| # taz.de -- Deutsche Migrationspolitik: Wegsperren, wegschicken | |
| > Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft | |
| > verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis. | |
| Bild: Shreteh verbrachte 37 Tage in Haft | |
| Suhl/Büren taz | Ali Shreteh hat geweint, geschrien und das Ticket für den | |
| Abschiebeflieger zerrissen. Gebracht hat all das nichts. Ende November | |
| wurde der 21-jährige Syrer nach Kroatien abgeschoben. Die letzten 37 Tage | |
| vor seiner Abschiebung verbrachte er in Haft. Eine Straftat hat Shreteh | |
| nicht begangen. Doch in Deutschland, so sagt er, habe man ihn wie einen | |
| Verbrecher behandelt. „Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um | |
| in Deutschland eingesperrt zu werden.“ | |
| Mitte Dezember steht Shreteh in schwarzen Skinny-Jeans und dunkelgrüner | |
| Bomberjacke vor einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Kleinstadt Suhl, | |
| mitten im Thüringer Wald. Für das eisige Wetter ist er eigentlich zu kalt | |
| angezogen. Seine dunklen Augen wirken müde, immer wieder lächelt er | |
| schüchtern. Er ist nach einer guten Woche in Kroatien nach Deutschland | |
| zurückgekehrt, um erneut Asyl zu beantragen. | |
| Wenn er von seiner Zeit in Abschiebehaft erzählt, lacht er manchmal kurz | |
| auf, greift sich an die Stirn, oder schüttelt ungläubig den Kopf. Er | |
| fingert an seinem Reißverschluss herum, scheint nicht genau zu wissen, was | |
| er mit seinen Händen machen soll. Schließlich zündet er sich eine Zigarette | |
| an. Die Sammelunterkunft verlässt Shreteh dieser Tage nicht häufig. „Ich | |
| muss vorsichtig sein“, sagt er. | |
| Alleine Bahn fahren, in der Stadt spazieren gehen oder ein Paket Mate-Tee | |
| in dem kleinen arabischen Laden im Zentrum von Suhl kaufen – all das sei | |
| nicht ungefährlich. Dass Shreteh erneut in Abschiebehaft kommt, ist nicht | |
| ausgeschlossen. „Ich kann diese Angst nicht ganz abschütteln“, sagt der | |
| junge Mann und blinzelt unruhig. | |
| Die Geschichte von Shreteh ist nicht außergewöhnlich. Jährlich inhaftiert | |
| der deutsche Staat mehrere tausend Asylsuchende, um sie leichter abschieben | |
| zu können. Ausländerbehörden können Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam | |
| beantragen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sich die betroffene Person | |
| einer geplanten Abschiebung entziehen will und eine Abschiebung praktisch | |
| und rechtlich machbar ist. Ein Amtsgericht entscheidet dann, ob die Person | |
| in Haft kommt. | |
| Die rechtlichen Hürden für die Anordnung von Ausreisegewahrsam sind | |
| niedriger als die für Abschiebehaft, auch die maximale Haftdauer | |
| unterscheidet sich. Bisher galt Abschiebehaft als „Ultima Ratio“ – also a… | |
| letztes Mittel –, wie das Bundesinnenministerium schreibt. Steht eine | |
| mildere Maßnahme zur Verfügung, um die Abschiebung zu vollziehen, darf | |
| keine Haft angeordnet werden. | |
| Die Haftzahlen steigen seit Jahren. [1][Während 2015 bundesweit 1.850 | |
| Menschen in Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam saßen, waren es vier Jahre | |
| später 5.208, wie aus einer großen Anfrage der Linken im Bundestag 2021 | |
| hervorging]. In den Folgejahren waren die Zahlen pandemiebedingt gesunken. | |
| Anfragen der taz an die Innen- und Justizministerien der Länder zeigen: | |
| 2024 wurden in Deutschland 6.498 Menschen im Rahmen von Abschiebehaft oder | |
| Ausreisegewahrsam inhaftiert, deutlich mehr also als vor der Pandemie. | |
| Gleichzeitig war die Gesamtzahl der Abschiebungen niedriger als 2019. | |
| In 13 dafür vorgesehenen Einrichtungen stehen bundesweit rund 800 | |
| Abschiebehaftplätze zur Verfügung. Mehrere hundert weitere sollen in den | |
| kommenden Monaten entstehen, unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern, | |
| Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Auch die | |
| durchschnittliche Haftzeit steigt. 2019 saßen Menschen im Schnitt 19,1 Tage | |
| in Abschiebehaft, 2024 waren es durchschnittlich 24,4 Tage. | |
| Dafür sind laut Bundesländern unter anderem die Rechtsverschärfungen der | |
| vergangenen Monate verantwortlich. Im Februar 2024 hatte die Ampelregierung | |
| [2][das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen] – eine von | |
| zahlreichen Aslyrechtsverschärfungen in den letzten dreieinhalb Jahren. | |
| Menschen können seitdem statt bisher 10 bis zu 28 Tage im | |
| Ausreisegewahrsam festgehalten werden. Im Rahmen von Abschiebehaft können | |
| Menschen nun 6 Monate inhaftiert werden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 18 | |
| – vorher waren es maximal 3 Monate gewesen. | |
| Auch die möglichen Haftgründe wurden erweitert. Nun kann zum Beispiel schon | |
| eine unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet ausreichen, um ein halbes Jahr | |
| in Haft zu rechtfertigen. Ob die Rechtsverschärfungen ihren Zweck einer | |
| konsequenteren Abschiebepraxis erfüllen, ist fraglich. Die Folgen für die | |
| betroffenen Menschen wiegen dagegen schwer. Unter einer CDU-geführten | |
| Bundesregierung könnte sich die Lage noch deutlich zuspitzen. | |
| In ihrem Fünfpunkteplan, den die Union vergangenen Mittwoch im Notfall auch | |
| mit Stimmen der AfD durch den Bundestag bringen wollte, fordert sie, dass | |
| ausreisepflichtige Personen künftig „unmittelbar in Haft genommen werden“ | |
| sollen. Container und alte Kasernen sollen genutzt werden, um mehr | |
| Haftplätze zu schaffen. Im Wahlprogramm fordert die Union zudem eine Art | |
| Beugehaft: Straftäter:innen sollen nach Absitzen der Strafhaft für | |
| unbestimmte Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Bis sie | |
| freiwillig ausreisen. | |
| Es ist still im größten Abschiebegefängnis Deutschlands. Mitte Januar ist | |
| die Sonne noch zu schwach, um den Schnee im Innenhof zum Schmelzen zu | |
| bringen. Dicke Betonmauern und Stacheldrahtzaun umgeben das Gelände der | |
| ehemaligen Nato-Kaserne, die mitten in einem Waldstück bei Büren liegt, | |
| einer Stadt bei Paderborn. Kameras überwachen den Bereich rund um die | |
| Mauer, die an der höchsten Stelle 12 Meter in den blauen Himmel ragt. Die | |
| Fenster der roten Backsteingebäude, in denen 124 Männer auf ihre | |
| Abschiebung warten, sind von außen vergittert. | |
| „Die Menschen genießen bei uns in Haft eigentlich ein normales Leben, nur | |
| eben minus die Freiheit“, sagt Johanna Korter, die die Einrichtung seit | |
| Mitte 2024 leitet, während sie durch den Schnee stapft. Fotos vom | |
| Stacheldrahtzaun wolle man lieber nicht in der Zeitung sehen, so etwas | |
| könne leicht aus dem Kontext gerissen werden. Hier in Büren sei man stolz | |
| auf das vielfältige Freizeitangebot, das man den Inhaftierten biete. Einen | |
| Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es. | |
| In die dunklen Stahltüren der Zellen sind kleine Luken eingebaut. „Um zu | |
| gucken, ob der Untergebrachte noch lebt“, erklärt ein uniformierter Beamte, | |
| der über das Gelände führt. In jeder Zelle steht ein einfaches Bett, ein | |
| kleiner Tisch, außerdem Kühlschrank, Wasserkocher und ein Fernseher. Der | |
| Boden ist grau gefliest, in jeder Zelle gibt es eine Toilette. In den | |
| hellblau gestrichenen Gängen hängen große Digitaluhren von der Decke. An | |
| den roten Ziffern können die Gefangenen ablesen, wie viel Zeit bleibt, | |
| bevor sie nach Kroatien, Bulgarien, Afghanistan oder in den Iran | |
| abgeschoben werden. Mit ihnen zu sprechen, sei aus organisatorischen | |
| Gründen nicht möglich, hatte die Pressestelle im Vorfeld mitgeteilt. | |
| Wer in Büren ankommt, muss zuerst in die sogenannte Kammer. Ein weißer | |
| Raum, in dessen Mitte ein blauer Stuhl steht. Die Inhaftierten müssen sich | |
| ausziehen, bevor ein Uniformierter sie durchsucht. Bargeld und Smartphones | |
| müssen abgegeben werden. Sie bekommen Kochgeschirr, ein Tastenhandy mit | |
| SIM-Karte, Kleidung und Turnschuhe ausgehändigt. Besonders wichtig sei, | |
| dass keine spitzen Gegenstände mit aufs Gelände genommen würden, erklärt | |
| ein junger Uniformierter, der einen Schlüsselbund und Pfefferspray am | |
| Gürtel trägt. Immer wieder war es in deutschen Abschiebehafteinrichtungen | |
| zu Suiziden gekommen, so auch 2018 in Büren. Damals hatte sich ein | |
| 41-jähriger Georgier in seiner Zelle erhängt. | |
| Asyl- und Aufenthaltsrechtsexpert:innen schlagen Alarm. Die Zahl der | |
| unrechtmäßig Inhaftierten sei extrem hoch, sagt etwa Rechtsanwalt Peter | |
| Fahlbusch, der seit 2001 über 2.500 Betroffene von Abschiebehaft vor | |
| Gericht vertreten hat. „In rund der Hälfte der von mir geführten Verfahren | |
| haben Gerichte später entschieden, dass meine Mandant:innen zumindest | |
| teilweise zu Unrecht in Haft saßen“, sagt Fahlbusch. Eine Untersuchung der | |
| Universität Hamburg kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. [3][Demnach stellten | |
| sich 60 Prozent der Abschiebehaftbeschlüsse, die zwischen 2015 und 2022 vor | |
| dem Bundesgerichtshof landeten, als rechtswidrig heraus.] | |
| In vielen Fällen werde nicht sorgfältig genug geprüft, ob ein Haftgrund | |
| vorliege, sagt Fahlbusch. „Die Ausländerbehörde behauptet dann zum | |
| Beispiel, sie habe die Betroffenen bei einem Abschiebungsversuch nicht | |
| vorgefunden oder es bestehe Fluchtgefahr, obwohl das nicht ausreichend | |
| belegt werden kann.“ Manchmal würden auch Menschen inhaftiert, bei denen | |
| gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind. Auch die Haftdauer | |
| sei häufig nicht gerechtfertigt. | |
| Besonders problematisch sei, dass in den meisten Fällen Monate oder Jahre | |
| vergingen, bis die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt werde. In der | |
| Zwischenzeit sei die Mehrzahl der inhaftierten Menschen bereits abgeschoben | |
| worden. | |
| Peter Fahlbusch sagt, zwischen Ausländerbehörden und Amtsgerichten habe | |
| sich zum Teil ein bedenkenswerter Mechanismus etabliert. „Wenn die | |
| Ausländerbehörde einen Haftantrag stellt, sagen die Gerichte oft: Das wird | |
| schon so passen.“ Dafür gebe es unterschiedliche Gründe. Hin und wieder | |
| hätten Amtsrichter:innen nicht ausreichend Erfahrung mit | |
| aufenthaltsrechtlichen Fragen. Außerdem bestehe ein nicht zu | |
| unterschätzender politischer Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen. Es | |
| mache gelegentlich den Eindruck, dass dieser Druck auch auf die | |
| Haftentscheidungen der Gerichte durchschlage. | |
| Auf taz-Anfrage dementiert ein Großteil der Justizministerien der Länder, | |
| dass Fehlentscheidungen in dem Ausmaß, von dem Expert:innen berichten, | |
| getroffen würden. Die Ausländerbehörden und Amtsgerichte würden stets | |
| sorgfältig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen würden, | |
| heißt es. Systematisch erhoben wird die Zahl der zu Unrecht inhaftierten | |
| Personen in den meisten Bundesländern nicht. Auch konkrete Maßnahmen gegen | |
| unrechtmäßige Inhaftierungen von abgelehnten Asylbewerber:innen können | |
| auf Anfrage nicht genannt werden. Peter Fahlbusch sagt: „Abschiebehaft und | |
| die dazugehörigen Verfahren sind eine ziemliche Blackbox.“ Es sei | |
| unverständlich, dass keine Zahlen zu unrechtmäßigen Inhaftierungen erhoben | |
| würden. | |
| In den Justizministerien der Länder sieht man das offenbar anders. Bei der | |
| Justizministerkonferenz im Dezember stimmte eine Mehrheit dafür, dass | |
| Betroffenen von Abschiebehaftverfahren in Zukunft kein Pflichtanwalt mehr | |
| zur Verfügung gestellt werden solle. Die verpflichtende Beiordnung eines | |
| Rechtsbeistandes für Betroffene von Abschiebehaftverfahren war erst im | |
| Rahmen des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ im Februar eingeführt wor… | |
| – auf Drängen der Grünen. | |
| Peter Fahlbusch sagt: „Dass die Justizministerkonferenz den Paragrafen | |
| wieder abschaffen möchte, ist skandalös.“ Zwar sei die bisherige Regelung | |
| nicht optimal, denn in der Praxis würden häufig Anwält:innen bestellt, | |
| die sich nicht vertieft mit dem Aufenthaltsrecht auskennen würden. Aber | |
| immerhin sei die Beiordnung von Pflichtanwält:innen ein erster Schritt, | |
| um die Rechte der Betroffenen zu wahren. | |
| In dem Beschluss der Justizministerkonferenz heißt es, die Verfahren würden | |
| durch die Bestellung von Pflichtanwält:innen „zeitintensiver sowie | |
| komplexer“. Rückführungen würden dadurch erschwert. Dass der Paragraf zu | |
| einer Mehrbelastung der Gerichte geführt habe, möge stimmen, sagt Peter | |
| Fahlbusch. „Nur: Es war schon immer etwas mühseliger, rechtsstaatlich zu | |
| verfahren.“ | |
| Die Bundesländer argumentieren auf Anfrage, in vielen Fällen würden | |
| Abschiebungen scheitern, weil sich die Betroffenen der Maßnahme entziehen | |
| würden. Abschiebehaft wirke dem entgegen. | |
| Der Preis, den die Länder dafür zahlen, ist hoch, auch finanziell. Die | |
| Innenministerkonferenz schätzte im Juni 2024, dass der Betrieb einer | |
| Haftanstalt mit 100 bis 200 Plätzen mindestens 5 bis 15 Millionen Euro im | |
| Jahr erfordere. Der Neubau einer Einrichtung dieser Größe koste, wie | |
| Erfahrungen aus Bayern zeigen würden, knapp 58 Millionen Euro. Dazu kommen | |
| Entschädigungssummen, die die Länder im Falle einer unrechtmäßigen | |
| Inhaftierung zahlen müssen. | |
| Laut Peter Fahlbusch beläuft sich die Entschädigung im Schnitt auf 75 Euro | |
| pro Tag, den eine Person zu Unrecht in Haft saß. Geht man davon aus, dass | |
| davon jährlich tausende Personen betroffen sind, die meist wochenlang in | |
| Haft sitzen, kämen mehrere Millionen Euro dazu. Peter Fahlbusch sagt, es | |
| sei wichtig, Haftverfahren weiterzuführen, auch wenn die Menschen schon | |
| abgeschoben oder anderweitig aus Haft entlassen wurden. „Wenn der Staat am | |
| Ende Entschädigungszahlungen leisten muss, wird in Zukunft vielleicht | |
| genauer hingeschaut.“ | |
| Im Suhler Stadtzentrum duftet es nach Glühwein und Schmalzgebäck. Während | |
| Ali Shreteh über den Weihnachtsmarkt schlendert, wirkt er entspannt. „Ich | |
| will, dass Deutschland mein Zuhause wird“, sagt er. Er sei erleichtert, | |
| wieder hier zu sein, habe aber gleichzeitig Angst, wie es weitergehe. „Was | |
| ist schlimmer, ein kroatischer Polizeihund, der sich in deinem Arm | |
| festbeißt, oder ein paar Wochen im deutschen Gefängnis?“, fragt er und weiß | |
| selbst keine Antwort. [4][Immer wieder berichten Asylsuchende von | |
| Polizeigewalt und Pushbacks durch kroatische Behörden.] Auch Shreteh hat | |
| solche Erfahrungen gemacht. | |
| „Deutschland hat für mich zwei Gesichter“, sagt Shreteh. Da seien Hoffnung | |
| und der Glaube an eine bessere Zukunft. Auf der anderen Seite stünden | |
| Zweifel, Angst und Enttäuschung. Die Enttäuschung, von der Shreteh erzählt, | |
| beginnt zwei Monate zuvor. Als Shreteh Mitte Oktober von der | |
| Ausländerbehörde des Unstrut-Hainich-Kreises in Thüringen vorgeladen wird, | |
| um seine Duldung zu verlängern, warten dort Polizeibeamte auf ihn. „Sie | |
| haben mir Handschellen an Händen und Füßen angelegt und mich zur | |
| Polizeistation gebracht“, erzählt er. Schon am nächsten Tag wird er das | |
| erste Mal nach Kroatien abgeschoben. „Ich war von meiner Festnahme komplett | |
| überrumpelt“, sagt Shreteh. | |
| Rund eine Woche später kehrt der junge Mann nach Deutschland zurück und | |
| wird erneut von Polizeibeamten aufgegriffen. Diesmal an einem Bahnhof in | |
| Nordthüringen. Nach einer Nacht in der Zelle kommt er vor Gericht. Erst | |
| hier erfährt Shreteh, dass er eingesperrt werden soll. In dem Haftantrag | |
| der Ausländerbehörde, der der taz vorliegt, heißt es, Shreteh habe in | |
| einer Befragung gesagt, dass er nicht nach Kroatien zurückkehren wolle, | |
| obwohl er ausreisepflichtig sei. Außerdem sei Shreteh illegal in das | |
| Bundesgebiet eingereist. | |
| Gerade einmal eine Stunde und 18 Minuten dauert die Anhörung vor dem | |
| Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt. „Der Betroffene teilt mit, dass er jetzt | |
| in einen Hungerstreik treten wird und er sterben möchte“, steht im | |
| Sitzungsprotokoll. Auch, dass er nun freiwillig nach Kroatien ausreisen | |
| wolle, beteuert Shreteh. Die beiden letzten Sätze, die der 21-jährige vor | |
| Gericht sagt, lauten: „Ich möchte mich umbringen im Knast. Ich kann das | |
| nicht aushalten.“ | |
| Das Gericht entscheidet, dass Shreteh bis Ende November in Haft bleiben | |
| muss. Weil Thüringen bisher über keine eigene Einrichtung verfügt, kommt | |
| Shreteh nach Ingelheim, einer Kleinstadt bei Mainz. Auf taz-Anfrage | |
| schreibt das Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt, dass Abschiebehaftverfahren | |
| zwar relativ selten vorkämen, grundsätzlich aber ausreichend Ressourcen | |
| zur Verfügung stünden, um Haftanträge sorgfältig zu prüfen. Ob sich | |
| Shretehs Inhaftierung als rechtswidrig herausstellen könnte, ist unklar. | |
| Gegen den Haftbeschluss hat Peter Fahlbusch, der den Fall übernommen hat, | |
| Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus. | |
| Als Shreteh in der Abschiebehafteinrichtung ankommt, fallen ihm zuerst die | |
| grünen Gitterstäbe und die sterilen Flure auf. „Alles hat mich an die | |
| Gefängnisserien erinnert, die ich früher gerne geschaut habe.“ Diese | |
| Fernsehserien lösten mittlerweile kalte Schauer auf seinem Nacken aus, | |
| erzählt er. | |
| Die ersten acht Tage verbringt Shreteh in Einzelhaft. „Als die Zellentür | |
| zum ersten Mal geschlossen wurde, wusste ich: jetzt bin ich alleine mit | |
| meinen Gedanken.“ Sein Herz sei gerast, er habe sich auf den kalten Boden | |
| gelegt und gewartet, bis er besser atmen konnte. „Die Uniformierten haben | |
| mir gesagt, die ersten Tage sind ein Test.“ Auf Anfrage schreibt die | |
| Einrichtung in Ingelheim: „Neuankömmlinge werden zu Beginn ihres | |
| Aufenthaltes im geschlossenen Flur untergebracht.“ So könne man die | |
| Bedürfnisse der untergebrachten Personen besser beurteilen. | |
| Die Bedingungen in Abschiebehafteinrichtungen sind umstritten. | |
| Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2014 und 2022 schreiben | |
| vor, dass diese nicht wie Strafhaft gestaltet werden darf. Die | |
| Innenministerien der Bundesländer betonen auf Anfrage, mehr Hofgang, | |
| Freizeitangebote und eine engmaschige psychologische Unterstützung würden | |
| Abschiebehaft im Gegensatz zur Strafhaft auszeichnen. Von der | |
| Abschiebehafteinrichtung in Ingelheim heißt es, Gitter, Mauern und Zäune | |
| seien mangels geeigneter Alternativen hinzunehmen. | |
| In Büren gibt man sich Mühe, die Unterschiede zur Strafhaft betonen. Die | |
| bunten Kugeln im Billardzimmer, Crosstrainer und Hantelbänke im Fitnessraum | |
| und der verschneite Fußballplatz sollen die Inhaftierten wohl auf andere | |
| Gedanken bringen. Nach einer Woche Einzelhaft können sie sich innerhalb der | |
| Betonmauern tagsüber frei bewegen, mit ihren Tasten-Handys telefonieren und | |
| rauchen. | |
| Bei ihrer Ankunft wird den Inhaftierten Tabak angeboten. „Um erst mal ein | |
| bisschen runterzukommen“, erklärt ein Uniformierter, während er die | |
| Schublade mit den roten Tabakpäckchen, Filtern und Blättchen präsentiert. | |
| Für zwei bis drei Euro Stundenlohn dürfen die Inhaftierten unter Anleitung | |
| Holzarbeiten herstellen, die später verkauft werden. Ein Psychologe, drei | |
| Sozialarbeiter, zwei Seelsorger und ein Imam sollen sich um den Rest | |
| kümmern. | |
| Ein Seelsorger, der in einer anderen großen deutschen | |
| Abschiebehafteinrichtung tätig ist, berichtet der taz am Telefon: „Die | |
| normalen Verdrängungsmechanismen funktionieren in Abschiebehaft nicht.“ Mit | |
| den Gesprächs- und Freizeitangeboten könne man zwar ein bisschen | |
| gegensteuern. „Diese ganz tiefsitzende Verzweiflung der Menschen, kann man | |
| aber nicht auflösen.“ | |
| „Im Gefängnis hört man nur traurige Geschichten. Die Träume der Menschen | |
| zerbrechen dort.“, erzählt Shreteh. Eine immer größere Leere habe sich in | |
| ihm ausgebreitet. „Ich habe Syrien so vermisst wie noch nie“, sagt Shreteh. | |
| Seine Stimme klingt heiser, wenn er von seiner Familie spricht, die noch in | |
| seiner Heimatstadt Homs lebe. Auch für sie sei er nach Deutschland | |
| gekommen. „Die Zelle hat sich plötzlich sehr klein angefühlt.“ Zurück na… | |
| Syrien zu gehen sei trotzdem nie eine Option gewesen, sagt Shreteh. Selbst | |
| dann nicht, als er vom Sturz des Assad-Regimes erfahren habe. | |
| Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt auf die lange weiße Narbe, die sein | |
| Schienbein zeichnet. „Als ich 10 Jahre alt war, hat ein Bombensplitter mich | |
| fast mein Bein gekostet.“ Wenige Jahre später sei seine Mutter im | |
| Bürgerkrieg gestorben. „Dass Syrien jetzt sicher ist, ist Quatsch“, sagt | |
| Shreteh und schluckt. Die politische Debatte mache ihm Angst, sagt Shreteh. | |
| Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind ebenfalls Teil des | |
| Fünfpunkteplans der Union. | |
| Als sich seine Zelle Ende November nachts öffnet, stehen dort, laut Aussage | |
| Shretehs, fünf Polizeibeamte. Sie bringen ihn nach Hamburg zum Flughafen, | |
| von dort aus geht der Charterflug nach Kroatien. „Ich habe mich wie ein | |
| Schwerverbrecher gefühlt“, sagt Shreteh und blickt nachdenklich auf seine | |
| Hände. | |
| Er zögert, wenn man ihn fragt, ob er das deutsche Rechtssystem als unfair | |
| wahrnehme. „Ich habe das Gefühl, man kann Glück oder Pech haben“, sagt | |
| Shreteh. „Und ich hatte eben Pech.“ Schulterzucken. „Die deutschen Behör… | |
| haben versucht, mich zu brechen“, sagt Shreteh. „Aber ich habe es | |
| geschafft, da durchzukommen.“ | |
| Wohl auch, weil Shreteh Menschen um sich hat, die ihn bei seiner Suche nach | |
| einem sicheren Ort zum Leben unterstützen. Aktivist:innen und Freunde | |
| setzen sich für Shreteh ein, um ihn in Zukunft vor den hohen Betonmauern, | |
| den kroatischen Polizeihunden und dem Alleinsein zu schützen. | |
| 30 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://dserver.bundestag.de/btd/19/316/1931669.pdf | |
| [2] /Nach-Reform-bei-Abschiebungen/!6006808 | |
| [3] https://www.juwiss.de/4-2024/ | |
| [4] /Zivilorganisation-ueber-Push-Backs/!5932171 | |
| ## AUTOREN | |
| Joscha Frahm | |
| ## TAGS | |
| Abschiebe-Gefängnis | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Migration | |
| Emanzipation | |
| GNS | |
| CDU/CSU | |
| Abschiebehaft | |
| Abschiebehaft | |
| Abschiebung | |
| Abschiebung | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Polizeigewalt | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Abschiebung | |
| wochentaz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Abschiebehaft in Deutschland: Wen es wirklich trifft | |
| Freund:innen eines Gambiers haben mit Demos und einer Petition probiert, | |
| ihn aus der Abschiebehaft zu holen. Das Gericht hat seinen Eilantrag | |
| abgelehnt. | |
| Demo gegen Abschiebehaft in Arnstadt: „Wie sollen Menschen das aushalten?“ | |
| Erst in den Knast, dann in den Flieger: Thüringen richtet eine Haftanstalt | |
| für Abschiebungen ein. Doch gegen die Pläne regt sich Protest. | |
| Abschiebehaft in Glückstadt: Das Schlimmste ist die Ungewissheit | |
| Hinter den verschärften Abschiebungsmaßnahmen stehen Menschen – zum | |
| Beispiel Ibrahim, der im Abschiebeknast Glückstadt sitzt. Ein Besuch. | |
| Situation von Geflüchteten in Berlin: „Manche trauen sich abends nicht auf d… | |
| Die aktuelle Migrationsdebatte schaffe ein Klima der Angst, kritisieren | |
| Geflüchtete in Berlin. Mit Doppelstandards bei der Behandlung müsse Schluss | |
| sein. | |
| Deutsch-syrische Klinikpartnerschaften: Gesundheit für Syrien | |
| Nach dem Sturz Assads ist der Zustand der Krankenversorgung im Land | |
| desaströs. Kooperationen mit deutschen Partnern sollen helfen. | |
| Polizeigewalt vor Gericht: Dem Korpsgeist getrotzt | |
| Ein junger Polizist zeigt seinen Kollegen an, nachdem der einen Häftling | |
| misshandelt hat. Das Gericht verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe auf | |
| Bewährung. | |
| Deutschlandbild in Syrien: Autos, Wurst und humanitäre Hilfe | |
| Nach dem Sturz von Assad schauen viele Syrer:innen optimistisch in | |
| Richtung Bundesrepublik. Doch auch die Kälte der Deutschen spielt eine | |
| Rolle | |
| Die CDU und die Brandmauer: Der Schlingerkurs des Friedrich Merz | |
| Mit oder ohne AfD? Der Kanzlerkandidat fordert nach Aschaffenburg | |
| drastische Verschärfungen in der Asylpolitik. Nur: Mit wem will er die | |
| durchsetzen? | |
| Personalmangel im Abschiebeknast: Niemand will nach Glückstadt | |
| Die Abschiebehaftanstalt Glückstadt steht immer wieder in der Kritik. Jetzt | |
| hat eine Anfrage ergeben: Ein Drittel der Personalstellen ist unbesetzt. | |
| Nächtlicher Polizeieinsatz: „Sie hörten mir nicht mal richtig zu“ | |
| Jawid Jabari wurde aus dem Kirchenasyl in Hamburg abgeschoben. Seine | |
| Geschichte führt von den Taliban über die Balkanroute zum Rechtsruck in | |
| Europa. |