| # taz.de -- Fluchtgefahr als Haftgrund: Nicht alle sind gleich | |
| > Ausländer:innen müssen häufiger als Deutsche monatelang in | |
| > Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Und das teilweise wegen | |
| > Delikten wie Ladendiebstahl. | |
| Bild: Kein Ort, an dem man gerne länger bleibt: die JVA in Leipzig | |
| Stille herrscht an diesem Tag Anfang Mai im Gerichtssaal des Chemnitzer | |
| Landgerichts. Nicolas* betritt in Handschellen den Saal, links und rechts | |
| von sich jeweils ein Justizbeamter. Mit gesenktem Kopf schlurft er zu | |
| seinem Sitz auf der Anklagebank. Dann werden ihm die Hände befreit. Der | |
| Prozess beginnt. | |
| Zum ersten Mal seit über vier Monaten hat Nicolas an diesem Morgen die | |
| Mauern der Justizvollzugsanstalt in Leipzig verlassen. Im Januar wurde er | |
| in Chemnitz zusammen mit seiner Freundin beim Klauen einer Handtasche und | |
| eines Pullovers erwischt. Der Gesamtwert der gestohlenen Waren: 58 Euro. | |
| Nicolas ist Tscheche. Er hat keinen Wohnsitz in Deutschland und so bestand | |
| laut dem Haftrichter die Gefahr, er könnte in seine Heimat flüchten, um | |
| sich der Strafverfolgung zu entziehen. Direkt am nächsten Morgen lieferte | |
| man Nicolas zur Untersuchungshaft in die JVA Leipzig ein. Seine Freundin | |
| verbrachte ebenfalls einige Tage in Untersuchungshaft. Doch der Wohnsitz | |
| ihrer Mutter in Deutschland ermöglichte es ihr, unter Auflagen | |
| freizukommen. Einmal pro Woche hatte sie sich daraufhin bei der Polizei zu | |
| melden. | |
| Haftrichter:innen dürfen eine Untersuchungshaft, also die Inhaftierung | |
| eines noch nicht verurteilten Beschuldigten, nur in Ausnahmefällen | |
| anordnen. Dafür gibt es gute Gründe: Nur die Hälfte der | |
| Untersuchungshäftlinge erhält später eine Haftstrafe. Um Untersuchungshaft | |
| anordnen zu können, muss zum Beispiel die Gefahr bestehen, dass | |
| Beschuldigte Beweise manipulieren, Zeugen einschüchtern oder die Tat | |
| wiederholen könnten. In 95 Prozent der Fälle geben die Richter jedoch | |
| Fluchtgefahr als Haftgrund an. Ein Wohnsitz im Ausland oder nur | |
| Auslandskontakte gelten als fluchtbegünstigend. | |
| „Richter begründen ihre Entscheidung häufig damit, dass die Beschuldigten | |
| in leicht löslichen Wohnverhältnissen leben“, erklärt Lara Möller von | |
| Justice Collective. Wie im Fall von Nicolas betreffe das vor allem Menschen | |
| ohne Wohnsitz oder Familie in Deutschland. Der Verein aus Berlin beobachtet | |
| Strafprozesse von Massendelikten, also häufig begangenen Straftaten, um | |
| Diskriminierungen aufgrund von Armut und Rassismus zu dokumentieren. | |
| ## 60 Prozent verbringen drei Monate oder länger in U-Haft | |
| Ausländische Beschuldigte müssen häufiger als deutsche auch bei | |
| Massendelikten wie Diebstahl mit Untersuchungshaft rechnen. 60 Prozent der | |
| 12.000 Untersuchungshäftlinge in deutschen Gefängnissen sind laut | |
| Strafverfolgungsstatistik Ausländer:innen, obwohl sie nur 30 Prozent aller | |
| Beschuldigten ausmachen. | |
| Um eine Entscheidung über Untersuchungshaft treffen zu können, greifen | |
| viele Richter:innen auf „Erfahrungswissen“ zurück. Dies gründet sich | |
| manchmal auf Statistiken, viel häufiger jedoch auf persönlichen, | |
| wissenschaftlich nicht überprüfbaren Alltagstheorien. Ausländer:innen | |
| fliehen demzufolge mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Möller kritisiert | |
| diese Praxis als voreingenommen. | |
| Nicolas musste bis zu seinem Gerichtsprozess gut vier Monate in | |
| Untersuchungshaft ausharren. Auch das ist Alltag: 60 Prozent der | |
| Untersuchungshäftlinge verbringen drei Monate oder länger in Haft. Bis zu | |
| sechs Monate darf eine Person in Untersuchungshaft genommen werden, bei 30 | |
| Prozent der Untersuchungshäftlingen kommt es sogar zu einer Verlängerung | |
| dieses Zeitraums. Die Zeit wird letztlich auf die endgültige Strafe | |
| angerechnet. Wer freigesprochen wird, kann für die Zeit in Gefangenschaft | |
| [1][Schmerzensgeld verlangen]. | |
| Für Nicolas, der plötzlich vier Monate aus seinem Leben gerissen wurde, war | |
| das Schlimmste die Ungewissheit. „Hier drinnen weißt du nicht, was | |
| passieren wird und wann du wieder rauskommst“, erzählte er eine Woche vor | |
| seinem Gerichtstermin am Telefon. „Ich zähle nur noch die Tage.“ Nur zwei | |
| Stunden am Tag sei seine Zelle aufgeschlossen worden, damit er andere | |
| Gefangene treffen könne. Manchmal habe er ferngesehen, aber da er kein | |
| Deutsch spricht, verstand er nichts. | |
| Die Bedingungen in der Untersuchungshaft [2][sind harscher] als in der | |
| tatsächlichen Strafhaft. Anders als für verurteilte Gefangene gibt es kaum | |
| Freizeitangebote, Arbeit oder Sozialprogramme. Und das, obwohl für Nicolas | |
| weiterhin die Unschuldsvermutung gilt. | |
| ## Die Annahme einer Fluchtgefahr trifft nur selten zu | |
| In Nicolas’ Fall kamen weitere Einschränkungen seiner Freiheiten hinzu. | |
| Laut der Staatsanwaltschaft bestand die Gefahr, er könnte mit seiner | |
| Freundin eine Flucht oder eine weitere Tat planen oder Beweise vernichten. | |
| Also ordnete sie eine besondere Überwachung jeglicher Kommunikation wie | |
| Briefe, Besuche und Telefonate an – laut Nicolas’ Pflichtverteidiger eine | |
| gängige Praxis bei Mittäterschaft. | |
| Da Nicolas auf Tschechisch mit seiner Familie und seinen Freund:innen | |
| kommuniziert, musste demzufolge jede Unterhaltung von der | |
| Staatsanwaltschaft übersetzt werden. Da dies einen Mehraufwand bedeutet | |
| hätte, lehnte die Staatsanwaltschaft seinen Antrag auf ein Telefon zunächst | |
| ab. Erst nach drei Monaten wurde dem stattgegeben. | |
| Untersuchungen zeigen, dass die Annahme einer Fluchtgefahr nur selten | |
| zutrifft. Von 169 Angeklagten, bei denen das Gericht Fluchtgefahr | |
| vermutete, die jedoch trotzdem freigelassen werden mussten, flohen nur 14. | |
| Zwar zeigen die Daten, dass bei Personen ohne deutschen Wohnsitz eine | |
| höhere Fluchtgefahr besteht, doch wird in den Rechtswissenschaften kritisch | |
| diskutiert, ob die Rückkehr eines Straffälligen in seinen EU-Wohnsitzstaat | |
| als Flucht angesehen werden kann. Da Diebstahl auch in Tschechien strafbar | |
| ist, könnte die Verfolgung von Nicolas Straftat an den EU-Mitgliedsstaat | |
| übergeben werden. In der Praxis geschieht dies jedoch selten. | |
| ## U-Haft muss im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen | |
| Im Sitzungssaal 3.004 des Landesgerichts in Chemnitz verliest die Richterin | |
| die Anklage: räuberischer Diebstahl und Körperverletzung sowie Diebstahl in | |
| einem weiteren Fall. Im Laufe der Ermittlungen ausgewertete Videoaufnahmen | |
| zeigten, wie Nicolas und seine Freundin am selben Tag auch Parfüms | |
| gestohlen hatten. | |
| Der Grund für den Tatbestand Raub und Körperverletzung: Ein Ladendetektiv | |
| gab zu Protokoll, dass Nicolas, beim Versuch zu fliehen, handgreiflich | |
| geworden war. Nicolas streitet ab, sich gewehrt zu haben. „Ohne den | |
| Detektiv kann ich nichts entscheiden“, erklärt die Richterin. Dieser ist | |
| als Zeuge geladen, aber weder erschienen noch telefonisch erreichbar. | |
| Wie es jetzt weitergeht? Das klären Richterin, Staatsanwaltschaft und | |
| Verteidigung in einer kurzen Pause von ungefähr zehn Minuten. Nicolas | |
| bekommt in der Zeit Handschellen angelegt und die Justizbeamten verfrachten | |
| ihn in eine Zelle im Keller. Bei Untersuchungshäftlingen ein übliches | |
| Sicherheitsprozedere. | |
| Laut deutschem Gesetz ist die Untersuchungshaft nur dann zulässig, wenn sie | |
| in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere und Bedeutung der Tat sowie | |
| der möglichen Strafe steht. Mehr als ein Drittel aller Personen in | |
| Untersuchungshaft werden aber lediglich des Diebstahls beschuldigt. Immer | |
| wieder müssen Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil | |
| das Verfahren und dementsprechend die Haft bereits länger andauert als die | |
| zu erwartende Strafe. | |
| ## 8 Prozent der Untersuchungshäftlinge werden freigesprochen | |
| Nur 50 Prozent der Beschuldigten in Untersuchungshaft werden später | |
| tatsächlich zu einer Haftstrafe verurteilt. Fast 30 Prozent der | |
| Untersuchungshäftlinge werden nach dem Verfahren auf Bewährung | |
| freigelassen. 10 Prozent erhalten eine Geldstrafe und weitere 8 Prozent | |
| werden entweder [3][freigesprochen] oder das Verfahren wird eingestellt. | |
| Auch Nicolas wird an diesem Vormittag nicht zu einer Haftstrafe verurteilt. | |
| Trotz fragwürdiger Beweislage verkündet die Richterin eine Bewährungsstrafe | |
| von neun Monaten für räuberischen Diebstahl, Körperverletzung und | |
| Diebstahl. „Es gibt keinen Anlass, warum der Detektiv falsche Angaben | |
| gemacht haben soll“, erklärt sie ihre Entscheidung. | |
| Lara Möller vom Justice Collective ist über das Urteil wenig überrascht: | |
| „Häufig wird schriftlichen Protokollen von Ladendetektiven vor Gericht mehr | |
| Glaubwürdigkeit geschenkt als nichtdeutschen Angeklagten.“ | |
| Dass Nicolas vier Monate seiner Freiheit beraubt wurde, spielt in dem | |
| Verfahren keine große Rolle, außer in der mahnenden Aussage der Richterin, | |
| die die vier Monate als „genug Abschreckung“ bezeichnet. | |
| Untersuchungshaft verletzt routinemäßig die individuellen Freiheitsrechte | |
| von Beschuldigten wie Nicolas. Und das, obwohl Haftrichter:innen auch | |
| auf Ersatzmaßnahmen wie regelmäßigen Meldungen bei der Polizei | |
| zurückgreifen könnten. | |
| Diese wären jedoch mit mehr Aufwand verbunden und finden meist nur dann | |
| Anwendung, wenn sich ein:e Anwält:in dafür einsetzt. Und das, obwohl ein | |
| Häftling den Steuerzahler laut offiziellen Zahlen aus dem Jahr 2021 im | |
| Schnitt 180 Euro pro Tag kostet – eine Summe, die inzwischen höher sein | |
| dürfte. | |
| Hätte Nicolas auf die Zeugenaussage des Detektivs bestanden, wäre es zu | |
| einem weiteren Gerichtstermin gekommen. Bis dahin hätte Nicolas allerdings | |
| zurück in die Enge und Einsamkeit seiner Zelle gemusst. An einen Ort, den | |
| er zutiefst verabscheut und dessen Demütigung er nie wieder erfahren | |
| möchte. | |
| * Aufgrund seiner Geschichte möchte Nicolas seinen Nachnamen nicht in der | |
| Öffentlichkeit sehen. | |
| 29 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Josefine Rein | |
| Hannah Jagemast | |
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