| # taz.de -- Nächtlicher Polizeieinsatz: „Sie hörten mir nicht mal richtig z… | |
| > Jawid Jabari wurde aus dem Kirchenasyl in Hamburg abgeschoben. Seine | |
| > Geschichte führt von den Taliban über die Balkanroute zum Rechtsruck in | |
| > Europa. | |
| Bild: Ort der Hoffnungslosigkeit: Zelle im Abschiebegefängnis Glückstadt | |
| Glückstadt taz | Als sie das erste Mal mitten in der Nacht klingelten, | |
| dachte sich Jawid Jabari nichts dabei, außer dass es vielleicht eine | |
| Nachbarin sein könnte. Er machte nicht auf, auch beim zweiten Klingeln | |
| nicht. Als es ein drittes Mal klingelte, wusste er: Es ist die Polizei. | |
| Jabari befand sich zu dem Zeitpunkt im Kirchenasyl in einer Gemeindewohnung | |
| in Hamburg-Bergedorf. Die Kirche hatte ihm angeboten, dort sechs Monate zu | |
| überbrücken, bis die Überstellungsfrist Deutschlands an Schweden | |
| verstrichen wäre und die Zuständigkeit für Jabaris Asylverfahren damit an | |
| Deutschland gehen würde. | |
| Doch die Behörden gewährten ihm keine zwei Monate Ruhe. In der Nacht auf | |
| Montag, den 30. September, suchten sie Jabari auf und flogen ihn nach | |
| Göteborg. Hamburg hatte [1][zum ersten Mal seit 1984 den Nichtabschiebepakt | |
| mit der Kirche gebrochen.] | |
| Wenn eine Gemeinde in einem bestimmten Fall humanitäre Not sieht, die von | |
| der Rechtslage nicht erfasst wird, kann sie eine Person oder eine Familie | |
| in ihren Räumen unterbringen und versorgen, bis die Abschiebefrist | |
| überschritten ist und die Person eine neue Chance durch ein neues | |
| Asylverfahren bekommt. Doch seit [2][Bundeskanzler Olaf Scholz sich per | |
| Spiegel-Cover zum Abschiebekanzler erklärt hat], ist den Ausländerbehörden | |
| nichts mehr heilig. Allein in Norddeutschland brachen Polizist*innen | |
| und Abschiebebeamt*innen innerhalb eines Jahres drei Mal in | |
| kirchliche Räume ein und holten die Schutzsuchenden raus. | |
| ## Vergitterte Fenster | |
| Einen Monat nach der Nacht, in der die Polizist*innen in die | |
| Kirchenwohnung in Hamburg eindrangen, sitzt Jabari an einem hellgrauen | |
| Tisch in einem Raum mit vergitterten Fenstern. Er trägt einen schwarzen | |
| Kapuzenpullover, seine Schultern und Lippen sind schmal, seine Augen | |
| zusammengekniffen. Er sieht älter aus als 29. Er sieht aus wie jemand, dem | |
| die Sorge in der Magengrube drückt und der seit langer Zeit nichts mehr zu | |
| lachen hatte. | |
| Nachdem die Beamt*innen von Polizei und Ausländerbehörde ihn nach | |
| Göteborg gebracht hatten, war Jabari wieder nach Hamburg gekommen. Doch als | |
| er sich bei der Ausländerbehörde meldete, nahmen ihn die Mitarbeitenden | |
| sofort fest. Zwei Tage habe er in einer dunklen Zelle ohne Fenster | |
| verbringen müssen, sagt er. Dann brachten sie ihn in die Abschiebehaft | |
| Glückstadt. | |
| In dem kargen Besucherraum neben der Eingangstür sitzen zwei | |
| Security-Mitarbeiter und überwachen die Bewegungen der Anwesenden. Vier | |
| Tische stehen in dem Raum, an einem davon unterhält sich ein Paar leise. | |
| Sie trinken Wasser aus Pappbechern. In einer Ecke liegt ein | |
| Kinder-Spielteppich. | |
| ## Jabari bekam als einziger kein Asyl | |
| Warum ist Jabari wiedergekommen? „Ich habe alles versucht um in Schweden zu | |
| bleiben“, sagt er. „Hätte ich dort auch nur die geringste Chance gesehen, | |
| wäre ich geblieben.“ Acht Jahre lang hat Jabari versucht, Bleiberecht in | |
| Schweden zu bekommen. Seine Mutter lebt dort mit seinen drei Brüdern und | |
| seiner Schwester. Sie alle haben Asyl, nur er bekam keins. Weil er, anders | |
| als seine Geschwister, bei der Einreise nicht minderjährig war, | |
| verweigerten die Behörden ihm den Aufenthalt. | |
| Jabari und seine Familie sind Hazara. [3][Die ethnische Minderheit wird | |
| seit mehr als hundert Jahren diskriminiert und verfolgt.] Hazara sind nach | |
| Paschtunen und Tadschiken die drittgrößte Bevölkerungsgruppe im | |
| Vielvölkerstaat Afghanistan. Die meisten Hazara sind schiitische Muslime. | |
| Fundamentalistische Sunniten wie die Taliban verfolgen sie als Ungläubige. | |
| Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 hat sich ihre Lage im Land | |
| dramatisch verschlechtert. Auch in Pakistan und dem Iran werden Hazara | |
| diskriminiert. | |
| Als er zwölf war, hätten die Taliban seinen Vater ermordet und sein Haus | |
| abgebrannt, erzählt Jabari. Er habe keine Schule besuchen können, sondern | |
| als ältester Sohn die Familie ernähren und sich mit der Mutter um die | |
| Geschwister kümmern müssen. Er ging nach Kabul, um Teppiche zu knüpfen und | |
| Geld zu verdienen. Die Taliban verprügelten ihn zwei Mal in der | |
| Öffentlichkeit. „Wären keine Menschen auf der Straße gewesen, hätten sie | |
| mich umgebracht“, sagt er. | |
| ## Zeit der Hoffnung | |
| Über den Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien und Deutschland floh | |
| Jabari nach Schweden – im Jahr 2015 ging das noch. Es war auch die Zeit, | |
| als Hunderte Freiwillige die Geflüchteten, die an den Bahnhöfen in Budapest | |
| oder München strandeten, mit Essen und Trinken versorgten. Jabari hatte | |
| Hoffnung. | |
| Doch im Laufe der Jahre [4][drehte sich die Stimmung in Europa]. Nachdem er | |
| zum dritten Mal einen Ablehnungsbescheid der schwedischen Ausländerbehörde | |
| erhalten hatte, verließ er das Land. „Nach der dritten Ablehnung nehmen sie | |
| dir alles weg“, sagt Jabari. „Sie schließen dein Bankkonto, kündigen deine | |
| Krankenversicherung und sorgen dafür, dass du aus deiner Unterkunft | |
| rausfliegst.“ | |
| Doch in Deutschland sei es kaum besser gewesen. Wer sich illegal hier | |
| aufhält, lebt praktisch in der gleichen Situation wie die entrechteten | |
| Migrant*innen in Schweden. Er wählte den offiziellen Weg über die | |
| Ausländerbehörde, mit Anwält*innen, Ablehnungen und Widersprüchen. Ohne | |
| Erfolg: „Die Behörde interessiert sich nicht für meine Geschichte“, sagt | |
| Jabari. „Sie hörten mir nicht mal richtig zu.“ | |
| [5][In der Haftanstalt Glückstadt sei es kaum möglich, noch Hoffnung zu | |
| bewahren]. Er wache nachts auf, habe Albträume, Suizidgedanken und komme | |
| nie zur Ruhe, sagt Jabari. Seine Zelle müsse er sich mit einem anderen Mann | |
| teilen, nachts sei es laut, alle hier hätten psychische Probleme. Vor ihm | |
| auf dem Tisch liegen süße Sesamriegel, Pistazienstangen und in Salz | |
| eingelegte schwarze Oliven, die eine Unterstützerin ihm mitgebracht hat. | |
| Jabari versucht ein bisschen zu lächeln. Als der Himmel hinter den Gittern | |
| langsam dunkel wird, geht er zurück in seine Zelle. | |
| Knapp zwei Wochen später kommt eine Nachricht von Jabari: „Sie haben mich | |
| nach Schweden abgeschoben.“ Es gehe ihm schlecht. Jabari meint, dass er ein | |
| politisches Opfer des Rechtsrucks in Europa geworden ist. „Wie mit mir | |
| umgegangen wird, ist sehr, sehr unfair“, sagt er. Wie will er jetzt | |
| weitermachen? Jabari sagt, er habe sich schon bei den schwedischen Behörden | |
| gemeldet. „Die Situation ist leider sehr schlecht“, sagt er. Aber was | |
| bleibe ihm anderes übrig, als es weiter zu versuchen. | |
| 24 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kirchenasyl-gebrochen/!6036824 | |
| [2] /Migrationspolitik-der-SPD/!6037541 | |
| [3] https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/11/hazara-voel… | |
| [4] https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/556217/juengst… | |
| [5] /Brand-in-Abschiebehaft-Glueckstadt/!5987965 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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