Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Christoph Marthaler inszeniert in Berlin: Wunderbar verhuscht
> In Christoph Marthalers „Wachs und Wirklichkeit“ an der Berliner
> Volksbühne kommt es zu manch Mikrokollision, auch mit DarstellerInnen aus
> Wachs.
Bild: Wer regt sich alles in Christoph Marthalers Figurenkabinett, wenn die Flu…
„Ich denke, aber ich glaube nicht, dass ich Gedanken habe,“ sagt Olivia
Grigolli. Einsam sitzt sie in der Mitte der Bühne. Fünf Minuten vorher
hatte sie Franz Beil, der neben ihr saß, anvertraut: „Ich liebe dich, aber
ich habe keine Ahnung, wer dich liebt.“ Der saß unbeteiligt neben ihr,
während sie einen analytisch-reflektiven Seelen-Striptease hinlegte, in dem
[1][auch ein Sigmund Freud] noch ein paar neue Gedanken finden könnte. In
der ausverkauften Volksbühne war eine selten mitfühlende Stille
eingetreten. Beil aber stand irgendwann auf und ließ Grigolli allein
zurück, nur die Wachspuppen blieben bei ihr.
Mit „Wachs oder Wirklichkeit“ kommt Christoph Marthaler endlich wieder
nach Berlin. Auf die Bühne, die für ihn in den 90er Jahren Heimathafen war
als idealer Ort für sein musikalisch-melancholisches
Entschleunigungstheater. Unvergessen sind Anna Viebrocks Bühnenräume,
unzählige Varianten ein und desselben Existenzraums, aus der Zeit gefallen
und darum genau richtig, um sich mit Ausdauer existenzielle Fragen zu
stellen und das mit resilientem Humor auszuhalten. Drei BühnenzauberInnen
von „Murx den Europäer“, Marthalers erster Inszenierung am Haus, sind
wieder da: Olivia Grigolli, Jürg Kienberger und Magne Havard Brekke. Dazu
noch Clemens Sienknecht und Tora Augstad, beide langjährige
Marthaler-WeggefährtInnen. Aus [2][dem Pollesch-Kosmos fliegen ein]: Rosa
Lembeck und Franz Beil. Das führt zu interessanten Mikrokollisionen mit der
alten Garde. In der poetischen Aura des Marthaler-Universums sind sie
Inseln der Nüchternheit. Wenn sie Jürg Laederachs Texte performen, schaut
René Pollesch um die Ecke.
Marthaler und Laederach: ein spannendes Schweizer Duo, das in der
Volksbühne das Zeitgefühl durcheinanderwirbelt. Neunzig Minuten scheint die
Zeit stillzustehen: Körpergroße Wachspuppen und Menschen werden abgestaubt.
Menschen erstarren und werden wieder lebendig. Plötzlich singen sie. Mit
leiser Penetranz tröpfeln Laederachs endlose Denkkurven in Hirn und Körper.
Als jemand „Licht raus!“ schreit, stürzt der Schluss wie ein Komet in die
Zeitlosigkeit und macht heimatlos.
## Der Fernsehkoch vor der Fototapete
Anna Viebrock hat Heino und Fernsehkoch Horst Lichter als Wachspuppen vor
eine wandfüllende Fototapete einer deutschen Kleinstadt gestellt, in der
die pittoreske Stadtsilhouette unter dem Hochwasser verschwindet. Dieses
Panorama blickt bedrohlich vom rechten Bühnenrand in das 50er-Jahre-Foyer
mit Klavier, Keyboard, Orgel und ein paar vereinzelten Wachspuppen.
Minutenlang steht auch Jürg Kienberger wie eine Wachspuppe an der
Bühnenrampe. Magne Håvard Brekke geht auf ihn zu und macht Anstalten, ihn
zu umarmen. Das weckt einen Funken Lebensgeist in ihm. Kurz bewegt er seine
Hand und lehnt ab. Federleicht zieht sich die Koordinatenvermischung
zwischen Leben und Tod durch den ganzen Abend. Jürg Laederach,
Naturwissenschaftler, Jazzmusiker und eigenwilliger Schriftsteller in
Personalunion, gibt Wegmarken, und Christoph Marthaler dockt an sie an. So
entert Hildegard Alex, seit über sechzig Jahren Volksbühnen-Schauspielerin,
im Queen-Mum-Look die Bühne und sagt: „Es ist doch so: das Leben ist eine
Pistole. Es geht kaum je los. Aber es kann.“ Clemens Sienknecht entgegnet:
„Selbstverständlich gilt hier, dass man sich gegenseitig ohrfeigen kann.“
Und dann sitzt Sienknecht, dessen punktgenaue Nonchalance ein Höhepunkt
des Abends ist, am Klavier und intoniert [3][den Superhit „That’s What
Friends Are For“]. Seine KollegInnen suchen sich je eine Wachspuppe als
Gegenüber aus, schauen ihr in die Augen und schmettern ihr die
Freundschaftshymne mit Verve entgegen. Der Rückprall ihrer Energie am
leblosen Gegenstand ist noch im Publikumssaal spürbar.
Sienknecht begann den Abend mit einer musikalischen Wiederholungsschleife.
„Rythm“ ist hier Anfang und auch Ende, man nimmt es als Ohrwurm mit nach
Hause, verknüpft es mit dem „Danke“-Lied aus dem „Murx“ und ist glück…
16 Mar 2025
## LINKS
[1] /Spielfilm-ueber-Sigmund-Freud/!6055392
[2] /Das-Theater-von-Rene-Pollesch/!5995200
[3] /Konzert-von-Dionne-Warwick/!5537563
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Berliner Volksbühne
René Pollesch
Christoph Marthaler
Prominenz
Theater
Kultur in Berlin
Theater
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Weiße Witwe“ an der Berliner Volksbühne: Tausendundein Latexanzug
Kurdwin Ayub spielt mit dem westlich-orientalisierenden Blick. In „Weiße
Witwe“ gibt es Witz und Klamauk – und Kritik an der bürgerlichen Linken.
Neuer Intendant an der Volksbühne Berlin: Der, der Widerstand aushält
Unter Frank Castorf war er Chefdramaturg und stellvertretender Intendant
der Volksbühne. Nun soll Matthias Lilienthal die dortige Leitung
übernehmen.
Berliner Volksbühne: Nur Pollesch inszeniert Pollesch
Bis die Rechte an seiner Arbeit freigegeben sind, kann es dauern. Ein Stück
ihres verstorbenen Intendanten hat die Volksbühne aber noch im Repertoire.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.