# taz.de -- Abschiebungen nach Afghanistan: Eine Frage der Sicherheit | |
> Erstmals ist wieder ein Abschiebeflieger nach Afghanistan gestartet. An | |
> Bord saß auch ein verurteilter Sexualstraftäter. Er fürchtet jetzt | |
> Verfolgung durch die Taliban. | |
Bild: Erstmals seit der Machtergreifung der Taliban schiebt die Bundesregierung… | |
Geschlafen habe er seit Wochen nicht mehr richtig, sagt Baran Ahmadi. „Es | |
ist zu viel Stress in meinem Kopf“, seine Stimme am Telefon klingt | |
angespannt. Er übernachte jeden Tag woanders, bei Freunden, Bekannten. Auf | |
dem Weg zu ihnen passe er auf, dass ihm niemand folge. | |
Ahmadi heißt eigentlich anders, für diesen Text wurde er anonymisiert. Er | |
gehört zu den 28 Männern, die am frühen Morgen des 30. August mit einem | |
Qatar-Airways-Flug aus Leipzig nach Afghanistan abgeschoben wurden. | |
Bis zu jenem Tag saß Ahmadi in der JVA Landsberg, drei Monate Haft hatte er | |
noch vor sich. Das Amtsgericht Augsburg sah es als erwiesen an, dass Ahmadi | |
im Juni 2022 eine 16-Jährige zum Oralsex gezwungen habe. Ahmadi, damals 24 | |
Jahre alt, bestreitet die Tat. Das Gericht verurteilte Ahmadi im Dezember | |
2022 wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. | |
Nicht erst seit dem Anschlag von Solingen Ende August wird viel über | |
Sicherheit gesprochen. Deutschland ist eines der sichersten Länder der | |
Welt, aber derzeit findet fast die Hälfte der Deutschen, man fühle sich im | |
öffentlichen Raum nicht mehr sicher. Und weil es Rechte geschafft haben, | |
dass Unsicherheit vor allem als Folge von Migration dargestellt wird, | |
betreffen die meisten Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung die | |
Sicherheit erhöhen will, die Migrationspolitik: Grenzkontrollen, | |
Leistungskürzungen für Asylbewerber:innen – und mehr Abschiebungen, | |
auch nach Afghanistan. | |
Aber ist Deutschland sicherer, weil jemand wie Ahmadi jetzt in Kabul statt | |
in Bayern lebt? Und ist es rechtens, dass die Bundesregierung Abschiebungen | |
in die Hände der Taliban durchsetzt? | |
Für diesen Text haben wir Menschen aus Ahmadis Umfeld befragt, | |
Gerichtsakten und persönliche Dokumente von ihm eingesehen, mit deutschen | |
und afghanischen Behörden gesprochen, um seine Angaben zu überprüfen. Die | |
Frage, wie stark er in diesen Tagen tatsächlich Verfolgung durch die | |
Taliban fürchten muss, lässt sich nicht endgültig klären. Klar ist, dass er | |
Angst davor hat. | |
## Katar vermittelte mit den Taliban | |
Diese Geschichte wäre womöglich bequemer, wenn Ahmadi nicht wegen | |
Vergewaltigung verurteilt wäre. Wenn in dem Abschiebeflieger am 30. August | |
nur Menschen gesessen hätten, die keine schlimmen Verbrechen begangen | |
haben. Aber die Abschiebungen nach Afghanistan wurden nach der | |
Machtübernahme der Taliban 2021 aus zwei Gründen ausgesetzt: weil jede | |
Abschiebung auch eine Kooperation mit dem islamistischen Regime dieser | |
Terroristen bedeutet, das Menschen so brutal unterdrückt wie kaum eine | |
zweite Regierung auf der Welt; und weil es unmöglich ist zu prüfen, was | |
genau die Abgeschobenen in Afghanistan erwartet – also auch eine konkrete | |
Gefahr für ihr Leben nicht ausgeschlossen werden kann. | |
Warum sollte all das nicht mehr gelten, wenn es sich bei den Abgeschobenen | |
um Straftäter handelt? Finden wir, dass afghanische Vergewaltiger anders | |
behandelt werden müssen als deutsche Vergewaltiger? Ist die Abschiebung die | |
doppelte Strafe, die sie aufgrund ihrer Nationalität verdient haben? | |
Für den Abschiebeflug am 30. August hat Katar auf Bitten Deutschlands die | |
Vermittlung mit den Taliban übernommen. „Unsere Sicherheit zählt, unser | |
Rechtsstaat handelt“, hatte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) an jenem | |
Morgen verkündet. Es handele sich um eine „Maßnahme nach dem Messerangriff | |
von Solingen“, erklärte ihr Ministerium, auch wenn es die Aktion gemeinsam | |
mit dem Kanzleramt schon seit etwa zwei Monaten vorbereitet hatte. Als | |
islamistische Gefährder eingestufte Personen waren laut Angaben der | |
Bundesländer nicht dabei, dafür Straftäter. Womöglich hatte die Ampel dabei | |
eher die zwei Tage später anstehenden Wahlen in Thüringen und Sachsen im | |
Blick als die Terrorprävention. Das Innenministerium behauptet, es sei für | |
die Abschiebung „keine Gegenleistung in Aussicht gestellt“ worden. Ein | |
Vertreter des Flüchtlingsministeriums der Taliban in Kabul sprach gegenüber | |
der taz jedoch von einer hohen Geldsumme, die über Katar an die Regierung | |
in Kabul geflossen sei. | |
## Fünf Tage nach Solingen wird Ahmadi in eine Einzelzelle verlegt | |
Auf Anfrage erklärt das Bundesinnenministerium zunächst, es habe „nicht | |
entschieden, welche Personen rückgeführt werden“ – zuständig dafür seien | |
die Länder gewesen. Doch die streiten das ab. Die taz hat in allen 16 | |
Bundesländern abgefragt, wie viele Straftäter aus dem jeweiligen Land in | |
der Maschine saßen, wegen welcher Straftaten sie verurteilt worden waren | |
und wie die Männer ausgewählt wurden. Mehrere Länder gaben an, dem | |
Bundesinnenministerium eine Liste vorgelegt zu haben, die finale Auswahl | |
habe dann das Ministerium getroffen. Ein Sprecher Faesers räumt daraufhin | |
ein, dass die Länder Personen benannt haben und der „Austausch aller | |
Beteiligten […] letztlich zur Rückführung“ der einzelnen Personen führte. | |
Nach welchen Kriterien diese ausgesucht wurden, bleibt offen. Mehrere | |
Sexualstraftäter sind unter den Ausgewählten, auch versuchter Mord, | |
Körperverletzung und Raub tauchen mehrfach in der Liste der Straftaten auf. | |
Viele von ihnen wurden direkt aus dem Gefängnis abgeschoben, einige hatten | |
ihre Freiheitsstrafe bereits vollständig verbüßt. | |
Unter anderem fiel die Wahl auf Baran Ahmadi. Drei Monate hatte er noch | |
vor sich, dann wären seine 30 Monate in Haft verstrichen gewesen. Ahmadi | |
sagt, er habe Pläne gehabt für die Zeit nach seiner Entlassung: eine | |
Ausbildung zum Kfz-Mechaniker beginnen, einen weiteren Deutschkurs belegen. | |
Zum Zahnarzt gehen. | |
Doch es kommt anders. Am Mittwoch der letzten Augustwoche, fünf Tage nach | |
dem Attentat auf dem Stadtfest in Solingen, wird Ahmadi in eine Einzelzelle | |
verlegt. Er fragt nach dem Grund, erhält aber keine Antwort. Am | |
Donnerstagabend kommen fünf Justizbeamte zu ihm in die Zelle. Er werde | |
jetzt nach Leipzig in eine andere JVA verlegt, heißt es. Ahmadi wird aus | |
dem Gefängnis herausgeführt, steigt ins Auto zu zwei Polizisten. | |
## 1.000 Euro Handgeld bekommen die Abgeschobenen | |
Während das Auto durch Bayern fährt, ist Innenministerin Faeser gerade in | |
den „Tagesthemen“ zu sehen. Sie hat heute das „Sicherheitspaket“ der | |
Bundesregierung präsentiert. Jetzt verspricht sie, „schon bald“ werde die | |
Regierung auch beim Thema Abschiebungen nach Afghanistan erfolgreich sein. | |
„Ich habe es gesagt, da geht die Sicherheit in Deutschland vor“, sagt | |
Faeser, „und deswegen muss man Menschen, die hier unsere Gesetze nicht | |
achten, auch wieder abschieben können.“ Mit den Taliban wolle die Regierung | |
nicht reden, wohl aber mit „Nachbarstaaten“. Dabei sei man auch schon | |
„relativ weit“. | |
Gegen zwei Uhr nachts kommt das Auto, in dem Ahmadi sitzt, in Leipzig an. | |
„Als ich durch das Autofenster den Flughafen gesehen habe, wusste ich, was | |
jetzt wirklich passiert“, sagt er. | |
Am Flughafen werden ihm Hand- und Fußfesseln angelegt. Dort trifft er die | |
anderen 27 Menschen, die heute mit ihm abgeschoben werden sollen. Sie | |
müssen noch einige Stunden warten, dann, im Morgengrauen, steht das | |
Flugzeug bereit. Er bekommt einen Boardingpass von Qatar Airways. | |
„Boarding Time: 05:15, Departure: 06:00, Seat: Any“. | |
1.000 Euro „Handgeld“ bekommen sie, was im Netz wütende Reaktionen auslös… | |
Es sei ein übliches Verfahren, um nicht zu riskieren, dass Gerichte die | |
Entscheidung aufheben, weil eine Verelendung der Abgeschobenen drohe, sagt | |
Faeser am Abend. | |
## „Wer nicht betet, bekommt eine Kugel“ | |
Während des Flugs habe er versucht zu schlafen, sagt Ahmadi, aber es sei | |
ihm nicht gelungen, den anderen ebenso wenig, auch wegen der | |
zusammengebundenen Hände und Füße. Nach der Landung betreten vier Taliban | |
das Flugzeug, ein Kommandant und drei Mitarbeiter. Nach Informationen der | |
taz handelt es sich um Angehörige des Geheimdienstes GDI. Ahmadi sagt, sie | |
hätten überrascht gewirkt, als wüssten sie nicht, was es mit diesem | |
Flugzeug und seinen Insassen auf sich habe. Das katarische Personal, das | |
den Flug begleitet hat, überlässt die 28 Männer den Taliban. | |
Für Ahmadi folgen mehrere Tage in Untersuchungshaft, direkt am Flughafen, | |
alle 28 im gleichen Raum. Berichte, etwa in der Bild-Zeitung („Die irrsten | |
Details: Kakerlaken, Schimmel-Brot und Eimer-Klos! Hier sitzen die Mörder | |
und Vergewaltiger – und vermissen die bequemen deutschen Gefängniszellen“), | |
die Männer seien in das Pul-e-Charkhi-Zentralgefängnis gebracht worden, | |
weisen sowohl das Innenministerium als auch Ahmadi zurück. | |
Ahmadi wird, wie alle anderen, von den Taliban befragt, immer wieder. Sie | |
wollen wissen, wer er ist, warum er in dem Flugzeug saß, was er in | |
Deutschland gemacht hat, warum er dort im Gefängnis saß. Ahmadi glaubt, | |
dass sie ihn verdächtigen, ein Spion Deutschlands zu sein. Jeden Tag hätten | |
die Taliban verkündet, die Gruppe werde am folgenden Tag freigelassen, doch | |
das geschieht nicht. „Wer nicht betet, bekommt eine Kugel“, habe einer der | |
Wachmänner gesagt. Also beten sie. | |
Ein deutscher Freund habe seine Eltern verständigt, seinem Vater sei es | |
schließlich gelungen, ihn am Flughafen ausfindig zu machen, sagt Ahmadi. | |
Sein Vater muss den Mietvertrag für seine Wohnung und den elektronischen | |
Ausweis E-Tazkira vorlegen, Fingerabdrücke und die „Zamanat“ genannte | |
Bürgschaft abgeben. Dann kommt Ahmadi frei. Auf Bewährung, machen ihm die | |
Taliban klar. „Wenn wir dich erwischen, auch wenn es nur bei einer | |
Kleinigkeit ist, bringen wir dich um“, sei ihm zum Abschied gesagt worden. | |
Etwa die Hälfte der anderen habe ebenfalls gehen können. Der Rest werde, | |
soweit er wisse, von den Taliban festgehalten. | |
## Zehn Prozent aller Ausreisepflichtigen in Deutschland sind aus | |
Afghanistan | |
Als er mit seinen Eltern zu deren Wohnung fährt, werden sie von zwei | |
Motorrädern verfolgt. Am folgenden Tag macht sich Ahmadi wieder auf. Er | |
will seine Eltern nicht weiter in Gefahr bringen. Ahmadi hat den Taliban | |
nicht gesagt, warum er in Deutschland im Gefängnis saß. Seine größte Angst | |
ist, dass sie das doch erfahren, vielleicht von den deutschen Behörden. Er | |
glaubt, dass er sterben muss, wenn die Taliban wissen, dass er wegen | |
Vergewaltigung verurteilt wurde. | |
Im Februar 2016 hatte Deutschland nach Jahren zuerst „freiwillige | |
Ausreisen“, kurz darauf auch Abschiebeflüge nach Afghanistan wieder | |
aufgenommen. Die Bundesregierung argumentierte damals, dass es in dem | |
Bürgerkriegsland ausreichend sichere Regionen für Afghanen gebe, die wegen | |
der Bedrohung durch die Taliban ihre Häuser verlassen müssten. Nach einem | |
Anschlag auf die deutsche Botschaft im Mai 2017 wurden die Abschiebungen | |
vorübergehend unterbrochen, nach dem Sieg der Taliban im August 2021 dann | |
eingestellt – bis jetzt. | |
Dass Afghan:innen immer wieder im Fokus der Abschiebediskussion stehen, | |
liegt auch daran, dass sie seit Langem die zweitgrößte Gruppe von | |
Geflüchteten in Deutschland sind. Ende 2023 lebten rund 322.600 afghanische | |
Schutzsuchende im Land, davon sind ein Drittel unter 18 Jahre alt. Etwa | |
252.000 sind als Flüchtlinge anerkannt, etwa 24.000 Afghan:innen waren | |
Ende Juni 2024 ausreisepflichtig und wurden aufgefordert, das Land zu | |
verlassen. Das sind etwa zehn Prozent aller Ausreisepflichtigen in | |
Deutschland. Rund 1.000 Afghan:innen wurden seit 2016 direkt nach | |
Afghanistan abgeschoben. Grundlage dafür war ein Abkommen, das zunächst | |
„Joint Way Forward“ („Gemeinsamer Weg nach vorn“) hieß und das die EU … | |
dem damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karsai abgeschlossen hatte. | |
## Mehr als die Hälfte der abgeschobenen Afghanen aus Bayern | |
Die taz hat alle Bundesländer zu den Abschiebungen zwischen 2016 und 2021 | |
befragt. Die Praxis unterschied sich erheblich. Insbesondere Bayern sticht | |
aus der Auflistung heraus: 2018 und 2019 kamen jeweils mehr als die Hälfte | |
der abgeschobenen Afghanen aus Bayern. Insgesamt wurden aus Bayern zwischen | |
2016 und 2021 570 Afghanen abgeschoben. In fast allen anderen Bundesländern | |
waren es insgesamt weniger als 100 abgeschobene Personen, in fünf Ländern | |
sogar weniger als 15. | |
Auch in der Auswahl der Abzuschiebenden gingen die Bundesländer damals | |
unterschiedlich vor. In den meisten Ländern wurde nur abgeschoben, wer | |
wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt worden war oder von der | |
Polizei als Gefährder geführt wurde. In Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt | |
gab es hingegen keine Beschränkung auf Straftäter. Das Innenministerium des | |
Saarlands antwortet auf die taz-Anfrage, es habe sich bei den Abgeschobenen | |
um „alleinstehende junge Männer ohne ‚Integrationshintergrund‘ “ gehan… | |
In derselben Zeit – 2016 bis zur Taliban-Machtübernahme 2021 – sind etwa | |
2.100 Afghan:innen mit einer Rückkehrförderung in Höhe von jeweils etwa | |
1.500 Euro „freiwillig“ zurück nach Afghanistan gegangen. Darüber hinaus | |
wurden Tausende Afghan:innen aus Deutschland in Staaten wie die Türkei | |
zurückgeschickt, die ihrerseits nach Afghanistan abschieben. | |
Tina Harms engagiert sich seit über einem Jahrzehnt in der Flüchtlingshilfe | |
Landsberg am Lech – dort, wo Baran Ahmadi seit 2014 lebte. In jenem Jahr | |
war er vor den Taliban nach Deutschland geflüchtet. Im Dezember 2016 bekam | |
er Asyl, jobbte dann als Pizzafahrer. Tina Harms heißt eigentlich anders, | |
möchte aber aus Angst vor Anfeindungen nicht mit ihrem echten Namen in der | |
Zeitung stehen. Sie half afghanischen Geflüchteten bei Bewerbungsschreiben. | |
„Er war oft zu Besuch im Haus anderer Afghanen“, sagt sie über Ahmadi. | |
Harms begleitet ihn im Gefängnis und hält bis heute den Kontakt zu ihm. | |
2022 half sie ihm dabei, eine Stelle als Kleinbusfahrer zu finden. Die trat | |
er im Mai 2022 an. | |
## „Er ist in dieser Nacht zu weit gegangen“ | |
Sechs Wochen später, am 18. Juni, besucht der damals 24-Jährige die Disco | |
PM in Lechfeld, rund 20 Kilometer nördlich von Landsberg. Dort trifft er | |
ein zu dieser Zeit 16-jähriges Mädchen. Tina Harms sagt: „Er ist in dieser | |
Nacht zu weit gegangen.“ | |
Ahmadi selbst streitet die Tat ab, im Prozess sagt er aus, alles zwischen | |
ihm und der 16-Jährigen sei einvernehmlich gewesen. Die junge Frau | |
widerspricht. Das Gericht hält Ahmadis Darstellung nicht für glaubhaft, | |
gegen ihn spricht unter anderem, dass er erst dann von sexuellen Handlungen | |
zwischen den beiden berichtet, als er erfährt, dass an seinem Körper DNA | |
der Frau nachgewiesen werden konnte. | |
Ahmadi ist also ein verurteilter Sexualstraftäter. Ein Islamist ist er | |
nicht. Im Gegenteil, subsidiären Schutz hatte er in Deutschland nur | |
einklagen können, weil ein Gericht es als erwiesen ansah, dass er in | |
Afghanistan persönlich von den Taliban bedroht worden war. | |
Als Ahmadi in U-Haft in Augsburg sitzt, nimmt Tina Harms sich mit einem | |
Freund Ahmadis seiner an. Sie holen sein im Halteverbot geparktes Auto, | |
öffnen seine Briefe, melden das Auto ab, lösen schließlich die Wohnung auf, | |
verkaufen Möbel und den Wagen. Besuch, mit dem er Paschtu sprechen kann, | |
darf er in der Haft nicht empfangen. „Also war ich die Einzige, die kommen | |
durfte“, sagt Harms. | |
Sie gibt dem Anwalt 500 Euro extra, den Erlös aus dem Verkauf des Autos. | |
„Aber ich glaube, es hat nichts genützt“, sagt sie. Erst am Abend des 1. | |
Dezembers 2022 ruft der Anwalt sie an. So ist Harms dabei, als Ahmadi am | |
folgenden Tag schuldig gesprochen wird. | |
„Weil er nicht geständig war und es Aussage gegen Aussage stand, lag das | |
Strafmaß höher“, glaubt sie. Ahmadi folgt dem Rat des Anwalts, Berufung | |
einzulegen. Das Urteil wird so vorerst nicht rechtskräftig, er bleibt | |
deshalb in U-Haft – und Tina Harms die einzige Person, die ihn besuchen | |
darf. Im April 2023 zieht er die Berufung zurück. „Er fürchtete, dass eine | |
noch höhere Strafe herauskommen könnte“, sagt sie. | |
## „Hat er kein Recht auf eine zweite Chance?“ | |
Er kommt in die JVA Landsberg am Lech, dort dürfen Freunde und Verwandte zu | |
ihm. „Wir dachten, nach zwei Dritteln der Strafe darf er raus“, sagt Harms. | |
„Sein Freund hat einen Pizzalieferdienst. Der wollte ihn beschäftigen, | |
hatte das bestätigt. Und ich habe bestätigt, dass ich ihm Wohnraum | |
vermieten kann.“ So wäre er im Frühjahr 2024 entlassen worden. Doch das | |
Landgericht Augsburg lehnt dies wegen der Schwere der Tat ab. Im Gefängnis | |
war Ahmadi für eine „sozialtherapeutische Maßnahme“ vorgemerkt, aber es g… | |
keinen Platz. „Das wurde ihm dann negativ ausgelegt“, sagt Harms. | |
Über seinen Anwalt bemüht Ahmadi sich vergeblich um eine Verlängerung | |
seines Aufenthaltstitels. Am 8. August kommt ein Brief vom Landratsamt | |
Landsberg. Er müsse Deutschland verlassen, eine Frist zur freiwilligen | |
Ausreise werde nicht gewährt, die Ausreisepflicht werde mittels Abschiebung | |
vollzogen, heißt es darin. | |
Tina Harms schickt eine Kopie des Briefs an den Anwalt und den | |
Flüchtlingsrat in München. „Alle meinten, es werde nicht nach Afghanistan | |
abgeschoben.“ Bis zum 10. September kann Ahmadi Widerspruch gegen die | |
Ausweisung einlegen. | |
Harms will darüber mit ihm sprechen. Am 28. August bittet sie telefonisch | |
im Gefängnis um einen Termin. „Sie sagten, es gehe erst am Montag wieder.“ | |
Am 30. August liest Harms im Netz von dem Abschiebeflug. „Ich hätte nie | |
geglaubt, dass er da mit dabei war.“ Am folgenden Montag geht Harms zum | |
Gefängnis. „Da sagten sie nur, er sei nicht mehr da.“ | |
Aus Angst, dass die Taliban doch noch erfahren könnten, dass er in | |
Deutschland wegen Vergewaltigung verurteilt wurde, versteckt Ahmadi sich | |
jetzt. Per Whatsapp hat er sich bei Tina Harms gemeldet. „Ich wundere mich, | |
von was die leben“, sagt sie. „Es wird unmöglich für ihn sein | |
zurückzukommen. Es gibt da aber keine Perspektive, er hat keine Arbeit und | |
Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Nachdem er seine Strafe fast verbüßt | |
hat, war die Abschiebung eine doppelte Bestrafung. Hat er kein Recht auf | |
eine zweite Chance?“ | |
Wie es jetzt in Afghanistan für ihn weitergehen solle, wisse er nicht, sagt | |
Baran Ahmadi der taz. „Ich weiß, dass ich mich nicht ewig verstecken kann, | |
aber ich weiß auch nicht, was ich sonst tun soll.“ Dass er noch einmal die | |
Chance haben wird, nach Deutschland zu kommen, glaubt er nicht. | |
Mitarbeit: Emran Feroz | |
22 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
Christian Jakob | |
## TAGS | |
Asyl | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Abschiebung | |
Migration | |
wochentaz | |
Social-Auswahl | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Schwerpunkt Flucht | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Flucht | |
Kriminalität | |
Schwerpunkt Flucht | |
Ampel-Koalition | |
Schwerpunkt Flucht | |
Migration | |
wochentaz | |
Abschiebung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Diplomatische Kontakte mit Afghanistan: Die Taliban sprechen in Katar mit Deuts… | |
Das Taliban-Regime meldet erstmals einen diplomatischen Kontakt mit der | |
Bundesregierung. Die möchte gerne nach Afghanistan abschieben. | |
Abschiebegefängnis in Baden-Württemberg: Afghanen protestieren mit Hungerstre… | |
Mit einem Hungerstreik protestieren sieben Männer in Pforzheim gegen ihre | |
geplante Rückführung nach Afghanistan. Sie fürchten Strafen und Verfolgung | |
durch die Taliban. | |
Nächtlicher Polizeieinsatz: „Sie hörten mir nicht mal richtig zu“ | |
Jawid Jabari wurde aus dem Kirchenasyl in Hamburg abgeschoben. Seine | |
Geschichte führt von den Taliban über die Balkanroute zum Rechtsruck in | |
Europa. | |
Hinrichtung in Afghanistan: Blutjustiz im Stadion | |
Zum sechsten Mal lassen die Taliban eine öffentliche Hinrichtung zu. Die | |
islamistischen Machthaber Afghanistans wollen eine Dokumentation | |
verhindern. | |
Urteile zu Rechten von Geflüchteten: Frausein ist Asylgrund | |
Die Maßnahmen der Taliban gegen afghanische Frauen sind laut EuGH als | |
Verfolgung einzustufen. Der EGMR verurteilt Menschenrechtsverletzungen auf | |
Samos. | |
Fluchtgefahr als Haftgrund: Nicht alle sind gleich | |
Ausländer:innen müssen häufiger als Deutsche monatelang in | |
Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Und das teilweise wegen | |
Delikten wie Ladendiebstahl. | |
Grenzkontrollen haben kaum Effekt: Nicht gut für die Demokratie | |
Die Grenzkontrollen wirken nicht, das ist nicht neu. Das eigentliche | |
Problem ist, dass die Regierung damit unrealistische Erwartungen geweckt | |
hat. | |
Kritik in der Ampel an Sicherheitspaket: Mit Sicherheit gibt’s Ärger | |
Die Regierung wollte schnell sein. Daraus wird jedoch nichts. Denn es | |
hagelt Kritik – von Fachleuten und aus den Fraktionen. | |
Geflüchtete Afghanin über Migration: „So geht es vielen Immigranten“ | |
Zahra Nazari kommt aus Afghanistan und hat ehrgeizige Pläne, um schnell Fuß | |
zu fassen. In der Diskussion um Flüchtlinge vermisst sie die Empathie. | |
Historiker über Migrationsbegriffe: „Waffen im politischen Kampf“ | |
Die Begriffe, mit denen über Migration gesprochen wird, haben meist starke | |
Konnotationen. Historiker Jochen Oltmer über die Tragweite der Sprache. | |
Asylrechtsverschärfungen: Mein Deutschland bleibt offen | |
Die Asyldebatte verschärft sich. Menschenrechte stehen auf dem Spiel. 32 | |
Prominente sagen: Wir wollen ein offenes Land. | |
Staatenlos in Deutschland: Aus der Heimat abgeschoben | |
Seit 30 Jahren lebt Robert A. in Sachsen. Die Ausländerbehörde bestimmt | |
sein Leben. Nun könnte er einen Aufenthaltstitel bekommen – oder | |
abgeschoben werden. |