfilm erzählt vom Bäuerinnenleben dreier Töchter und deren Mutter | |
([1][Johanna Wokalek]), von Anne, der Tochter des Nachbarn, und von Oma | |
Emma, die Spezialistin im Tomatenzüchten ist. Eher unter „ferner liefen“ | |
rangieren der Bauer vom Nachbarhof, der als Protest gegen die hinten und | |
vorn nicht ausreichenden Milchpreise grüne Kreuze aufstellt und ein Feuer | |
symbolträchtig mit Milch löschen lässt, und ein Freund (Simon Steinhorst). | |
Regisseurin Bauers Bilder (Kamera: Pedro Carncier) sind hochpoetisch, | |
gleichzeitig wirken sie durch die ruhige Selbstverständlichkeit der | |
Handelnden fast dokumentarisch. In langen Einstellungen mit satter Tiefe | |
und Farbe, atmosphärischen Nahaufnahmen und einer rhythmischen, | |
beobachtenden Montage scheint der Film einen „landwirtschaftlichen“ Diskurs | |
zum Thema Gender und Selbstverwirklichung anzubieten: Die Kastration – des | |
braven Ochsen, später kommt eine Tierärztin vorbei, kastriert ein Lama und | |
soll auch gleich noch am Kater herumschnippeln, denn vom Preis her machen | |
Lama- oder Katerhoden doch wohl keinen Unterschied – findet ihr | |
thematisches Pendant in Annes Ankündigung, schwanger zu sein, geplant war | |
das nicht. | |
Während eine Geschichte von ungewollten, darum ertränkten Kätzchen die | |
Runde macht, und Mutter und Tochter mit ruhigen, geübten Parallelgriffen | |
die Melkmaschinen anwerfen, damit die Milchproduktion der Kühe nie | |
versiegt, erkennt man in der bäuerlichen Umgebung jene Topoi, die das | |
menschliche Miteinander und die Gendergerechtigkeit schon immer | |
beeinflussen: Wenn Fortpflanzung nicht kontrolliert werden kann, verändert | |
sie das Leben von weiblichen Wesen weit mehr als das von den Erzeugern. Und | |
wenn sie dabei weiterarbeiten müssen, sind sie doppelbelastet. | |
Dass die Mutter sich für ihre Töchter etwas anderes wünscht als eine | |
Zukunft auf dem Hof, wirkt somit so resigniert wie wohlüberlegt – obwohl | |
lebenswichtig, ist Landarbeit schlecht bezahlt und angesehen, dazu | |
anstrengend. Katinka liebt das Bauernleben trotzdem – vielleicht wird sie | |
zu einer neuen Generation von Bäuerinnen. Ihre schwangere Freundin dagegen | |
überlegt, zu drastischen Mitteln zu greifen. | |
## Das Agieren mit den Tieren gewohnt | |
Regisseurin Bauers Entscheidung, bis auf Wokalek (und Steinhorst in einer | |
Nebenrolle) Laiendarsteller:innen vor die Kamera zu holen, die | |
tatsächlich von Höfen aus der Gegend stammen, die die Arbeit und das | |
Agieren mit den Tieren gewohnt sind, gibt dem Film eine seltene | |
Authentizität. | |
Der freundlich-lakonische, wie alles andere auch im Dialekt eingesprochene | |
Off-Text tut ein Übriges: „Ein Dialekt ändert den Sprachrhythmus“, sagt | |
Schauspielerin Wokalek, die selbst aus dem Badischen kommt, und den Klang | |
des dortigen Idioms tief in ihrer Erinnerung trägt, im Interview, „und | |
dieser andere Rhythmus ändert etwas am Atem und der Körperlichkeit, er | |
bringt eine neue Farbe mit hinein. Das ist faszinierend.“ | |
Wieso diese Möglichkeit der schärferen Figurenzeichnung durch Dialekte in | |
deutschen Filmen immer noch kaum genutzt wird, kann sie sich nicht | |
erklären: „Alles in Hochdeutsch zu spielen, kann bestimmte Rollen einengen | |
– schließlich haben wir ja diesen Sprachreichtum.“ | |
## Die Szenen zeugen von Vertrauen | |
Wokalek erzählt vom Arbeiten mit den Nicht-Schauspieler:innen: „Es gibt | |
bei den Frauen eine starke körperliche Präsenz – man spürt, dass | |
das,Schaffe' deren Realität ist.“ Dennoch ist die Beziehung zwischen der | |
Filmmutter und Filmbäuerin Wokalek und ihren „Kindern“ glaubhaft – | |
Regisseurin Bauer tupft zarte Szenen in ihre Geschichte, die von Vertrauen | |
zeugen – Schwimmen im Fluss, das wacklige Trompetenspiel einer Tochter oder | |
das gegenseitige Haarebürsten der Mädchen, die schließlich auch ihrer | |
Mutter einen neuen Zopf verpassen. Jenes geduldige, kontemplative | |
Striegeln, egal ob Ochs, ob Mensch, gewinnt nach einer Weile eine zweite | |
Ebene. | |
Fast scheint es das komplexe Verhältnis zur Landwirtschaft selbst zu | |
symbolisieren: Es ist notwendig, redundant und eine Liebkosung. Dass im | |
Nachspann am Ende die Namen der Tiere vor denen der menschlichen | |
Darsteller:innen rollen, ist somit nur konsequent – man lebt nicht nur | |
zusammen, sondern voneinander. | |
Regisseurin Bauer hat ihr Debüt, das als Abschlussfilm der Kunsthochschule | |
für Medien in Köln entstand, situativ inszeniert: Es gibt zwar eine | |
Dramaturgie und sich vorsichtig zuspitzende Konflikte – die von den | |
schlechten Preisen betroffene Milchbauerfamilie, die ein Foto für die | |
Hofladen-Joghurtgläser machen soll, erlebt eine private Katastrophe; die | |
Töchter der Bäuerin müssen sich für mögliche Lebenswege entscheiden. Doch | |
der Film verzichtet auf eine klassisch-stringente Erzählweise. | |
## Debütfilm frei von Konventionen | |
Er ähnelt, zumindest strukturell, damit [2][Mascha Schilinskis dichtem | |
Zeitenporträt „In die Sonne schauen“], das ebenfalls durch den sinnigen | |
Gebrauch von Dialekt auffällt und Frauengeschichten verschiedenster | |
Generationen auf einem Vierseithof in der Altmark verwebt. Die natürliche | |
Darstellung lässt auch an Joseph Vilsmaiers „Herbstmilch“ von 1989 denken, | |
der auf Erinnerungen einer Bäuerin und Autorin beruht. | |
Musikalisch bleibt „Milch ins Feuer“ frei von Konventionen: Der sparsame, | |
soundlich runde Score von Cris Derksen spielt mit elektronischen und | |
Streicherklängen, die nichts von Heimatfilmromantik oder Nostalgie haben. | |
Leichthändig entsteht bei alldem eine Solidarität mit den Belangen von | |
Landwirt:innen. Denn jene grundlegenden, lebensentscheidenden Verbindungen, | |
Geburt und Tod, Bedarf und Nachfrage, Ausbeutung und Freizeit, kennt eh | |
jeder – ob Bauer oder Städterin. | |
5 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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