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# taz.de -- 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: Bald ist niemand mehr da
> Vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Die
> letzten Zeitzeugen sterben, deshalb braucht es neue Formen des Erinnerns.
Einmal im Jahr erinnert der Bundestag mit einer Gedenkstunde an das
furchtbarste von Deutschen verübte Verbrechen der Geschichte, den Holocaust
an den europäischen Jüdinnen und Juden. Der 27. Januar markiert zugleich
die Befreiung von Auschwitz 1945 durch die Rote Armee. Das ist in diesem
Jahr 80 Jahre her. Aber nicht nur die Verbrechen entfernen sich zeitlich
immer mehr vom Heute, auch der [1][Gedenktag] ist schon historisch. Vor 29
Jahren wurde er von Bundespräsident Roman Herzog eingeführt.
Es ist zur Tradition geworden, dass die Hauptrede im Plenum rund um den 27.
Januar von einem Überlebenden des Holocaust gehalten wird. Erster
ausländischer Gast war 1998 der israelische Historiker [2][Yehuda Bauer].
Am kommenden Mittwoch, dem 29. Januar, wird Roman Schwarzman, der 1936 in
der Nähe des ukrainischen Winnyzja geboren wurde und als Siebenjähriger das
Ghetto Berschad überlebte, im Bundestag sprechen.
Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Tradition, dass ein Opfer der
Deutschen diese an ihre Taten erinnert, aufgegeben werden muss. Denn die
letzten Überlebenden sterben aus. Das ist traurig für die Familie und
Freunde. Es ist aber auch für die Öffentlichkeit ein markanter Einschnitt,
denn es steht für die Historisierung eines Menschheitsverbrechens. Bald
wird niemand mehr da sein, der berichten und Fragen beantworten kann, was
damals geschehen ist.
Die Erinnerungen der Zeitzeugen werden in Büchern und Filmen weiter präsent
sein, aber nicht in Fleisch und Blut. Wer schon einmal erlebt hat, wie eine
lärmende Schulklasse in Minuten mucksmäuschenstill geworden ist, wenn ein
alter Mensch von den Schrecken der Lager und Ghettos erzählt, weiß, wovon
die Rede ist.
## Die Verbrechen präsent bleiben lassen
Der Abschied hat längst begonnen. Es gibt nur noch so wenige Überlebende,
dass ein solcher Geschichtsunterricht selten geworden ist. Zu den
Anstrengungen, diesen Verlust zu kompensieren, gehören KI-gesteuerte
Interviews, bei denen Benutzer Fragen an eine schon verstorbene Person
stellen können. Archive sind bei Tiktok aktiv. Klassenfahrten zu
Gedenkstätten gehören zum Schulalltag.
All diese Initiativen werden aber nichts daran ändern, dass der Holocaust
bald Teil einer fernen Geschichte sein wird, weit weg vom Leben im 21.
Jahrhundert und ähnlich fern wie die Reichseinigung 1871. Dies zu
akzeptieren und nach neuen Formen des Erinnerns zu suchen, wird die Aufgabe
in der Zukunft sein. Am Holocaust-Gedenktag macht die Spitze des Staats
deutlich, dass auch der größer werdende zeitliche Abstand zum Holocaust
nichts daran ändern darf, dass dieses Verbrechen präsent bleibt.
Sie betont zugleich die Verantwortung dafür, dass Verbrecher wie die Nazis
nie wieder die Macht ergreifen dürfen und das Versprechen, dem
Antisemitismus entgegenzutreten. Die Beschwörung dieser doppelten
Verantwortung ist zu einem Ritual geworden. Aber dieses Ritual ist nicht
sinnentstellt, sondern höchst lebendig. Es gibt Gelegenheiten, da braucht
ein Land Rituale – um sich selbst zu versichern, was die Grundlagen
gesellschaftlichen Handelns sind und um deutlich zu machen, dass gewisse
Verhaltensweisen unanständig sind. Gerade heute.
Zu diesen Unanständigkeiten zählt zuallererst der Antisemitismus. In
jüngerer Zeit entsteht ein Missverhältnis zwischen den Beschwörungsformeln
der Politik, dem Judenhass entgegenzutreten, und der Realität. Alle
Kennzahlen antisemitischen Verhaltens weisen nach oben, von
Propagandadelikten bis hin zu Gewalttaten.
## Ich-bin-doch-kein-Antisemit-Antisemiten
Die Tatsache, dass sich unter den Verdächtigen von judenfeindlich
motivierten Straftaten Schon-immer-Deutsche und Migranten befinden,
Christen und Muslime, Weiße und Schwarze, Menschen ohne Schulabschluss und
solche mit einem Doktortitel, Rechtsradikale und Linke, Arme und
Wohlhabende, zeigt, dass der Antisemitismus in allen Teilen der
Gesellschaft virulent ist und sich chamäleonartig wandeln kann, je nach
äußeren Bedingungen, aktuellen politischen Situationen und der jeweiligen
Zielgruppe.
Dies ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die man sich gelegentlich vor
Augen führen muss. Der aktuelle Judenhass hat einige Verbindungen zum
Judenmord der Nazis, aber er kommt auch ohne aus. Selbstverständlich gilt
es, diesen Antisemitismus auch mittels politischer und historischer Bildung
zu bekämpfen. Der [3][judenfeindliche Spruch eines Schülers] in einer
KZ-Gedenkstätte ist kein Argument gegen den Besuch, sondern dafür –
vorausgesetzt, die Lehrerinnen und Lehrer bereiten sich anständig auf den
Besuch vor.
Nur ist es offensichtlich so, dass der Hass auf Juden alleine mit dem
[4][Besuch von Gedenkstätten] nicht auszurotten ist. Ist er überhaupt
auszurotten? Es wird wohl beim Versuch dazu bleiben, aber wenigstens der
darf nicht nachlassen. Gelegentlich ist davon die Rede, dass ein früher
tabuisiertes Verhalten wie der Antisemitismus heute offener zutage tritt.
Das ist nur teilweise richtig. Die Zahl der bekennenden Antisemiten in
diesem Land ist eher gering.
Viel mehr Menschen hingegen verfallen antisemitischen Denk- und
Verhaltensweisen, behaupten aber, sie selbst seien gewiss keine
Judenfeinde. Auf die Verurteilung von Neonazis, die, mit Springerstiefeln,
Glatzen und einer tätowierten „88“ auf der Brust, den Hitlergruß
vollführend SS-Parolen brüllen, kann sich die Gesellschaft einigen. Ganz
anders ist es hingegen mit den Ich-bin-doch-kein-Antisemit-Antisemiten.
## Gefährlicher Philosemitismus
Da sind die vorgeblichen Rechtskonservativen, in Wahrheit Rechtsradikalen.
Sie lieben ihre Jüdinnen und Juden in vollendetem Philosemitismus,
besonders aber Israel, weil dessen Regierung konsequent gegen Muslime
vorgehe. Zugleich aber verbreiten sie ein völkisches Weltbild, das Gruppen
außerhalb ihrer „Volksgemeinschaft“ mit weniger Bürgerrechten ausstatten
will, reden vom NS-Staat als einem „[5][Vogelschiss in der Geschichte]“ und
vom Berliner Holocaust-Mahnmal als „[6][Denkmal der Schande]“.
Wenn es um Judenhass geht, zeigen diese Leute gerne auf muslimische
Migranten und Linke. Eng mit diesen verwandt bewegen sich Reichsbürger in
einer trüben antisemitischen Brühe. Sie haben wahlweise die Rothschilds,
George Soros oder die Bilderberg-Konferenz als Teil einer großen jüdischen
Verschwörung identifiziert. 9/11, so murmeln sie, könnte vom Mossad
inszeniert worden sein. Und wie war das mit den Kinderblut trinkenden
westlichen Eliten?
Wie aber steht es mit dem Verhalten vorgeblich linker
Revolutionsexporteure, teilweise mit Migrationshintergrund, deren Ziel eine
Delegitimierung Israels ist? Sie solidarisieren sich mit [7][islamistischen
Hetzern und Mördern]. Ihre Bezichtigung Israels, ein auf Rassismus
basierendes Land zu sein, dient dem Ziel, den jüdischen Staat zu zerstören.
Der Zionismus, dieser jüdische Nationalismus, wird von ihnen als
kolonialistische Unterdrückungsbewegung fehlinterpretiert.
Jüdische Israelis gelten ihnen ebenso wie mit Israel Sympathisierende als
potenzielle Feinde, und sei es, wenn sie den Schal eines [8][Tel Aviver
Fußballklubs] tragen. Eine gewisse Verwandtschaft zu oben genannten rechten
Gruppen beweisen sie durch ihre notorische Furcht vor dem Mossad.
Antisemitisch seien ihre Vorstellungen keinesfalls, beteuern sie, denn hier
gehe es ausschließlich um die Unterdrückung der Palästinenser.
## Fürsorge auch für lebende Juden und Jüdinnen
Geht es um Judenhass, zeigen sie bevorzugt auf die sogenannten
Rechtskonservativen. Am liebsten sind ihnen verirrte Jüdinnen und Juden,
die ihre Meinung teilen; ähnlich der AfD, die den israelischen
Regierungschef Benjamin Netanjahu mag, nur politisch spiegelverkehrt. So
viel zur aktuellen Lage am Vorabend des 80. Jahrestags der Befreiung von
Auschwitz.
Nun ist es aber so: Heute leben in Deutschland wieder mehr als 100.000
Jüdinnen und Juden, zum Glück. Viele von ihnen haben [9][Angst davor, eine
Kippa auf dem Kopf oder ein Kettchen mit Davidstern um den Hals zu tragen],
wenn sie auf die Straße gehen. Sie vermeiden es, ihren jüdisch klingenden
Vornamen in der Öffentlichkeit zu nennen. Sie meiden gewisse Stadtteile,
Straßen und Geschäfte. Sie möchten als Schüler und Studenten vermeiden,
dass ihre Identität bekannt wird.
Sie möchten manche Arbeitskollegen nicht mehr sehen. Sie sprechen mit
Bekannten aus Israel kein Hebräisch in der Öffentlichkeit, so sie dieser
Sprache mächtig sind. Einige haben sich aus Vereinen zurückgezogen, deren
Mitglieder sich als Israel-Hasser herausstellten. Es schmerzt sie, wenn
Israel als kolonialistischer Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, das Land, wo
manche von ihnen Verwandte und Freunde haben und das ihnen als
Rückversicherung gilt für den Fall, dass es hier immer furchtbarer wird.
Wir verlieren sie, wenn das so weitergeht. Es ist gut und wichtig, wenn
Deutschland sich der Massenverbrechen unter den Nazis erinnert. Es wäre
noch besser, wenn die Fürsorge gegenüber toten auch auf lebendige Juden
ausgedehnt würde. Am besten aber wäre es, wenn nicht Juden spüren müssten,
was Antisemitismus bedeutet. Sondern die Antisemiten.
27 Jan 2025
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/scholz-warnt-mit-blick-auf-80-jahre-auschwit…
[2] /Nachruf-auf-Yehuda-Bauer/!6041214
[3] https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/kz-buchenwald-schuelern-droht-…
[4] /Pro--Contra/!5476251
[5] /Gaulands-Relativierung-der-NS-Zeit/!5510144
[6] /Bjoern-Hoecke-und-das-Holocaust-Mahnmal/!5376704
[7] /!6027923/
[8] /Israelische-Fans-angegriffen/!6047697
[9] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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