| # taz.de -- Mascha Schilinskis neuer Film: Die Schatten aus anderen Zeiten laue… | |
| > Mit „In die Sonne schauen“ hat Mascha Schilinski einen herausragenden | |
| > Film über Frauen auf dem Land geschaffen. Er ist sinnlich, traurig, | |
| > unsentimental. | |
| Bild: Steine als Zeichen: Kaya (Ninel Geiger) in „In die Sonne schauen“ | |
| Der Spätsommer ist genau die richtige Jahreszeit für einen Film wie Mascha | |
| Schilinskis „In die Sonne schauen“. Denn was die Tage Ende August, Anfang | |
| September von denen im Juni und Juli unterscheidet, sind die vielen kleinen | |
| sinnlichen Unterschiede: das Sonnenlicht, das auf einmal wieder Klarheit | |
| annimmt, ein kühler Wind am Abend, feuchtes Gras am Morgen. | |
| Nicht dass das alles im Film so vorkommt. Aber man ist gut beraten, beim | |
| Kinobesuch seine Sinne für solcherlei Eindrücke zu schärfen. „In die Sonne | |
| schauen“ ist ein Film, der mit leisen Geräuschen wie dem Knacksen einer | |
| Vinylschallplatte oder dem Surren einer Biene arbeitet, mit körnigen, | |
| atmosphärischen Bildern, die die Stofflichkeit des Films selbst spürbar | |
| machen. | |
| Er kommt ohne Plot aus, erzählt aber dennoch mit so viel Reichhaltigkeit | |
| von seinen Figuren, dass vier völlig verschiedene Epochen der letzten 100 | |
| Jahre lebendig werden. | |
| Erstling bei der Berlinale 2017 | |
| Die 1984 in Berlin geborene Regisseurin Schilinski machte bereits 2017 mit | |
| ihrem Erstlingsfilm „Die Tochter“, der in der Reihe „Perspektive deutsches | |
| Kino“ auf der Berlinale Premiere feierte, auf sich aufmerksam. Um ihren | |
| erst zweiten Film „In die Sonne schauen“ entfaltete sich dann im Frühjahr | |
| bereits im Vorfeld des Festivals von Cannes ein regelrechter „Buzz“. | |
| Nicht nur, weil Schilinski die für deutsche Filmemacher:innen rare | |
| Ehre zuteilwurde, in den Wettbewerb geladen zu sein. Oder weil sie zur | |
| Minderheit der Regisseurinnen dort gehörte, die im Übrigen mit der Anzahl 7 | |
| (gegenüber 15 Männern) einen erst 2023 erreichten Höchststand wiederholte. | |
| Nein, der Film selbst war von der Erwartung umgeben, etwas Besonderes zu | |
| sein; man spekulierte auf ein Werk – denn es handelte sich schließlich um | |
| Cannes –, das die Filmkunst als solches voranbringen könnte. | |
| Und [1][Schilinski enttäuschte nicht: Ihr Film galt als kleine Sensation in | |
| einem ohnehin starken Jahrgang]. Zwar gab es am Ende nicht die Goldene | |
| Palme, aber dennoch den Jury-Preis des Festivals, wenn man so will, die | |
| Bronzemedaille, die sie sich allerdings mit dem [2][Franko-Spanier Óliver | |
| Laxe und dessen „Sirāt“] teilen musste. Was andererseits keine Schande war, | |
| denn tatsächlich ragte auch Laxes Film als ungewöhnliches, originelles und | |
| höchst eigenes Regiehandwerk aus der prominenten Auswahl heraus. | |
| Ein Ort durch die Zeiten | |
| Vier verschiedene Frauen, oder besser gesagt Mädchen, bilden das sich | |
| bewegende Zentrum von Schilinskis Erzählung. Sie leben am gleichen Ort, | |
| einem aus Ziegelwerk errichteten Gutshof in der norddeutschen Altmark an | |
| der Elbe, aber zu unterschiedlichen Zeiten. | |
| Am Anfang des 20. Jahrhunderts gehört die Gegend zum deutschen Kaiserreich | |
| und es wird noch Platt gesprochen. Hier wächst das Mädchen Alma (Hanna | |
| Heckt) auf einem Bauernhof, umgeben von Mägden und Knechten, auf. Sie ist | |
| ungefähr neun Jahre alt, mit blonden Zöpfen und einem wachen, neugierigen | |
| Verstand. Als wenig beaufsichtigter Spross einer Großfamilie beobachtet sie | |
| ihre Umgebung durch Schlüssellöcher und aus diversen Verstecken heraus. Was | |
| die Erwachsenen so treiben, bleibt für sie oft rätselhaft oder | |
| unverstanden. | |
| Auch als Zuschauer:in muss man sich durch den historischen Kontext so | |
| manches erschließen und dazureimen. Wird da ein junger Mann dazu gezwungen, | |
| sich zum Krüppel zu machen, um dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg zu | |
| entgehen und weiter dem Hof erhalten zu bleiben? Was hat man der Magd | |
| angetan, die erst nach Wochen zurückkehrt? Eine Abtreibung, gar eine | |
| Sterilisation? | |
| Als die kleine Alma einmal auf einem auf der Anrichte ausgestellten | |
| Schwarzweißfoto ein anderes blondes Mädchen entdeckt und man ihr sagt, es | |
| handle sich um ihre Schwester Alma, ist sie schockiert. „Aber Alma, das bin | |
| doch ich?“, fragt sie weinerlich. In einer anderen Szene hat sie sich beim | |
| Spielen auf einem Baum versteckt und gerät in Verzweiflung, als die | |
| Suchenden sie in der Höhe nicht sehen und auf ihre „Hier bin ich“-Rufe | |
| nicht reagieren. | |
| Selbst- und Fremdwahrnehmung | |
| Die Frage nach der eigenen Identität, nach der Kluft, die zwischen Selbst- | |
| und Fremdwahrnehmung besteht, zieht sich als eines der Themen durch | |
| Schilinskis Film, der einerseits hochrealistisch die sommerlichen | |
| Stimmungen einfängt und andererseits mit Überblendungen und schwebender | |
| Kamera rätselhafte Verbindungen schafft. | |
| Manchmal glaubt man die Schatten der Figuren aus anderen Zeiten im dunklen | |
| Eck des Hausflurs oder des Heubodens auszumachen. Schilinski evoziert etwas | |
| Geisterhaftes, ohne je ins Horrorgenre überzutreten. Wenn die eine oder | |
| andere Figur in einem kurzen Moment durch einen direkten Blick in die | |
| Kamera die vierte Wand durchbricht, bestärkt das den Eindruck des | |
| Unheimlichen. | |
| Die Zeiten lösen sich nicht chronologisch nacheinander ab, sondern | |
| Schilinski schneidet zwischen ihnen hin und her, nach einer ungezwungenen | |
| Logik der Spiegelungen, die fesselt, weil man den jeweiligen Konnex | |
| begreifen will. | |
| Ein paar Jahrzehnte nach Alma, geschätzt um 1940, beobachtet die Teenagerin | |
| Erika (Lea Drinda) ihren einbeinigen Onkel Fritz – ist er es, der sich vor | |
| dem Ersten Weltkrieg selbst verletzt hat? – durchs Schlüsselloch. Auch sie | |
| wandelt oft unbeaufsichtigt auf dem Hof umher, manches Mal angeherrscht von | |
| Stimmen aus dem Off. Plattdeutsch sprechen nun allenfalls noch die Alten | |
| oder die Bediensteten. Die Autoritäten sind andere, aber autoritär geht es | |
| immer noch zu. Die Stimmung scheint bedrückt, die Kriegsereignisse werfen | |
| ihre Schatten voraus. | |
| Dann, in den frühen 80ern, liegt der Gutshof in der DDR und wird nicht mehr | |
| von einer Familie mit Mägden und Knechten bewohnt, sondern von einer | |
| Gemeinschaft von einander nicht immer gleich gut gesinnten Nachbar:innen. | |
| Als Dialekt hat ein verwaschener Brandenburger Tonfall übernommen. Das alte | |
| Gemäuer wurde zwar hier und da ausgebessert, zeigt aber umso mehr die | |
| Spuren seiner ins letzte Jahrhundert reichenden Geschichte. | |
| Hier träumt Angelika (Lena Urzendowsky) vom „Rübermachen“ und unterhält … | |
| heimliches Verhältnis mit ihrem Onkel Uwe (Konstantin Lindhorst), das zwar | |
| nicht von Gewalt, aber doch einem unterschwelligen Zwang geprägt scheint. | |
| Ihre Mutter Irm (Claudia Geisler-Bading), die kleine Schwester von Erika | |
| aus den 40er Jahren, wirkt konstant überfordert in einer Umgebung, in der | |
| grobe, demütigende Scherze als Nettigkeiten gehandelt werden. | |
| Ebene der Gegenwart | |
| Und dann gibt es noch die Ebene der Gegenwart, die zunächst kaum etwas mit | |
| dem Davor zu tun zu haben scheint. Der Hof ist zum luftig-gemütlichen | |
| Feriendomizil renoviert worden. Und wieder ist es ein kleines Mädchen, | |
| Lenka (Laeni Geiseler), das unbeobachtet von Eltern oder Schwester in | |
| diskreten Ecken und Winkeln die Schatten der Vergangenheit entdeckt. Oder | |
| wird sie von ihnen entdeckt? | |
| Das sinnliche Erinnern steht bei alldem ganz im Vordergrund. Es gewinnt | |
| durch eine herausragend fein gearbeitete Tonspur – man glaubt den Wind in | |
| den Gräsern zu hören – an Dreidimensionalität. Anders als bei Reflexionen | |
| zum Spätsommer führt es jedoch nicht ins Sentimentale. | |
| Im Gegenteil, in diesem Erinnern, das von Todesahnungen durchdrungen ist | |
| oder auch gleichsam aus dem Jenseits heraus erfolgt, wird auf ganz eigene | |
| Weise die Vielfalt der patriarchalen Gewalt spürbar, die alle Zeitebenen | |
| durchzieht und der nicht nur, aber besonders die Mädchen und Frauen | |
| ausgesetzt waren. | |
| Letztlich ist „In die Sonne schauen“ ein tieftrauriger Film, der am Ende | |
| damit tröstet, dass er Figuren in den Mittelpunkt rückt, die die große | |
| Geschichte sonst oft als völlig randständig und bedeutungslos betrachtet. | |
| 21 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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