Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Polizeigewalt vor Gericht: Dem Korpsgeist getrotzt
> Ein junger Polizist zeigt seinen Kollegen an, nachdem der einen Häftling
> misshandelt hat. Das Gericht verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe auf
> Bewährung.
Bild: Wird oft genug nicht gezogen: die rote Karte gegen Polizeigewalt
Hamburg taz | Manchmal passieren die großen Dinge eben in Saal 3.06 des
Amtsgerichts Hamburg-Harburg. Wenn der 26-jährige Polizist C. sich dort an
den Zeugentisch setzt. Mein Kollege hat einen Häftling getreten. „Ich
konnte meinen Augen nicht glauben“, sagt C., klein, kräftig in schwarzem
Sweatshirt und Turnschuhen. Er könnte auch im Fanblock des HSV stehen, ohne
aufzufallen.
Was er tut, ist spektakulär: Er bricht mit dem [1][ungeschriebenen Gesetz,
dass Polizist:innen nicht gegen Kolleg:innen aussagen]. Es ist ein
bisschen schade, dass kaum jemand da ist, um den Moment zu würdigen.
Immerhin sitzen zwei junge Polizisten im Zuschauerraum und hören, dass
Macht kein Freibrief ist.
Laut Anklage hat der Polizeibeamte Christian W. im Mai 2024 den Kopf des
vorläufig festgenommenen Imants Z. absichtlich gegen einen Türrahmen
gestoßen. Danach habe W. dem auf dem Boden liegenden und gefesselten Mann
zweimal mit dem Fuß gegen die Stirn getreten. W. bestreitet das. Er ist ein
kräftiger Mann in Jackett und Hemd, seit 30 Jahren Polizist.
Dass er nun [2][wegen einer „Diensthandlung“], so beschreibt er den
Vorfall, auf der Anklagebank sitzt, belaste ihn „gewaltig“. Z. habe ihn ins
Bein gebissen und daher habe er dessen Gesicht mit der Innenseite seines
Schuhs beiseite geschoben. Sein Anwalt nennt das „maßvoll“. Allerdings: Die
Zeugen vor Gericht erinnern sich mehrheitlich nicht an ein maßvolles
Beiseiteschieben. Sie erinnern sich an Tritte.
## Doppelt gefesselt
Imants Z. war in einem Supermarkt beim Ladendiebstahl erwischt worden. Er
leistete heftigen Widerstand gegen seine Festnahme; die Beamten fesselten
ihn an Armen und Beinen. Als er auf der Wache keine Anstalten machte, aus
dem Auto auszusteigen, trugen sie ihn hinein. Es wird später
unterschiedliche Aussagen dazu geben, ob der augenscheinlich alkoholisierte
Imants Z. weiter Widerstand leistete.
Sicher ist: Er war doppelt gefesselt. Und unbestritten ist, dass Christian
W. vom Inneren der Wache aus Z. hineinzog. Der Zeuge C. sagt, es habe
plötzlich einen Ruck gegeben und Z.’s Kopf sei gegen den Türrahmen
geknallt. Daraufhin habe er Blickkontakt mit W. gehabt.
C. sagt nicht viel mehr zu diesem Kontakt. Im Nachhinein scheint es ein
erstes Signal für ihn gewesen zu sein, dass etwas passierte, was nicht
passieren sollte. „W. hat mit der Pike gegen seine Stirn getreten und
gesagt: ‚Du rotzt mir nicht auf meine Schuhe‘“, sagt C. Er habe kein Rotz…
gesehen. Auch keine Bisse, wie von W. behauptet. Der Festgenommene habe
geschrien. Daraufhin habe W. erneut getreten.
„Ich habe so etwas noch nie in meinen vier Wänden erlebt“, sagt C. und
meint mit den vier Wänden das Kommissariat. Er ist damals erst seit knapp
drei Wochen in der Schicht. „Ich war überfordert“, erinnert er sich.
Er spricht seinen Kollegen W. nicht an. Er schreibt weder etwas über die
Tritte noch über den Stoß in seinen Bericht. Aber er muss abends im Bett an
die Schreie von Z. denken – und beginnt mit seinen Kollegen darüber zu
sprechen, ob nur er das Gefühl hat, dass am 14. Mai eine Grenze
überschritten wurde, die man nicht überschreiten darf.
## Polizeianwärter sagt aus
Zwei Kollegen waren bei dem Vorfall dabei, beide noch jünger als C. Der
eine, S., 25 Jahre alt, hat hinter dem Tresen die Formulare ausgefüllt und
kann sich an nichts erinnern. Keine Schreie, keine Tritte.
Der andere Zeuge, B., ist 21 Jahre alt, kinnlanges Haar, Anorak,
Polizeianwärter, der sein erstes Praktikum im Polizeikommissariat (PK) 47
macht, als Imants Z. dorthin gebracht wird. Er kann sich sehr deutlich
erinnern: „Herr W. hat ihn getreten“. Aber auch B. hat nichts davon in
seinen internen Bericht geschrieben.
Genau das hinterfragt W.’s Anwalt, ausführlich, sowohl bei B. als auch bei
C. „Ich wusste nicht, wie ich es da hineinschreiben soll“, sagt C.
Vermutlich könnte er auch sagen: Ich hatte Angst vor den Folgen, wenn ich
einen Kollegen, der 30 Jahre im Dienst ist, anzeige.
Letztlich hat C. genau das getan: Er ging zum Dienststellenleiter und
erzählte ihm von dem Vorfall. Damit war alles Weitere klar: Bei
Körperverletzung im Amt muss Anzeige erstattet werden. „Wie geht es Ihnen
persönlich damit?“, fragt der Richter. „Es ist generell ein sehr schlechtes
Gefühl“, sagt C. „Ich bin nicht mit der Absicht gekommen, Kollegen
anzuzeigen. Sondern damit, dass wir als Polizei Leuten helfen.“
Imants Z., der mutmaßlich Geschädigte, so heißt es in der Sprache des
Gerichts, trägt auch heute Fußfesseln. Zwei Justizbeamte bringen ihn aus
der Justizvollzugsanstalt Vechta. Z. sagt ohne große Beteiligung aus – für
ihn scheint es hier um wenig zu gehen. Erinnern kann er sich an: nichts.
Der Richter hält ihm die Aussage vor, die er in seinem Prozess gemacht hat:
„Ich wurde vom Arzt im Gefängnis begutachtet. Er meinte, mein Gesicht sei
blau. Ich hatte mehrere Verletzungen. Sie waren aber nicht alle von Herrn
Kilic.“ Mit Herrn Kilic hatte sich Z. im Supermarkt geschlagen. „Woher
kamen die anderen Verletzungen?“, fragt der Richter nun. Z. kann es nicht
sagen.
Natürlich ist dies eine Lücke, in die der Anwalt vorstoßen kann, und genau
das tut er. Es gibt ein Gutachten des Arztes, der Z.’s Verwahrfähigkeit, so
heißt es in der Justizvollzugssprache, geprüft hat. Dort ist von keinerlei
Auffälligkeiten die Rede.
## Denkwürdiger Moment
Und nun kommt ein weiterer denkwürdiger Moment in diesem insgesamt
denkwürdigen Prozess: Ein junger Mann im Publikum steht auf und sagt, dass
er dem Richter etwas mitteilen möchte. Ein bisschen weht eine Ahnung vom
Club der toten Dichter durch den Raum 3.06 des Amtsgerichts, eine Variation
des Moments, als immer mehr Schüler aus Protest gegen ihren Direktor auf
die Tische steigen.
Der neue Zeuge ist ebenfalls Beamter des PK 47. Er kam am Abend des 14. Mai
zu Z.’s Zelle, als dieser klingelte. „Er hatte ein demoliertes Gesicht“,
sagt der Beamte. „Ich habe das nicht groß hinterfragt, ich dachte, es sei
wegen der Widerstandshandlungen.“ Er habe sich daraufhin eher Sorgen um die
Kollegen gemacht und gefragt, ob bei ihnen alles in Ordnung sei. „Z. wirkte
sehr eingeschüchtert“, sagt der Zeuge noch, „der Verwahrarzt war schon da
gewesen“. Das heißt: Der Arzt hat die Verletzungen schlicht nicht
festgehalten.
„Was hat all das mit Ihnen gemacht?“, fragt der Richter den Angeklagten, so
wie er es schon den Zeugen C. gefragt hat. W. ist nach der Anzeige zur
Straßenverkehrsbehörde versetzt worden. „Ich bin nicht Polizist geworden,
um Halteverbote zu genehmigen“, sagt er. „Das ist keine Polizeiarbeit.“ �…
„Haben Sie sich dienstrechtlich kundig gemacht?“, fragt der Richter, denn
auf W. wartet noch ein dienstrechtliches Verfahren. „Durchaus“, sagt W.
„Von bis ist dort alles möglich.“
Die Staatsanwältin fordert für ihn eine Geldstrafe von 160 Tagessätzen à
100 Euro. Der Richter sieht auf die Uhr, es ist 13.38 Uhr. Bis 13.50 Uhr
will er das Urteil fällen. Es liegt deutlich über dem, was die
Staatsanwältin gefordert hat. W. wird wegen Körperverletzung und
[3][gefährlicher Körperverletzung im Amt] zu neun Monaten
[4][Freiheitsstrafe auf Bewährung] verurteilt.
Die Begründung ist fast ein Besinnungsaufsatz für die Polizei. Es sei
„erschreckend“, dass W., der doch eine Vorbildfunktion habe, vor den Augen
der jungen Kollegen eine wehrlose Person getreten habe. Und dann sagt der
junge Richter, der bisher nicht durch Pathos aufgefallen war: „Ich will es
wiederholen: Die Ehre der Polizei wurde hochgehalten von einem Beamten, der
sich getraut hat, Anzeige gegen einen Vorgesetzten zu erstatten.“
5 Feb 2025
## LINKS
[1] /Koerperverletzung-im-Amt/!6062372
[2] /Rassistische-Polizeigewalt/!6063123
[3] /Rassistische-Polizeigewalt/!6049901
[4] https://www.justiz.nrw.de/BS/recht_a_z/B/Bewaehrung
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Polizeigewalt
Polizei
Justiz
Prozess
Gericht
Hamburg
Social-Auswahl
Riesa
Emanzipation
Lützerath
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aktivistin über Polizeigewalt in Riesa: „Die Hunde bissen mich in den Oberar…
Beim Protest gegen den AfD-Parteitag in Riesa hatte die Polizei ihre Hunde
nicht im Griff. Verletzte will, dass Polizei die Klinikrechnung bezahlt.
Deutsche Migrationspolitik: Wegsperren, wegschicken
Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft
verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis.
Gerichtsprozess wegen Braunkohleprotest: „Mönch“ von Lützerath verteidigt…
Der französische Aktivist Loic S. erklärt, warum er sich des
„Polisistenshüppsens“ schuldig gemacht habe. Da schmunzelt selbst der
Richter.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.