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# taz.de -- Deutsche Migrationspolitik: Wegsperren, wegschicken
> Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft
> verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis.
Bild: Shreteh verbrachte 37 Tage in Haft
Suhl/Büren taz | Ali Shreteh hat geweint, geschrien und das Ticket für den
Abschiebeflieger zerrissen. Gebracht hat all das nichts. Ende November
wurde der 21-jährige Syrer nach Kroatien abgeschoben. Die letzten 37 Tage
vor seiner Abschiebung verbrachte er in Haft. Eine Straftat hat Shreteh
nicht begangen. Doch in Deutschland, so sagt er, habe man ihn wie einen
Verbrecher behandelt. „Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um
in Deutschland eingesperrt zu werden.“
Mitte Dezember steht Shreteh in schwarzen Skinny-Jeans und dunkelgrüner
Bomberjacke vor einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Kleinstadt Suhl,
mitten im Thüringer Wald. Für das eisige Wetter ist er eigentlich zu kalt
angezogen. Seine dunklen Augen wirken müde, immer wieder lächelt er
schüchtern. Er ist nach einer guten Woche in Kroatien nach Deutschland
zurückgekehrt, um erneut Asyl zu beantragen.
Wenn er von seiner Zeit in Abschiebehaft erzählt, lacht er manchmal kurz
auf, greift sich an die Stirn, oder schüttelt ungläubig den Kopf. Er
fingert an seinem Reißverschluss herum, scheint nicht genau zu wissen, was
er mit seinen Händen machen soll. Schließlich zündet er sich eine Zigarette
an. Die Sammelunterkunft verlässt Shreteh dieser Tage nicht häufig. „Ich
muss vorsichtig sein“, sagt er.
Alleine Bahn fahren, in der Stadt spazieren gehen oder ein Paket Mate-Tee
in dem kleinen arabischen Laden im Zentrum von Suhl kaufen – all das sei
nicht ungefährlich. Dass Shreteh erneut in Abschiebehaft kommt, ist nicht
ausgeschlossen. „Ich kann diese Angst nicht ganz abschütteln“, sagt der
junge Mann und blinzelt unruhig.
Die Geschichte von Shreteh ist nicht außergewöhnlich. Jährlich inhaftiert
der deutsche Staat mehrere tausend Asylsuchende, um sie leichter abschieben
zu können. Ausländerbehörden können Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam
beantragen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sich die betroffene Person
einer geplanten Abschiebung entziehen will und eine Abschiebung praktisch
und rechtlich machbar ist. Ein Amtsgericht entscheidet dann, ob die Person
in Haft kommt.
Die rechtlichen Hürden für die Anordnung von Ausreisegewahrsam sind
niedriger als die für Abschiebehaft, auch die maximale Haftdauer
unterscheidet sich. Bisher galt Abschiebehaft als „Ultima Ratio“ – also a…
letztes Mittel –, wie das Bundesinnenministerium schreibt. Steht eine
mildere Maßnahme zur Verfügung, um die Abschiebung zu vollziehen, darf
keine Haft angeordnet werden.
Die Haftzahlen steigen seit Jahren. [1][Während 2015 bundesweit 1.850
Menschen in Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam saßen, waren es vier Jahre
später 5.208, wie aus einer großen Anfrage der Linken im Bundestag 2021
hervorging]. In den Folgejahren waren die Zahlen pandemiebedingt gesunken.
Anfragen der taz an die Innen- und Justizministerien der Länder zeigen:
2024 wurden in Deutschland 6.498 Menschen im Rahmen von Abschiebehaft oder
Ausreisegewahrsam inhaftiert, deutlich mehr also als vor der Pandemie.
Gleichzeitig war die Gesamtzahl der Abschiebungen niedriger als 2019.
In 13 dafür vorgesehenen Einrichtungen stehen bundesweit rund 800
Abschiebehaftplätze zur Verfügung. Mehrere hundert weitere sollen in den
kommenden Monaten entstehen, unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern,
Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Auch die
durchschnittliche Haftzeit steigt. 2019 saßen Menschen im Schnitt 19,1 Tage
in Abschiebehaft, 2024 waren es durchschnittlich 24,4 Tage.
Dafür sind laut Bundesländern unter anderem die Rechtsverschärfungen der
vergangenen Monate verantwortlich. Im Februar 2024 hatte die Ampelregierung
[2][das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen] – eine von
zahlreichen Aslyrechtsverschärfungen in den letzten dreieinhalb Jahren.
Menschen können seitdem statt bisher 10 bis zu 28 Tage im
Ausreisegewahrsam festgehalten werden. Im Rahmen von Abschiebehaft können
Menschen nun 6 Monate inhaftiert werden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 18
– vorher waren es maximal 3 Monate gewesen.
Auch die möglichen Haftgründe wurden erweitert. Nun kann zum Beispiel schon
eine unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet ausreichen, um ein halbes Jahr
in Haft zu rechtfertigen. Ob die Rechtsverschärfungen ihren Zweck einer
konsequenteren Abschiebepraxis erfüllen, ist fraglich. Die Folgen für die
betroffenen Menschen wiegen dagegen schwer. Unter einer CDU-geführten
Bundesregierung könnte sich die Lage noch deutlich zuspitzen.
In ihrem Fünfpunkteplan, den die Union vergangenen Mittwoch im Notfall auch
mit Stimmen der AfD durch den Bundestag bringen wollte, fordert sie, dass
ausreisepflichtige Personen künftig „unmittelbar in Haft genommen werden“
sollen. Container und alte Kasernen sollen genutzt werden, um mehr
Haftplätze zu schaffen. Im Wahlprogramm fordert die Union zudem eine Art
Beugehaft: Straftäter:innen sollen nach Absitzen der Strafhaft für
unbestimmte Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Bis sie
freiwillig ausreisen.
Es ist still im größten Abschiebegefängnis Deutschlands. Mitte Januar ist
die Sonne noch zu schwach, um den Schnee im Innenhof zum Schmelzen zu
bringen. Dicke Betonmauern und Stacheldrahtzaun umgeben das Gelände der
ehemaligen Nato-Kaserne, die mitten in einem Waldstück bei Büren liegt,
einer Stadt bei Paderborn. Kameras überwachen den Bereich rund um die
Mauer, die an der höchsten Stelle 12 Meter in den blauen Himmel ragt. Die
Fenster der roten Backsteingebäude, in denen 124 Männer auf ihre
Abschiebung warten, sind von außen vergittert.
„Die Menschen genießen bei uns in Haft eigentlich ein normales Leben, nur
eben minus die Freiheit“, sagt Johanna Korter, die die Einrichtung seit
Mitte 2024 leitet, während sie durch den Schnee stapft. Fotos vom
Stacheldrahtzaun wolle man lieber nicht in der Zeitung sehen, so etwas
könne leicht aus dem Kontext gerissen werden. Hier in Büren sei man stolz
auf das vielfältige Freizeitangebot, das man den Inhaftierten biete. Einen
Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es.
In die dunklen Stahltüren der Zellen sind kleine Luken eingebaut. „Um zu
gucken, ob der Untergebrachte noch lebt“, erklärt ein uniformierter Beamte,
der über das Gelände führt. In jeder Zelle steht ein einfaches Bett, ein
kleiner Tisch, außerdem Kühlschrank, Wasserkocher und ein Fernseher. Der
Boden ist grau gefliest, in jeder Zelle gibt es eine Toilette. In den
hellblau gestrichenen Gängen hängen große Digitaluhren von der Decke. An
den roten Ziffern können die Gefangenen ablesen, wie viel Zeit bleibt,
bevor sie nach Kroatien, Bulgarien, Afghanistan oder in den Iran
abgeschoben werden. Mit ihnen zu sprechen, sei aus organisatorischen
Gründen nicht möglich, hatte die Pressestelle im Vorfeld mitgeteilt.
Wer in Büren ankommt, muss zuerst in die sogenannte Kammer. Ein weißer
Raum, in dessen Mitte ein blauer Stuhl steht. Die Inhaftierten müssen sich
ausziehen, bevor ein Uniformierter sie durchsucht. Bargeld und Smartphones
müssen abgegeben werden. Sie bekommen Kochgeschirr, ein Tastenhandy mit
SIM-Karte, Kleidung und Turnschuhe ausgehändigt. Besonders wichtig sei,
dass keine spitzen Gegenstände mit aufs Gelände genommen würden, erklärt
ein junger Uniformierter, der einen Schlüsselbund und Pfefferspray am
Gürtel trägt. Immer wieder war es in deutschen Abschiebehafteinrichtungen
zu Suiziden gekommen, so auch 2018 in Büren. Damals hatte sich ein
41-jähriger Georgier in seiner Zelle erhängt.
Asyl- und Aufenthaltsrechtsexpert:innen schlagen Alarm. Die Zahl der
unrechtmäßig Inhaftierten sei extrem hoch, sagt etwa Rechtsanwalt Peter
Fahlbusch, der seit 2001 über 2.500 Betroffene von Abschiebehaft vor
Gericht vertreten hat. „In rund der Hälfte der von mir geführten Verfahren
haben Gerichte später entschieden, dass meine Mandant:innen zumindest
teilweise zu Unrecht in Haft saßen“, sagt Fahlbusch. Eine Untersuchung der
Universität Hamburg kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. [3][Demnach stellten
sich 60 Prozent der Abschiebehaftbeschlüsse, die zwischen 2015 und 2022 vor
dem Bundesgerichtshof landeten, als rechtswidrig heraus.]
In vielen Fällen werde nicht sorgfältig genug geprüft, ob ein Haftgrund
vorliege, sagt Fahlbusch. „Die Ausländerbehörde behauptet dann zum
Beispiel, sie habe die Betroffenen bei einem Abschiebungsversuch nicht
vorgefunden oder es bestehe Fluchtgefahr, obwohl das nicht ausreichend
belegt werden kann.“ Manchmal würden auch Menschen inhaftiert, bei denen
gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind. Auch die Haftdauer
sei häufig nicht gerechtfertigt.
Besonders problematisch sei, dass in den meisten Fällen Monate oder Jahre
vergingen, bis die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt werde. In der
Zwischenzeit sei die Mehrzahl der inhaftierten Menschen bereits abgeschoben
worden.
Peter Fahlbusch sagt, zwischen Ausländerbehörden und Amtsgerichten habe
sich zum Teil ein bedenkenswerter Mechanismus etabliert. „Wenn die
Ausländerbehörde einen Haftantrag stellt, sagen die Gerichte oft: Das wird
schon so passen.“ Dafür gebe es unterschiedliche Gründe. Hin und wieder
hätten Amtsrichter:innen nicht ausreichend Erfahrung mit
aufenthaltsrechtlichen Fragen. Außerdem bestehe ein nicht zu
unterschätzender politischer Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen. Es
mache gelegentlich den Eindruck, dass dieser Druck auch auf die
Haftentscheidungen der Gerichte durchschlage.
Auf taz-Anfrage dementiert ein Großteil der Justizministerien der Länder,
dass Fehlentscheidungen in dem Ausmaß, von dem Expert:innen berichten,
getroffen würden. Die Ausländerbehörden und Amtsgerichte würden stets
sorgfältig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen würden,
heißt es. Systematisch erhoben wird die Zahl der zu Unrecht inhaftierten
Personen in den meisten Bundesländern nicht. Auch konkrete Maßnahmen gegen
unrechtmäßige Inhaftierungen von abgelehnten Asylbewerber:innen können
auf Anfrage nicht genannt werden. Peter Fahlbusch sagt: „Abschiebehaft und
die dazugehörigen Verfahren sind eine ziemliche Blackbox.“ Es sei
unverständlich, dass keine Zahlen zu unrechtmäßigen Inhaftierungen erhoben
würden.
In den Justizministerien der Länder sieht man das offenbar anders. Bei der
Justizministerkonferenz im Dezember stimmte eine Mehrheit dafür, dass
Betroffenen von Abschiebehaftverfahren in Zukunft kein Pflichtanwalt mehr
zur Verfügung gestellt werden solle. Die verpflichtende Beiordnung eines
Rechtsbeistandes für Betroffene von Abschiebehaftverfahren war erst im
Rahmen des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ im Februar eingeführt wor…
– auf Drängen der Grünen.
Peter Fahlbusch sagt: „Dass die Justizministerkonferenz den Paragrafen
wieder abschaffen möchte, ist skandalös.“ Zwar sei die bisherige Regelung
nicht optimal, denn in der Praxis würden häufig Anwält:innen bestellt,
die sich nicht vertieft mit dem Aufenthaltsrecht auskennen würden. Aber
immerhin sei die Beiordnung von Pflichtanwält:innen ein erster Schritt,
um die Rechte der Betroffenen zu wahren.
In dem Beschluss der Justizministerkonferenz heißt es, die Verfahren würden
durch die Bestellung von Pflichtanwält:innen „zeitintensiver sowie
komplexer“. Rückführungen würden dadurch erschwert. Dass der Paragraf zu
einer Mehrbelastung der Gerichte geführt habe, möge stimmen, sagt Peter
Fahlbusch. „Nur: Es war schon immer etwas mühseliger, rechtsstaatlich zu
verfahren.“
Die Bundesländer argumentieren auf Anfrage, in vielen Fällen würden
Abschiebungen scheitern, weil sich die Betroffenen der Maßnahme entziehen
würden. Abschiebehaft wirke dem entgegen.
Der Preis, den die Länder dafür zahlen, ist hoch, auch finanziell. Die
Innenministerkonferenz schätzte im Juni 2024, dass der Betrieb einer
Haftanstalt mit 100 bis 200 Plätzen mindestens 5 bis 15 Millionen Euro im
Jahr erfordere. Der Neubau einer Einrichtung dieser Größe koste, wie
Erfahrungen aus Bayern zeigen würden, knapp 58 Millionen Euro. Dazu kommen
Entschädigungssummen, die die Länder im Falle einer unrechtmäßigen
Inhaftierung zahlen müssen.
Laut Peter Fahlbusch beläuft sich die Entschädigung im Schnitt auf 75 Euro
pro Tag, den eine Person zu Unrecht in Haft saß. Geht man davon aus, dass
davon jährlich tausende Personen betroffen sind, die meist wochenlang in
Haft sitzen, kämen mehrere Millionen Euro dazu. Peter Fahlbusch sagt, es
sei wichtig, Haftverfahren weiterzuführen, auch wenn die Menschen schon
abgeschoben oder anderweitig aus Haft entlassen wurden. „Wenn der Staat am
Ende Entschädigungszahlungen leisten muss, wird in Zukunft vielleicht
genauer hingeschaut.“
Im Suhler Stadtzentrum duftet es nach Glühwein und Schmalzgebäck. Während
Ali Shreteh über den Weihnachtsmarkt schlendert, wirkt er entspannt. „Ich
will, dass Deutschland mein Zuhause wird“, sagt er. Er sei erleichtert,
wieder hier zu sein, habe aber gleichzeitig Angst, wie es weitergehe. „Was
ist schlimmer, ein kroatischer Polizeihund, der sich in deinem Arm
festbeißt, oder ein paar Wochen im deutschen Gefängnis?“, fragt er und weiß
selbst keine Antwort. [4][Immer wieder berichten Asylsuchende von
Polizeigewalt und Pushbacks durch kroatische Behörden.] Auch Shreteh hat
solche Erfahrungen gemacht.
„Deutschland hat für mich zwei Gesichter“, sagt Shreteh. Da seien Hoffnung
und der Glaube an eine bessere Zukunft. Auf der anderen Seite stünden
Zweifel, Angst und Enttäuschung. Die Enttäuschung, von der Shreteh erzählt,
beginnt zwei Monate zuvor. Als Shreteh Mitte Oktober von der
Ausländerbehörde des Unstrut-Hainich-Kreises in Thüringen vorgeladen wird,
um seine Duldung zu verlängern, warten dort Polizeibeamte auf ihn. „Sie
haben mir Handschellen an Händen und Füßen angelegt und mich zur
Polizeistation gebracht“, erzählt er. Schon am nächsten Tag wird er das
erste Mal nach Kroatien abgeschoben. „Ich war von meiner Festnahme komplett
überrumpelt“, sagt Shreteh.
Rund eine Woche später kehrt der junge Mann nach Deutschland zurück und
wird erneut von Polizeibeamten aufgegriffen. Diesmal an einem Bahnhof in
Nordthüringen. Nach einer Nacht in der Zelle kommt er vor Gericht. Erst
hier erfährt Shreteh, dass er eingesperrt werden soll. In dem Haftantrag
der Ausländerbehörde, der der taz vorliegt, heißt es, Shreteh habe in
einer Befragung gesagt, dass er nicht nach Kroatien zurückkehren wolle,
obwohl er ausreisepflichtig sei. Außerdem sei Shreteh illegal in das
Bundesgebiet eingereist.
Gerade einmal eine Stunde und 18 Minuten dauert die Anhörung vor dem
Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt. „Der Betroffene teilt mit, dass er jetzt
in einen Hungerstreik treten wird und er sterben möchte“, steht im
Sitzungsprotokoll. Auch, dass er nun freiwillig nach Kroatien ausreisen
wolle, beteuert Shreteh. Die beiden letzten Sätze, die der 21-jährige vor
Gericht sagt, lauten: „Ich möchte mich umbringen im Knast. Ich kann das
nicht aushalten.“
Das Gericht entscheidet, dass Shreteh bis Ende November in Haft bleiben
muss. Weil Thüringen bisher über keine eigene Einrichtung verfügt, kommt
Shreteh nach Ingelheim, einer Kleinstadt bei Mainz. Auf taz-Anfrage
schreibt das Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt, dass Abschiebehaftverfahren
zwar relativ selten vorkämen, grundsätzlich aber ausreichend Ressourcen
zur Verfügung stünden, um Haftanträge sorgfältig zu prüfen. Ob sich
Shretehs Inhaftierung als rechtswidrig herausstellen könnte, ist unklar.
Gegen den Haftbeschluss hat Peter Fahlbusch, der den Fall übernommen hat,
Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus.
Als Shreteh in der Abschiebehafteinrichtung ankommt, fallen ihm zuerst die
grünen Gitterstäbe und die sterilen Flure auf. „Alles hat mich an die
Gefängnisserien erinnert, die ich früher gerne geschaut habe.“ Diese
Fernsehserien lösten mittlerweile kalte Schauer auf seinem Nacken aus,
erzählt er.
Die ersten acht Tage verbringt Shreteh in Einzelhaft. „Als die Zellentür
zum ersten Mal geschlossen wurde, wusste ich: jetzt bin ich alleine mit
meinen Gedanken.“ Sein Herz sei gerast, er habe sich auf den kalten Boden
gelegt und gewartet, bis er besser atmen konnte. „Die Uniformierten haben
mir gesagt, die ersten Tage sind ein Test.“ Auf Anfrage schreibt die
Einrichtung in Ingelheim: „Neuankömmlinge werden zu Beginn ihres
Aufenthaltes im geschlossenen Flur untergebracht.“ So könne man die
Bedürfnisse der untergebrachten Personen besser beurteilen.
Die Bedingungen in Abschiebehafteinrichtungen sind umstritten.
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2014 und 2022 schreiben
vor, dass diese nicht wie Strafhaft gestaltet werden darf. Die
Innenministerien der Bundesländer betonen auf Anfrage, mehr Hofgang,
Freizeitangebote und eine engmaschige psychologische Unterstützung würden
Abschiebehaft im Gegensatz zur Strafhaft auszeichnen. Von der
Abschiebehafteinrichtung in Ingelheim heißt es, Gitter, Mauern und Zäune
seien mangels geeigneter Alternativen hinzunehmen.
In Büren gibt man sich Mühe, die Unterschiede zur Strafhaft betonen. Die
bunten Kugeln im Billardzimmer, Crosstrainer und Hantelbänke im Fitnessraum
und der verschneite Fußballplatz sollen die Inhaftierten wohl auf andere
Gedanken bringen. Nach einer Woche Einzelhaft können sie sich innerhalb der
Betonmauern tagsüber frei bewegen, mit ihren Tasten-Handys telefonieren und
rauchen.
Bei ihrer Ankunft wird den Inhaftierten Tabak angeboten. „Um erst mal ein
bisschen runterzukommen“, erklärt ein Uniformierter, während er die
Schublade mit den roten Tabakpäckchen, Filtern und Blättchen präsentiert.
Für zwei bis drei Euro Stundenlohn dürfen die Inhaftierten unter Anleitung
Holzarbeiten herstellen, die später verkauft werden. Ein Psychologe, drei
Sozialarbeiter, zwei Seelsorger und ein Imam sollen sich um den Rest
kümmern.
Ein Seelsorger, der in einer anderen großen deutschen
Abschiebehafteinrichtung tätig ist, berichtet der taz am Telefon: „Die
normalen Verdrängungsmechanismen funktionieren in Abschiebehaft nicht.“ Mit
den Gesprächs- und Freizeitangeboten könne man zwar ein bisschen
gegensteuern. „Diese ganz tiefsitzende Verzweiflung der Menschen, kann man
aber nicht auflösen.“
„Im Gefängnis hört man nur traurige Geschichten. Die Träume der Menschen
zerbrechen dort.“, erzählt Shreteh. Eine immer größere Leere habe sich in
ihm ausgebreitet. „Ich habe Syrien so vermisst wie noch nie“, sagt Shreteh.
Seine Stimme klingt heiser, wenn er von seiner Familie spricht, die noch in
seiner Heimatstadt Homs lebe. Auch für sie sei er nach Deutschland
gekommen. „Die Zelle hat sich plötzlich sehr klein angefühlt.“ Zurück na…
Syrien zu gehen sei trotzdem nie eine Option gewesen, sagt Shreteh. Selbst
dann nicht, als er vom Sturz des Assad-Regimes erfahren habe.
Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt auf die lange weiße Narbe, die sein
Schienbein zeichnet. „Als ich 10 Jahre alt war, hat ein Bombensplitter mich
fast mein Bein gekostet.“ Wenige Jahre später sei seine Mutter im
Bürgerkrieg gestorben. „Dass Syrien jetzt sicher ist, ist Quatsch“, sagt
Shreteh und schluckt. Die politische Debatte mache ihm Angst, sagt Shreteh.
Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind ebenfalls Teil des
Fünfpunkteplans der Union.
Als sich seine Zelle Ende November nachts öffnet, stehen dort, laut Aussage
Shretehs, fünf Polizeibeamte. Sie bringen ihn nach Hamburg zum Flughafen,
von dort aus geht der Charterflug nach Kroatien. „Ich habe mich wie ein
Schwerverbrecher gefühlt“, sagt Shreteh und blickt nachdenklich auf seine
Hände.
Er zögert, wenn man ihn fragt, ob er das deutsche Rechtssystem als unfair
wahrnehme. „Ich habe das Gefühl, man kann Glück oder Pech haben“, sagt
Shreteh. „Und ich hatte eben Pech.“ Schulterzucken. „Die deutschen Behör…
haben versucht, mich zu brechen“, sagt Shreteh. „Aber ich habe es
geschafft, da durchzukommen.“
Wohl auch, weil Shreteh Menschen um sich hat, die ihn bei seiner Suche nach
einem sicheren Ort zum Leben unterstützen. Aktivist:innen und Freunde
setzen sich für Shreteh ein, um ihn in Zukunft vor den hohen Betonmauern,
den kroatischen Polizeihunden und dem Alleinsein zu schützen.
30 Jan 2025
## LINKS
[1] https://dserver.bundestag.de/btd/19/316/1931669.pdf
[2] /Nach-Reform-bei-Abschiebungen/!6006808
[3] https://www.juwiss.de/4-2024/
[4] /Zivilorganisation-ueber-Push-Backs/!5932171
## AUTOREN
Joscha Frahm
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