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# taz.de -- Berliner Volksbühne: Nur Pollesch inszeniert Pollesch
> Bis die Rechte an seiner Arbeit freigegeben sind, kann es dauern. Ein
> Stück ihres verstorbenen Intendanten hat die Volksbühne aber noch im
> Repertoire.
Bild: René Polleschs Zürcher Inszenierung mit neuem Bühnenbild von Barbara S…
Martin Wuttke sucht die richtige Schlafstellung. Erst rollt er sich auf der
King-Kong-Riesenhandfläche wie ein Embryo zusammen, klettert dann Richtung
Daumen und klemmt sich am Schluss wie ein Brett zwischen Daumen und
Zeigefinger. Seine Arme gehorchen der Schwerkraft und hängen
sackartig-schwer nach unten. Wuttke ruht aus vom Leben mit den ewigen zwei
Möglichkeiten. Er schöpft kurz Kraft für das weitere Philosophieren über
den Knacks, den Sprung, den ein Leben bekommen kann.
René Pollesch hat diese Gedanken eineinhalb Jahre vor der Pandemie in ein
humorvoll-melancholisches Stück eingebettet, das im Schauspielhaus Zürich
zur Uraufführung kam. „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur
seinen Preis (Manzini Studien)“ hat eine neue Heimat gefunden im
Pollesch-Fixstern Volksbühne.
Mehr als ein halbes Jahr nach dem [1][plötzlichen Tod des
Volksbühnen-Intendanten] sitzt man in diesem Theater, das er [2][neben
Frank Castorf,] Christoph [3][Schlingensief] und Christoph Marthaler so
geprägt hat, und ertappt sich dabei, wie man anhand der sechs Jahre alten
Inszenierung überprüft, ob der Regisseur und Autor René Pollesch altert.
Und erlebt schon beim Auftritt des Trios Wuttke, Kathrin Angerer und Marie
Rosa Tietjen den ersten Glücksmoment.
Mit entwaffnendem Charme dekonstruiert hier Pollesch die klassischen
Bühnenmittel, nachdem er sich von Bühnenbildnerin Barbara Steiner einen
Vorhang und viele Showleuchten auf die Bühne hat setzen lassen. Dem
Bühnenpersonal den großen Auftritt zu ermöglichen, diesen aber im
Live-Moment durch dasselbe Personal negieren zu lassen und das mit einer
Aura von spielerischer Leichtigkeit zu umgeben, das ist Pollesch-Regie at
it’s best.
## Polleschlose Zeiten werden anbrechen
Dem gebürtigen Hessen gelang es immer wieder neu, als Autor und Regisseur
Leichtigkeit zu erschaffen, die nichts gemein hatte mit Oberflächlichkeit.
In Verbindung mit der von ihm entwickelten neuartigen Form des entspannten
kollektiven Nachdenkens auf der Bühne verschafft ihm das ein
Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen Theaterkosmos. Nur Pollesch
inszeniert Pollesch, war seine Prämisse. Polleschlose Zeiten werden also
anbrechen, bis die Rechte an seinen Werken freigegeben sind.
Noch sitzt man in der Berliner Volksbühne, die ohne Intendanten [4][vorerst
nur mit Interimsleitung weitermacht], weiterexistiert, und genießt diese
Pollesch-Inszenierung als langen Theatermoment. Man genießt konkret das
scheinbar antriebslose Rumstehen des qualifizierten Bühnenpersonals und
empfindet es als Privileg, an dessen (und Polleschs) Gedanken über Theater,
Leben, Tod und eben den Knacks im Leben andocken zu können.
„Man denkt, man hätte sein Leben vergessen, aber das Problem ist nicht, das
man es vergessen hätte, sondern es sprachlich nicht zu greifen ist. Man
kann das nicht beschreiben, nicht nachträglich zu einem Konzept machen, es
ist nicht fassbar“, schreibt Pollesch 2018. Wuttke sagt weiter: „Man hat
doch keinen guten Ausgang, wenn vorher alles richtig war…. Das Leben kann
nicht gut ausgehen, aber der Knacks. Der kann das wohl.“
Es ist der immens hohe Grad an Aufrichtigkeit, der bei diesem Versuch, das
Leben zu (be)greifen, berührt und einen die Poren weit öffnen lässt, um bei
dieser Suche keine Abzweigung zu verpassen. Die wunderbarsten Pfade sind
die, die plötzlich an den verwunschensten Orten vorbeikommen, zum Beispiel
einer Autowaschanlage. Pollesch hat hier für Kathrin Angerer, die neben
Sophie Rois wohl die begnadetste Pollesch-Darstellerin ist, einen
bildergesättigten Sprach-Slapstick geschrieben, den Angerer mit der ihr
eigenen ernsthaften Verwunderung performt.
Meine Lieblings-Pollesch-Gedanken-Pirouette ist in diesem Stück: „Aber
warum ist der Knacks so tief? Der ist doch nur an der Oberfläche. So ein
Teller hat doch kein dramatisches Innenleben. Wie kommt der letztlich nach
innen? Und was ist das überhaupt: das Innen. Was soll das dann sein? Das
sind die Fragen, die sich anschließen.“ Das Volksbühnen-Publikum schickt
den Applaus Richtung Bühnenhimmel.
Es fällt wieder auf: Polleschs Texte und sein Regie-Humor haben [5][in
diesem Theater ihren idealen Resonanzraum]. Es braucht genau diesen
Bühnenraum, diesen Saal als Echoraum und dieses Publikum, damit diese
besondere Pollesch-Energie entsteht. Pollesch würde vermutlich
kommentieren: „Wir brauchen noch ein Ende. Klatschen Sie nicht zu laut. Die
Welt ist sehr alt. Sie könnte einen Sprung kriegen.“
26 Oct 2024
## LINKS
[1] /Das-Theater-von-Rene-Pollesch/!5995200
[2] /Frank-Castorf-am-Berliner-Ensemble/!6034026
[3] /Doku-ueber-Christoph-Schlingensief/!5704145
[4] /Interimsintendanz-fuer-die-Volksbuehne/!6040843
[5] /Berliner-Volksbuehne-gedenkt-Pollesch/!6004839
## AUTOREN
Katja Kollmann
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