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# taz.de -- NS-Experte zu Antisemitismus-Resolution: „Wissenschaftsfremd und …
> Am Mittwoch wendet sich der Bundestag in einer Resolution gegen
> Antisemitismus an Unis. Das greife die Wissenschaftsfreiheit an, sagt
> Historiker Ulrich Herbert.
Bild: Propalästina-Demo in Berlin im Frühjahr 2024: Der Bundestag will, dass …
taz: Herr Herbert, der Bundestag verabschiedet [1][eine Resolution], die
den Kampf gegen Antisemitismus in den Hochschulen stärken soll. Ist das
nötig?
Ulrich Herbert: Ja. Es gibt an Universitäten Übergriffe
propalästinensischer Aktivisten bis hin zu Gewalttätigkeit. Manche negieren
oder rechtfertigen sogar das Massaker der Hamas am 7. Oktober. Es ist
richtig, dass die demokratischen Parteien dagegen ein starkes Wort erheben.
Das Problem ist, was hier unter Antisemitismus verstanden und zur
verbindlichen Interpretation an Schulen und Universitäten erklärt wird.
taz: Laut Resolution soll [2][die Definition der IHRA] für die Wissenschaft
„maßgeblich“ sein. Warum ist das problematisch?
Herbert: Was Antisemitismus ist, wird in Israel, in den jüdischen Gemeinden
und weltweit an Universitäten seit Langem intensiv und strittig diskutiert.
Im Dezember 2019 protestierten 127 jüdische und israelische Intellektuelle
gegen die IHRA-Definition, weil sie „bewusst Kritik und Opposition gegen
die politischen Maßnahmen des Staates Israel mit Antisemitismus in
Verbindung“ bringe. Im April 2023 kritisierten 60
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, European Jews for a
Just Peace oder Medico International, dass die IHRA-Definition dazu
verwendet werde, Kritik an der Politik Israels als „antisemitisch“ zu
verunglimpfen.
Und der Bundestag beschließt nun, dass diese umstrittene Definition
verbindlich für die Wissenschaft gelten soll – in Forschung und Lehre.
Studierenden soll also die IHRA-Definition als die gültige Wahrheit
vermittelt werden. Das ist wissenschaftsfremd und wissenschaftsfeindlich.
Deswegen ist die Resolution in dieser Form inakzeptabel.
taz: Gibt es keinen relevanten israelbezogenen Antisemitismus?
Herbert: Doch. Darunter fällt etwa der Vorwurf, Israel dramatisiere oder
instrumentalisiere den Holocaust. Oder die Tendenz, Israel mit der
NS-Politik gleichzusetzen. Das hat, zur Erinnerung, zum Beispiel der
stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen Möllemann Anfang der 2000er Jahre
getan, verbunden mit der Ankündigung, er würde in Deutschland mit der Waffe
in der Hand gegen eine Landnahme wie in Palästina kämpfen.
Andererseits versucht die rechtsnationalistische Regierung unter Netanjahu
in Israel seit Jahren, Kritik an Israel mit Hilfe der IHRA-Definition als
antisemitisch zu stigmatisieren, nicht ohne Erfolg. Und natürlich besteht
jetzt die Gefahr, dass diejenigen, die die israelische Besatzungspolitik im
Westjordanland oder das Vorgehen in Gaza kritisieren, dann des
Antisemitismus geziehen werden. Das führt zu absurden Verdrehungen.
taz: Zum Beispiel?
Herbert: Omer Bartov ist einer der bedeutendsten Holocausthistoriker
weltweit. Er hat in der israelischen Armee gedient und weist darauf hin,
dass Netanjahu den Antisemitismusvorwurf nutzt, um die Kritik an der
Besatzung im Westjordanland und dem Krieg in Gaza abzuwehren. Dass jemandem
wie Bartov deshalb Antisemitismus vorgeworfen wird, entbehrt nicht einer
gewissen Absurdität und zeigt, wie sachfremd die Debatte mittlerweile ist.
taz: Laut Resolution darf, wer Boykottbewegung gegen Israel wie BDS
unterstützt, „in deutschen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen keinen
Platz haben“. Das sei „israelbezogener Antisemitismus.“ Was bedeutet das
praktisch für den deutschen Universitätsbetrieb?
Herbert: Dass Dozenten und Dozentinnen, die Boykott-Aufrufe unterzeichnet
haben, unter Druck gesetzt oder entlassen werden können. Wer wie Saul
Friedländer, Shulamit Volkov, Eva Illouz, Dan Diner oder Christopher
Browning darauf hinweist, dass Israel im Westjordanland eine Art
Apartheidregime etabliert hat, muss in Deutschland mit Sanktionen rechnen.
Wer die Position vertritt, dass die Besetzung des Westjordanlandes
widerrechtlich ist und man nach internationalen Regeln Israel daher
boykottieren müsse, ebenfalls. Ich teile diese Pro-Boykott-Position nicht.
Aber dass sie aus Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen verbannt werden
soll, ist Zensur.
taz: Es geht aber um kein Gesetz, sondern nur um eine Resolution, eine
Absichtserklärung des Bundestags.
Herbert: Das ist zutreffend. Es ist aber zu befürchten, dass diese
Resolution Universitätsleitungen und Wissenschaftsministern die
Legitimation verschafft, Unliebsame zu bedrängen und ihnen Forschungsmittel
zu entziehen, wie ja bereits geschehen.
taz: Der Bundestag hat im November 2024 [3][eine Resolution gegen
Antisemitismus verabschiedet]. Damals wurde kritisiert, dass die Freiheit
der Wissenschaften tangiert würde. Die neue Resolution soll, so das
Argument, nun die Wissenschaftsfreiheit unterstreichen, die ja mehrfach in
dem Text betont wird …
Herbert: Wenn das die Absicht war, findet sich davon nichts im Ergebnis.
Diese Resolution ist in dieser Form ein Eingriff in die Hochschulautonomie
und die Wissenschaftsfreiheit, wie es ihn in der Bundesrepublik noch selten
gegeben hat. Es ist verwunderlich, dass es in demokratischen Parteien
dagegen kaum öffentlichen Protest gibt.
taz: Wahrscheinlich spielt dabei die Angst eine Rolle, als antisemitisch
gebrandmarkt zu werden. Das ist wenig karriereförderlich.
Herbert: Vielleicht. Für Wissenschaftler darf das keine Rolle spielen. Mich
sorgt, dass die Debatte um den Nahostkonflikt völlig aus dem Ruder gelaufen
ist. Im postkolonialen Diskurs erscheint Israel als kolonialer Staat,
Antisemitismus ist der Gegenbegriff. Die komplexe Wirklichkeit des
Nahostkonflikts erfassen beide Begriffe nicht.
Dieser Konflikt ist ein Konflikt zweier Völker um das gleiche Land. Die
Verwendungen von Begriffen wie antisemitisch, rassistisch oder
kolonialistisch sind Teile der begrifflichen Kriegführung und tragen zum
Verständnis des Konflikts nichts bei. Es gibt bei diesem politischen
Konflikt keine einfache Lösung. Wer sie verspricht, will betrügen.
taz: Sie haben sich jahrzehntelang mit dem Holocaust und Antisemitismus
befasst. Meinte Kampf gegen Antisemitismus immer das Gleiche? Oder gibt es
Konjunkturen bei diesem Begriff?
Herbert: Es gibt Bedeutungsverschiebungen im Verhältnis der Bundesrepublik
zur NS-Zeit. Die 50er und 60er Jahre waren von einem pflichtschuldigen,
defensiven Philosemitismus des schlechten Gewissens geprägt. In den 70er
und 80er Jahren gab es einen Hegemoniewandel, den die Rede von Richard von
Weizsäcker 1985 zum Ausdruck brachte. Danach machten sich auch Konservative
– die beim Thema NS-Zeit bis dahin, vorsichtig gesagt, zurückhaltend
gewesen waren – eine deutliche Pro-Israel- und Anti-Antisemitismus-Haltung
zu eigen.
taz: Und heute?
Herbert: Seit ungefähr 2015 gibt es eine neue Variante. Die Rechtsradikalen
in Europa sehen in Israel einen Verbündeten gegen die muslimische und
arabische Welt. In Frankreich symbolisiert der Wechsel von Jean-Marie Le
Pen, der den Holocaust leugnete, zur Tochter Marine Le Pen, die gegen
Antisemitismus demonstriert, diesen Wandel. In Deutschland sympathisiert
die AfD mit Israel als antiarabischem Frontstaat.
Die Rechtsradikalen nutzen heute die Pro-Israel-Haltung und den
Anti-Antisemitismus, um Kritiker der Netanjahu-Regierung, die ja mit den
rechten und rechtsradikalen Bewegungen und Regimen in enger Beziehung
steht, als Antisemiten zu diffamieren. Das ist auch vor dem Hintergrund der
deutschen Geschichte ein schlechter Witz.
29 Jan 2025
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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