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# taz.de -- Pro & Contra: Sollen alle Schüler KZs besuchen?
> In Deutschland tritt Antisemitismus wieder offen zutage. Ist eine
> KZ-Besuchspflicht ein wirksames Mittel dagegen?
Bild: Auschwitz steht für nichts mehr als den Tod – und weckt dadurch mehr E…
Demonstranten, die mitten in Berlin [1][israelische Flaggen verbrennen].
Lehrer, die [2][unverhohlen rassistisch-antisemitisches Gedankengut
verbreiten]. Jugendliche, die ihre jüdischen MitschülerInnen [3][offen
angreifen und beleidigen]. Die jüngsten Vorfälle in Deutschland werfen die
Frage auf, ob das Land 73 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder
ein Antisemitismusproblem hat. Und ob es – diese Frage rückt die Politik in
den Vordergrund – durch muslimische Migranten verstärkt wird, die ihren
mutmaßlichen Judenhass mit nach Deutschland bringen.
Der Streit über diese Fragen hat diese Woche neue Nahrung erhalten. Die
Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) hatte in der Bild am Sonntag
Pflichtbesuche in ehemaligen Konzentrationslagern gefordert. „Ich fände es
sinnvoll, wenn jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet würde,
mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht zu haben“,
[4][sagte Chebli]. Das gelte auch für Zuwanderer. KZ-Besuche sollten zum
Bestandteil von Integrationskursen werden.
Die Forderung stieß im ganzen Land auf Widerspruch: Der thüringische
Bildungsminister Helmut Holter (Linkspartei), der ab kommender Woche den
Vorsitz der Kultusministerkonferenz übernimmt, sagte am Montag, er halte
das „Du musst“ für den falschen Weg. Das Lernen an authentischen Orten sei
„richtig und wichtig“. Es wäre aber besser, Anreize zu setzen, damit die
Jugendlichen dieses Thema für sich entdeckten und sich damit
auseinandersetzten.
Auch der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter
Morsch, sprach sich gegen verpflichtende Besuche aus. Nicht zuletzt die
Erfahrungen in der DDR hätten gezeigt, dass diese Formen von
„Zwangspädagogik“ häufig kontraproduktiv wirken und das historische Lernen
eher verhindern als befördern. Der Theologe Björn Mensing, der seit über
zehn Jahren Besuchergruppen durch das KZ Dachau führt, bemerkte: Den
Gedenkstätten fehle es an qualifiziertem Personal. Das sei aber nötig,
damit ein Besuch für wenig motivierte Jugendliche „ertragreich“ sei.
Schon im November hatte der Zentralrat der Juden gefordert, dass
SchülerInnen der höheren Klassen eine KZ-Gedenkstätte besuchen müssen. Das
ist bisher nur in wenigen Bundesländern wie etwa in Bayern so.
Ist eine KZ-Besuchspflicht für alle Schülerinnen und Schüler in der
Bundesrepublik ein wirksames Mittel gegen Antisemitismus?
## Ja:
Es spricht nichts dagegen, während der Schulzeit einmal auch eine
KZ-Gedenkstätte besuchen zu müssen. Mit 22 Jahren war ich in Auschwitz und
zum ersten Mal überhaupt in einer KZ-Gedenkstätte – was, wie ich finde,
eindeutig zu spät war. Bis dahin hatte ich kein greifbares Bild der „Rampe“
vor Augen, an der über den Zeitpunkt des Todes entschieden wurde. Ich
konnte mir die Enge in den Wohnbaracken nicht vorstellen, den Blick durch
die schmalen Fenster auf die Hinterhöfe mit den Backsteinwänden, an denen
Menschen der Reihe nach erschossen wurden.
Alles, was ich aus der Schule wusste, stand auf Papier und war weit weg.
Auch sechs Millionen ist eine ungeheuer abstrakte Zahl, wenn man in einem
Klassenraum mit 29 anderen SchülerInnen sitzt. Mit SchülerInnen, die
lamentieren: „Boah, ich kann’s einfach nicht mehr hören“ oder: „Ganz so
stimmt das aber alles nicht.“ Und ja, das waren erschreckend viele.
Es ist zunächst einmal unerheblich, ob SchülerInnen einen intensiven
Unterricht über die nationalsozialistische Vergangenheit unnötig und
tendenziös finden, ob migrantische Jugendliche in Berlin Israelflaggen
verbrennen oder ob das deutsche (Ur-)Enkelkind eines Wehrmachtsoldaten
behauptet, es sei ja nichts dabei, geschmacklose Fotos zwischen den Stelen
des Holocaustmahnmals zu schießen. All diese unterschiedlichen
antisemitischen Anknüpfungsmomente zeigen: Die Unsensibilität und der
emotionale Abstand zum Holocaust sind riesig.
Für einen der zahlreichen jüdischen Menschen, die heute wieder in Berlin
leben, dürften jene Beobachtungen dagegen bedrohlich wirken. In Israel muss
jede*r die Holocaustgedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem während seiner
obligatorischen militärischen Ausbildung besuchen. Das soll vermitteln, wie
wichtig es ist, das Land Israel zu verteidigen, weil die Bedrohung für
Jüd*innen allgegenwärtig ist. Der Besuch ist für die jungen Frauen und
Männer, wie ich aus eigener Beobachtung sagen kann, extrem emotional.
An deutschen Schulen steht zum Beispiel das Lernen der Winkelberechnung
zwischen zwei Vektoren verpflichtend im Lehrplan. Warum sollten wir nicht
ebenso verinnerlichen müssen, wie weit Menschen aufgrund von
Allmachtsfantasien und wahnwitzigen Rassenideologien bereit sind zu gehen?
Daten und Fakten reichen dafür offenbar nicht aus; was es braucht, ist
Empathie. Das eine zu lernen kann man verordnen, das andere nicht, heißt
es. Ich bezweifle allerdings, dass wirklich alle in meiner Stufe verstanden
haben, wie man Winkel zwischen zwei Vektoren berechnet. Man kann immer nur
versuchen, die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen
SchülerInnen lernen können.
Genauso kann man die Rahmenbedingungen für das Entstehen von Empathie
schaffen. Den sechs Millionen getöteten Juden müssen Gesichter und
Geschichten gegeben werden. Das funktioniert nicht in Klassenzimmern oder
Seminarräumen. Das funktioniert nur da, wo diese Menschen beispiellos
gelitten haben. Rund 80 Jahre bevor man selbst auf dem Appellplatz steht,
wurden Menschen dort wie Vieh zusammen- und in den Tod getrieben, andere am
Sammelgalgen aufgehängt. Genau hier ist das passiert, da, wo ich jetzt bin.
Verblasste Namensschilder an Koffern und Brillenetuis, die hinter
Glasscheiben aufgetürmt wurden, zeigen, dass sie tatsächlich mal jemandem
gehört haben.
Man erkennt lieb gehabte und liebevoll ausgesuchte Habseligkeiten, die
schnell zusammengepackt wurden, bevor man aus seiner Wohnung geholt wurde.
Teddybären, von denen man sich vorstellen kann, wie sie vor lauter Angst an
eine zitternde Kinderbrust gedrückt wurden. Oder man sieht Ausweise mit dem
eigenen Vornamen, einem ähnlichen Nachnamen. Auschwitz, das für nichts mehr
steht als den Tod, erweckt diese Menschen in einem selbst zum Leben. Und
weckt dadurch mehr Empathie als jedes Schulbuch.
Und selbst wenn das nicht bei jedem Menschen gleichermaßen passiert – es
gibt so viele unsinnige Ausflüge während der Schulzeit. Ich zum Beispiel
war insgesamt dreimal in der DASA, der Arbeitsschutzausstellung in
Dortmund, zweimal im Klettergarten, einmal im Schokoladenmuseum in Köln.
Auf all das hätte ich verzichten können, nichts davon hat im Anschluss für
Gespräche gesorgt. Diese Gespräche braucht es aber für mehr Empathie.
Austausch zwischen SchülerInnen, Menschen, die hier aufgewachsen sind, und
jenen, die neu dazukommen.
Hanna Voß
***
## Nein:
Wenn es männliche Juden aus Furcht vor Aggressionen vermeiden, mit einer
Kippa auf dem Kopf gewisse Stadtteile zu betreten, wenn das Wort „Jude“ auf
Schulhöfen als Schimpfwort gebräuchlich ist, wenn muslimische Demonstranten
israelische Flaggen verbrennen und Schüler das Wirken Adolf Hitlers mit dem
von Erich Honecker verwechseln, dann ist in Deutschland ganz offenbar
verschiedenes gründlich schiefgelaufen.
Nicht nur Juden beobachten, dass sich antisemitische Ressentiments in
jüngster Zeit offener zeigen als zuvor und judenfeindliche Äußerungen in
der Gesellschaft auf eine breitere Zustimmung stoßen. Es ist wie das
Zerbröseln von trockenem Zement zwischen den Steinen eines Hauses: Die
Fassade der Zivilisation wankt noch nicht, aber man möchte auch nicht
darauf wetten, dass sie nicht irgendwann in Zukunft einmal einstürzt.
Das Geschichtsbild ist mit bestimmend für die Entwicklung der eigenen
gesellschaftlichen Vorstellungen, ja, es bildet ein Fundament. Deshalb ist
es richtig, gerade an den Schulen darauf hinzuwirken, dass der jungen
Generation eine Vorstellung darüber vermittelt wird, was die Generation
ihrer Urgroßväter getrieben hat, und zugleich klarzustellen, dass sie
selbst dafür keine Schuld trägt, wohl aber eine historische Verantwortung.
Mithilfe trockener Lehrstunden und belehrender Geschichtsbücher allein ist
das allerdings nur schwierig zu bewerkstelligen.
Die Vorstellung aber, diesem Ziel mithilfe obligatorischer Besuche von
KZ-Gedenkstätten näher zu kommen, zeugt von viel gutem Willen. Dennoch
halte ich sie für wenig erfolgversprechend. Um nicht falsch verstanden zu
werden: Der Besuch eines solchen Horrorplatzes deutscher Vergangenheit ist
für die politische Bildung wichtig. Wer einmal die engen Pritschen in den
Baracken gesehen hat, in denen die Häftlinge nächtigen mussten, den
Stacheldraht, der um das Lager gezogen war, und die Krematorien, in denen
die Leichen der Opfer verbrannt wurden, wird künftig möglicherweise weniger
leichtfertig den Judenmord abtun und unterlässt es künftig, einen Witz
darüber zu reißen.
Aber eben nur möglicherweise. Denn ob die Schüler die Gedenkstätte auch als
solche begreifen oder nicht doch als einen Ort, wo antisemitische
Provokationen geradezu besonderen Spaß machen, hängt ganz wesentlich davon
ab, wie die Lehrer selbst vorbereitet sind und wie sie ihre Schüler darauf
vorbereiten.
Deshalb kann der Besuch einer KZ-Gedenkstätte Sinn machen, muss es aber
nicht. Wirklich wichtig ist es nicht, auf einem früheren Appellplatz zu
stehen, sondern zu begreifen, was damals warum geschehen ist. Es geht um
das Wecken von Empathie für die Opfer, darum, dass die nächste Generation
diese nicht einfach als Millionenheer von Schattengestalten begreift. Das
wird, zugegebenermaßen, mit dem Tod der letzten Zeitzeugen schwieriger.
Aber es ist nicht unmöglich.
Es existieren durchaus andere Orte als ehemalige Konzentrationslager, die
diese Auseinandersetzung mit der Geschichte fördern können. Nehmen wir nur
die Stolpersteine, die fast überall in Deutschland am Ort ihrer letzten
Wohnadresse an die Ermordeten erinnern. Auf vielen dieser Gedenkorte sind
Namen von Mädchen und Jungen eingraviert, die in dem Alter sterben mussten,
das die heutigen Jugendlichen gerade erreicht haben. Lasst sie
recherchieren, was das für Kinder waren, die damals sterben mussten!
Es gibt Gedenkstätten und Museen, die sehr gut anhand von Beispielen
vermitteln, was damals geschehen ist. Um ein weiteres Beispiel zu nennen:
Der Besuch der Räume der Blindenwerkstatt Otto Weidt, der in Berlin Juden
vor der Deportation versteckte, macht eindrücklich, was ein Leben in der
Illegalität bedeutete. Es vermittelt, welche Risiken die Retter auf sich
nahmen – und, umgekehrt, wozu die Mehrheit der Bevölkerung eben nicht
bereit war. Ein solcher Besuch lässt nachfragen, auch darüber, wozu man
selbst gegenüber Verfolgten in solch einer Situation bereit zu sein glaubt.
Ein KZ-Besuchszwang dagegen, so steht zu befürchten, könnte das Gegenteil
dessen bewirken, was intendiert ist: Weniger engagierte Lehrer können den
Besuch als lästigen Punkt des Lehrplans abhaken, mit dem sie ihrer Pflicht
Genüge getan haben. Entsprechend unvorbereitete Schüler können die
Mordstätte als historischen Abenteuerplatz begreifen, ohne sich wirklich
damit auseinanderzusetzen. Und die Politik könnte sich zufrieden
zurücklehnen – sie hat ja alles vermeintlich Notwendige getan, um den
Antisemitismus zu bekämpfen.
Klaus Hillenbrand
10 Jan 2018
## LINKS
[1] /Antisemitische-Demo-zu-Jerusalem-Streit/!5465120
[2] /Antisemitismus-auf-Youtube/!5475189
[3] /Antisemitismus-in-Berlin/!5397470
[4] http://www.bild.de/politik/inland/konzentrationslager/pflichtbesuch-fuer-fl…
## AUTOREN
Hanna Voß
Klaus Hillenbrand
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