| # taz.de -- Tanzperformance auf Europatour: Die lange Nacht des Überlebens | |
| > Mit der Performance „Nôt“ eröffnet Marlene Monteiro Freitas das | |
| > Sommerfest auf Kampnagel in Hamburg. In Avignon hatte sie für Uneinigkeit | |
| > gesorgt. | |
| Bild: Die Figuren widersetzen sich der Identifikationin „Nôt“ von Marlene … | |
| So eine Enttäuschung. So eine große, wunderschöne Enttäuschung: Marlene | |
| Monteiros Freitas' alptraumhafte Produktion „Nôt“ hat bei ihrer | |
| Uraufführung im Ehrenhof des Papspalasts von Avignon Anfang Juli das | |
| Spektakelversprechen der monumentalen gotischen Kulisse gekonnt ins Leere | |
| laufen lassen. Sie hat alle Pathosgesten vermieden, zu denen die | |
| mittelalterliche Prunkarchitektur einlädt, hat jede Sinnerwartung chillig | |
| ausgetänzelt und die Wahrnehmung des Bühnengeschehens komplett fragwürdig | |
| gemacht. | |
| Nun kommt die Produktion nach Deutschland, um dann über Genf, Lissabon und | |
| Athen weiter durch Europa zu touren. Mitte August ist sie in Berlin zu | |
| sehen, wo die kapverdische Choreografin ab 2026 zum neuen künstlerischen | |
| Leitungsteam der Volksbühne gehören wird. Schon am Mittwoch aber feiert | |
| „Nôt“ in Hamburg Deutschlandpremiere. Als Eröffnungsstück des Sommerfests | |
| soll die Performance auf Kampnagel beweisen, dass sie sich auch in | |
| vergleichweise neutralen Theaterräumen behaupten kann. Keine Ahnung, ob das | |
| funktioniert. | |
| Freitas nimmt mit dem Stück Bezug auf „1001 Nacht“. Tatsächlich heißt �… | |
| im Kreolischen der nördlichen Kapverden einfach nur Nacht. Ein Nebensinn | |
| ist auch dem Kreolistik-Prof Jürgen Lang nicht bekannt, teilt er der taz | |
| auf Nachfrage, und sicher keine verneinende Bedeutung. Und doch wirkt diese | |
| generisch schwer fassbare Arbeit, wie eine große lustvolle Verweigerung: | |
| „Nôt what you expect“ hat die Kritikerin Camille Doucet das im Theaterblog | |
| „Pleins Feux“ in einem treffenden Wortspiel zusammengefasst. | |
| ## Fluten von Bildern und Szenen in rascher Folge | |
| Einen erzählerischen Bogen, den doch der Bezug auf die arabischen Märchen | |
| zu verheißen scheint, gibt es nicht. Was es gibt sind Fluten von Bildern | |
| und Szenen in rascher Folge. Manchmal ist man froh, hinten zu setzen, wo | |
| Freitas und Francisco Rolo am Lichtsteuerpult live die Spots und die | |
| Geräusch- und Soundkulisse ans Bühnengeschehen anpassen. | |
| Denn erstens ist es toll, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich von dem | |
| Rhythmus ihres eigenen Stücks mitreißen lassen, es hinten gleichsam für | |
| sich am Ton- und Technikplatz tanzen. Andererseits beschwört halt eine | |
| bewusst quälend lang ausgespielte Sequenz mit einem Nachttopf, der erst | |
| gefüllt und dann mit den Zuschauer*innen in den vorderen Reihen geteilt | |
| wird, mit großem Nachdruck den koprophagen Fäkalhumor der Märchensammlung. | |
| Im Kopf, als Erinnerung, lassen sich manche der Figuren, die auf der Bühne | |
| Körper gewinnen, der literarischen Vorlage annähern, die meisten aber nicht | |
| mit ihr identifizieren: Auf der von weißen Gitterwänden gegliederten Bühne | |
| begleiten drei Männer, in drei stramm mit gebleichten Laken bezogenen | |
| Betten liegend auf ihren vorgeschnallten Snare-Drums Igor Strawinskys | |
| drängende „Noces“-Suite, die metallisch vom Band ertönt. Aber wären das … | |
| die Wiedergänger der drei Bettelmönche? | |
| ## Mit reduzierten Salsaschritten | |
| Und: Sicher gibt es Kannibalismus in „1001 Nacht“ – aber doch keine | |
| Geschichte, in der mehrere mit starr lächelnden Puppengesichtern maskierte | |
| Personen einander wechselseitig das Fleisch von den Rippen schneiden, um es | |
| zu verpeisen? Auch erlaubt die in den Programmen als Tanztheater | |
| rubrizierte Bühnenbespielung den acht Akteur*innen meist nur | |
| robotisch-eckige Trippelbewegungen. | |
| Im herkömmlichen Sinne tanzt mit am meisten Joãozinho Costa: Noch bevor es | |
| richtig losgegangen zu sein scheint, schwingt er sich, im weißen | |
| Plissee-Röckchen, das er ab und an neckisch lüftet, mit reduzierten | |
| Salsaschritten vorne links auf der Bühne zu einer geloopten Musiksequenz | |
| ein. | |
| Das hat etwas raubtierhaft-lauerndes, das zugleich | |
| majestätisch-selbstbewusst wirkt: Man wird in ihm die aus Kränkung | |
| gespeiste Grausamkeit des Sultan Shahriyar verkörpert sehen. so wird man in | |
| Mariana Tembe die Heldin erkennen: Indem sie die Bühne entschlossen | |
| durchquert nimmt die beinlose Tänzerin den Raum in Besitz. Sie macht sich | |
| selbst, macht ihren Körper dank seiner Behinderung zum Ausdruck eines | |
| unbezwingbaren Überlebenswillens. | |
| ## Die Kritik aufs Schönste gespalten | |
| Er wirkt, als könnte dem nichts etwas anhaben, noch nicht einmal der | |
| geifernde Hass auf Menschen mit Behinderung, in den Figaro-Rezensent | |
| Anthony Palou den Frust über sein offenkundiges, eigenes Unverständnis | |
| angesichts dieser Performance entladen hat. Tatsächlich hat die Produktion | |
| in Frankreich sowohl das Publikum, als auch die Kritik aufs Schönste | |
| gespalten, bis in die Redaktionen hinein: Nicht nur bei der Premiere | |
| treffen Buhs auf frenetischen Beifall. | |
| Und während Marie Sorbier von Radio France sich in einem Spektakel ohne | |
| jede schöpferische gelangweilt hat, hat ihr Kollege Siegfried Forster vom | |
| gleichen Sender zugesehen, wie sich eine „fulimante Performance“ im | |
| Papstpalast „mit Kraft und Wahnsinn“ entfaltet habe. Mit ihr habe sich | |
| Freitas „ein für alle Mal in die Geschichte des Tanz' und des Theaters | |
| eingeschrieben“. | |
| Manche schreiben Kunst die Aufgabe zu Einheit und Harmonie zu stiften. Aber | |
| das Gegenteil ist ja wahr. Wirklich gut ist sie erst, wenn sie diese | |
| Zwangsversöhnungen aufbricht, und das heißt eben auch, dass sie den Lack | |
| der Zivilisation von als Intellektuellen getarnten Unmenschen absprengen | |
| muss, und eine allgemeine Uneinigkeit herstellt. Über die lässt sich | |
| nämlich denken, reden, auch streiten. Und das sogar im Frieden. Das sollte | |
| auch in Deutschland möglich sein. | |
| 6 Aug 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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