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# taz.de -- Rückblick auf unsere Recherchen: Was aus taz-Recherchen wurde
> Auch in diesem Jahr hat die taz zu Missständen recherchiert, zu denen
> bisher nicht berichtet wurde. Doch wie ging es nach den Recherchen
> weiter?
Bild: „Dark Souvenirs“ aus Russland: taz-Recherchen nach den Spuren russisc…
Dieses Jahr gab es wieder viele taz-Recherchen. Wir wollen hier einige
vorstellen und berichten, was seit den Veröffentlichungen geschehen ist.
Bei den Recherchen ging es um rechtsextreme Netzwerke und um russische
Desinformation, um bedrohte Kommunalpolitiker und um Machtmissbrauch, um
Fernsehsender für Verschwörungstheorien und um Kindesentführung.
Braun und blau in Sachsen Hand in Hand
Es ist ein Fall, der die AfD in die Bredouille gebracht hat. Anfang
November lässt die Bundesanwaltschaft in Sachsen acht Rechtsextreme
festnehmen, sieben weitere durchsuchen. Sie stehen in Verdacht, eine
rechtsextreme Terrorgruppe gegründet zu haben. Die Gruppe, die sich selbst
[1][„Sächsische Separatisten“] nannte, soll sich mit paramilitärischen
Übungen und Schießtrainings auf einen gewaltsamen Umsturz vorbereitet
haben. Bei den Festnahmen fanden Polizisten eine zweistellige Anzahl an
Waffen.
Schnell ist klar: Sechs der Männer waren [2][bei der AfD aktiv] oder bei
der Parteijugend, der „Jungen Alternative“ (JA). Zwei von ihnen saßen für
die AfD im Stadtrat von Grimma und waren beim sächsischen
AfD-Landtagsabgeordneten Alexander Wiesner angestellt: Kurt Hättasch und
Kevin Richter.
Die taz war nach den Festnahmen [3][in Grimma], sprach dort mit Personen,
die mit den Beschuldigten zu tun hatten, und legte offen, dass die
Festgenommenen in der Stadt bereits einen festen Szenetreff aufbauten: das
„Rote Haus“, unmittelbar am Bahnhof. Die acht Festgenommenen sind bis heute
in Haft. Der mutmaßliche Rädelsführer Jörg S. ist in Polen in Haft, wo er
zuletzt wohnte. Ein polnisches Gericht ordnete Mitte Dezember die
Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls an. Wird die Entscheidung
rechtskräftig, könnte Jörg S. nach Deutschland ausgeliefert werden.
Mit Hättasch und Richter waren zwei Beschuldigte bereits im Sommer bei
einer exklusiven Recherche der taz aufgefallen. Beide waren am 22. Juni auf
einer [4][Sonnenwendfeier im ostsächsischen Strahwalde], bei der Lieder der
Hitlerjugend gesungen wurden und ein SS-Standartenführer geehrt wurde.
[5][Neonazis, Völkische und AfD-Politiker] feierten damals Seite an Seite.
Das Auffliegen der „Sächsischen Separatisten“ befeuerte erneut die
AfD-Verbotsdebatte. Der frühere Ostbeauftragte Marco Wanderwitz (CDU)
[6][sagte der taz], der Fall zeige einmal mehr, dass „zügig“ ein Verbot der
AfD geprüft werden müsse. Eine gute Woche nach den Razzien brachten
Wanderwitz und 112 weitere Abgeordnete im Bundestag einen AfD-Verbotsantrag
ein. Eine Debatte darüber soll im Januar folgen. Ob es noch in dieser
Legislatur zu einer Abstimmung kommt, ist ungewiss.
In Grimma wiederum zeigten sich viele überrascht über die
Terrorverdächtigen. Anzeichen wollte fast niemand gesehen haben, die
kommissarische Oberbürgermeisterin Ute Kabitzsch gab sich „zutiefst
erschüttert“.
Zwei Wochen nach der Festnahme versammelten sich rund 130 Bürger:innen
zu einer Kundgebung auf dem Marktplatz und forderten ein konsequentes
Vorgehen gegen Rechtsextremismus in der Region. In der anschließenden
Stadtratssitzung, der ersten seit der Festnahme von Hättasch und Richter,
stand das Thema eigentlich nicht auf der Tagesordnung. Der Druck von
Demonstrant:innen und Medien führte schließlich doch zu einem Statement
der Stadtratsmitglieder.
Die Stadtratsposten von Kurt Hättasch und Kevin Richter sind Mitte Dezember
nachbesetzt worden. Der im Aufbau befindliche Treffort, das „Rote Haus“,
dessen Eigentümer Hättasch und Richter sind, ist inzwischen verrammelt.
Finanzier des Hauses war der frühere Berliner CDU-Senator Peter Kurth, der
zuletzt schon die Nähe zur AfD suchte: Er gab ein [7][Darlehen von 100.000
Euro].
Die AfD wiederum reagierte mit Parteiausschlussverfahren gegen die drei
festgenommenen Parteimitglieder. Die Junge Alternative selbst hatte nach
den Festnahmen erklärt, sie wolle erst einmal die Ermittlungen abwarten.
Die AfD-Bundesspitze strebt derzeit an, die JA aufzulösen und neu zu
struktrieren. Mit den „Sächsischen Separatisten“ habe das nichts zu tun,
heißt es aus der Partei. Dieser Prozess sei schon Monate zuvor in Gang
gesetzt worden.
Prison Break in Sachsen-Anhalt
Es klingt wie der Stoff für einen Film: Unter den Gefangenen der
Justizvollzugsanstalt in Burg, Sachsen-Anhalt, kursiert ein
[8][detaillierter Lageplan des Gefängnisses]. Alle Räume und Etagen sind
darauf verzeichnet, Einstiege, Personalschleusen, Brennstofflager,
Schlüssel- und Saferaum, sogar die Orte, an denen Waffen und Munition zu
finden sind.
Der Plan soll Spezialeinsatzkommandos im Notfall helfen. Auf keinen Fall
sollten Gefangene ihn kennen. Doch dass dies offenbar der Fall war,
brachten taz-Recherchen im November 2024 ans Licht. Sie offenbarten ein
sicherheitsrelevantes Datenleck in einem Hochsicherheitsgefängnis.
Gefängnisrecherchen sind aufwendig, die Geschichten schwer überprüfbar. Um
mit Gefangenen in Kontakt zu treten braucht es Geduld, Umwege, Briefe. Der
Zugang zu Gefängnissen und ihren Insassen ist stark beschränkt.
Nachdem die taz von dem Lageplan erfahren hatte, reiste ein Reporter zu
einem Treffen in einer Spelunke irgendwo in Deutschland, im Gepäck eine
analoge Kamera, um das Beweismaterial zu fotografieren. Immer, wenn der
Kellner vorbeikam, musste das Dokument zusammengefaltet werden. In
schummrigem Licht entstanden Fotos. Woher der Plan kam und wie er unter
Gefangenen kursieren konnte, ließ sich für die taz nicht eindeutig
nachvollziehen.
Die taz konfrontierte das sachsen-anhaltinische Justizministerium mit den
Recherchen. Anschließend überschlugen sich die Ereignisse. Noch bevor das
Ministerium auf die taz-Fragen antwortete, wurde die Leiterin der JVA Burg
vorläufig freigestellt. In der darauffolgenden Nacht durchsuchte eine
Einheit des Ministeriums die JVA.
In der folgenden Woche beriet der Rechtsausschuss im Magdeburger Landtag
über die Ergebnisse der taz-Recherche, Justizministerin Franziska Weidinger
(CDU) musste gegenüber der Opposition Stellung nehmen. Die Presse blieb
ausgeschlossen, da es um Sicherheitsvorkehrungen und Persönlichkeitsrechte
ging.
Die [9][Staatsanwaltschaft Stendal ermittelt] mittlerweile gegen Unbekannt
wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses und besonderer
Geheimhaltungspflicht. Es gilt herauszufinden, wo die Informationen
abgeflossen sind und wer darauf Zugriff hatte. Zudem laufen ein Verfahren
gegen die ehemalige Anstaltsleiterin und eine Untersuchung im
Justizministerium. Nach Informationen der taz sind bereits Insassen der JVA
befragt worden.
Am 8. Januar, beim nächsten Rechtsausschuss, sollen weitere Details bekannt
werden.
Entführung im Kriegsgebiet
Valeriia O. ist eine Frau, die es gewohnt ist, die Kontrolle zu haben. Die
Ukrainerin leitet seit Jahren eine Hilfsorganisation, die ukrainische
Frontstädte mit Shampoo, Brot und Plätzen für Kinderbetreuung versorgt. Sie
arbeitet mit internationalen Organisationen, ihr Englisch ist fließend.
Doch als das russische Militär im Februar 2022 O.s Heimat, die Ukraine,
überfällt, verliert sie von einem Tag auf den anderen die Kontrolle. Ihr
Ex-Mann entführt das gemeinsame Kind, erst innerhalb der Ukraine, dann nach
Russland, später nach Deutschland. Zweieinhalb Jahre wird Valeriia O. ihr
Kind suchen. Sie wird sich dabei in große Gefahr begeben, sie wird Hilfe
bekommen von Menschen, von denen sie es nicht gedacht hätte, und sie wird
am Ende doch fast scheitern – an der deutschen Rechtsprechung.
Die taz hat Valeriia O. einige Monate während ihrer Suche begleitet. Eine
Reporterin ist dabei, als Valeriia O. ihr Kind zugesprochen bekommt und es
zum ersten Mal wieder unbeschwert in den Arm nehmen kann, nach zweieinhalb
Jahren. Unter dem Titel [10][„Nicht ohne ihre Tochter“] berichten wir im
Juni diese Geschichte.
Wenige Tage nach der Gerichtsentscheidung reist Valeriia O. mit ihrer
Tochter zurück in die Ukraine – entgegen der Absprache mit dem Ex-Mann vor
dem deutschen Gericht. Sie lebt dort bis heute, in der Zentralukraine. Der
Krieg, sagt O. heute, fühle sich weit weg an.
Valeriia O. hat viel zu tun gerade. Sie leitet weiterhin die NGO, parallel
bereitet sie sich auf den Abschluss ihrer Doktorarbeit vor. Sie habe keine
Zeit, zurückzublicken, sagt sie. Sie verspüre keine Wut mehr auf die
deutschen Behörden, die ihr ihr Kind so lange vorenthalten hätten. Sie sei
nur noch dankbar, sagt Valeriia O., für all die Menschen, die sie in den
letzten Jahren unterstützt haben.
Ihrer Tochter gehe es gut. Sie besuche die dritte Klasse, habe dort viele
neue Freunde gefunden. Ukrainisch spreche sie mittlerweile wieder fließend.
Der Vater hatte nach der Entführung mit dem Kind nur noch Russisch
gesprochen.
Über Deutschland sprechen die beiden kaum noch – nur manchmal, da sei
Deutschland plötzlich sehr präsent. Dann telefoniere die Tochter mit ihren
ukrainischen Freundinnen und spiele Schule. Sie bringt ihren Freundinnen so
Deutsch bei.
Missbrauch bei SOS-Kinderdorf
Es ging um drakonische Strafen, um Gewalt, um Demütigungen. Im Mai hatte
die taz von [11][Missbrauchsvorwürfen bei SOS-Kinderdorf] berichtet.
Heutige Erwachsene hatten geschildert, wie sie als Kinder in Dörfern der
Organisation Missbrauch erlebt haben.
Ehemalige Mitarbeiter:innen und Fachleute stützten die Vorwürfe. Die
Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf Sabina Schutter nahm die Vorwürfe
ernst. Zur Zeit der taz-Recherche war eine umfassende Untersuchung zur
Aufarbeitung bereits im Gange.
Am 2. Oktober 2024 stellte die Unabhängige Kommission zur Anerkennung und
Aufarbeitung erlittenen Unrechts beim SOS-Kinderdorf e. V. [12][ihren
Abschlussbericht] vor. Zweieinhalb Jahre lang war die
Expert:innengruppe insgesamt 226 Meldungen nachgegangen. Darunter
waren Fälle von pädagogischem Fehlverhalten, Vernachlässigung,
Machtmissbrauch sowie sexuellen Übergriffen bei Kindern und Jugendlichen in
SOS-Kinderdörfern in ganz Deutschland seit den 1970er Jahren.
[13][Der Kommissionsbericht bestätigt], dass intern in zahlreichen
Kinderdörfern über Jahrzehnte Vorfälle vertuscht und Kinder nicht gehört
wurden. Das pädagogische Konzept der Kinderdörfer mit ihren abgeschotteten
Hausmüttern und einer falsch verstandenen Autonomie hätten dies begünstigt.
Viele Betroffene leiden bis heute unter den Folgen.
SOS-Kinderdorf-Chefin Schutter hat sich bei den ehemaligen Schutzbefohlenen
entschuldigt. Immerhin 33 Fälle hat die Kommission an die Münchener
Generalstaatsanwaltschaft weitergeleitet – Fälle, die noch nicht verjährt
sind oder so gravierend, dass sie eine strafrechtliche Verfolgung
nahelegen.
Missbrauch intern zu melden und sich Gehör zu verschaffen, teils viele
Jahre später, ist eine Herausforderung für Betroffene; es besteht die
Gefahr einer Retraumatisierung. Und selbst dann gibt es keinen
Automatismus, dass solche Fälle auch juristisch verfolgt werden, wie die
Fälle von Valentin Wrobl und Nici Müller aus dem taz-Bericht zeigen. In
beiden Fällen kam es trotz Anzeigen nicht zu einem Gerichtsprozess.
Für die beiden Betroffenen war das eine enorme emotionale Belastung. Es
dürfe niemanden wundern, sagte der Anwalt von Müller und Wrobl der taz,
dass angesichts solcher Entscheidungen der Gerichte viele Betroffene auf
eine Anzeigeerstattung verzichten. „Misshandlung und Missbrauch von Kindern
bleibt für die Täter:innen einer der risikoärmsten Deliktsbereiche.“
Nach dem taz-Bericht meldeten sich mehrere ehemalige
SOS-Kinderdorf-Mitarbeitende bei der taz und berichteten von Intransparenz,
Überforderung und hierarchischer Willkür bei der Organisation. Vorständin
Schutter hat zugesagt, die Empfehlungen der Unabhängigen Kommission
aufzunehmen und umzusetzen.
Hybride Kriegsführung aus dem Kreml
Der Innenausschuss des Bundestags reagierte prompt: [14][Im September
hatten die taz] und die Süddeutsche Zeitung enthüllt, wie systematisch
eine der größten Propagandafabriken Russlands, die Social Design Agency
(SDA), Desinformationskampagnen in Europa und Deutschland durchführt. Eine
Woche später ließen die Ampel-Fraktionen die Bundesregierung im Ausschuss
über „russische Einflussnahmeoperationen“ auf deutschem Boden berichten.
Die Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Rita Schwarzelühr-Sutter,
bestätigte hinter verschlossenen Türen, dass die SDA im Auftrag der
russischen Regierung auch hierzulande „psychologische Kriegsführung und
Desinformation“ betreibe. Sie kündigte eine neue Projektgruppe an, die
Zentrale Stelle zur Erkennung ausländischer Informationsmanipulation
(ZEAM).
Zuvor hatte die taz über Interna aus der SDA berichtet. Mit Hilfe dutzender
interner Dokumente konnten wir zeigen, wie das russische Unternehmen
deutsche Medien scannte, wie ihre Mitarbeiter:innen versucht haben,
Onlinedebatten mit prorussischen Narrativen zu fluten.
Persönlichkeiten aus Europa und Deutschland wurden von der SDA systematisch
beobachtet, darunter Sahra Wagenknecht (BSW), Lars Klingbeil (SPD) und der
Entertainer Dieter Bohlen. Die SDA verfolgte deren Onlineaktivitäten,
sammelte pro- und antirussische Zitate, um diese zu instrumentalisieren.
Mit Fakeaccounts intervenierten SDA-Leute [15][in den sozialen Medien]. So
sollten Ängste geschürt, antiwestliche Stimmungen erzeugt werden – unter
anderem, um bei der Europawahl im Juni rechte und rechtsextreme Parteien zu
stärken, darunter explizit auch die AfD.
Seitdem waren die SDA und die russische Desinformation wiederholt Thema im
Bundestag. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zitierte in
einer Rede aus dem Arbeitsauftrag der SDA und warnte, dass Wladimir Putin
eine „hybride Kriegsführung“ betreibe, die „mit jedem Tag gefährlicher
wird“. Auch der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann warnte im Parlament, die
„Enthüllungen“ der SDA-Kampagnen seien wohl „nur die Spitze des Eisbergs…
Im Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl warnten zuletzt auch der
Bundesnachrichtendienst und der Verfassungsschutz vor russischer
Desinformation. Zur Gegenwehr hat der Verfassungsschutz eine Taskforce für
die Bundestagswahl eingerichtet. Im Bundesinnenministerium tagt außerdem
die AG Hybrid, in der mehrere Ministerien und Behörden versuchen, „hybride
Bedrohungen“ zu verhindern. Und seit Herbst gibt es die neue Taskforce, die
ZEAM, die Desinformation aufspüren und mit anderen Staaten kooperieren
soll.
Betroffene der SDA-Kampagnen wie die frühere Linken-Chefin Janine Wissler,
die von der SDA beobachtet wurde, beklagen dagegen, bis heute nicht von den
Sicherheitsbehörden informiert worden zu sein. Sie wisse davon nur aus der
taz. Aus der Erfahrung mit den Behörden nach früheren rechtsextremen
Bedrohungen habe sie hier aber auch „keine größeren Erwartungen mehr“,
[16][sagte Wissler der taz].
Statistiken und rechtsextreme Einstellungen
Wird die AfD häufiger von armen Menschen gewählt? Von Männern? Im
ländlichen Raum? Lässt sich also anhand einzelner Strukturdaten
voraussagen, wo die rechte Partei Erfolg haben wird?
Um diese Fragen zu klären, hat die taz vor den Landtagswahlen in Sachsen,
Thüringen und Brandenburg mit Wissenschaftlern des Institut für
Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen (IRex). Wir
Journalist*innen mussten dabei schnell feststellen: Ganz so einfach ist
das alles nicht.
Monatelang brüteten die Forscher über regionalen Bevölkerungsstatistiken
und erklärten uns das ein oder andere Mal, dass eine eindeutige kausale
Erklärung, wie wir sie uns als Vorlage für eine Reportage vorstellten,
nicht seriös zu machen sei. Die Forscher überprüften die These der
Modernisierungsverlierer, die zur AfD neigten, der sozialen Ungleichheit,
der Individualisierung, der politischen Entfremdung und weiterer möglicher
Erklärungen. Und sie stellten Daten für Messungen zusammen: etwa zum
Steueraufkommen, der Entfernung zum nächsten Arzt oder der Bushaltestelle.
In Baden-Württemberg zeigte sich dabei deutlich eine regionale
Ausdifferenzierung der politischen Gegenspieler AfD und Grüne. Letztere
erzielten bei vergangenen Wahlen vor allem in Universitätsstädten hohe
Ergebnisse, während die AfD umgekehrt im ländlichen Raum stärker war – laut
Forschern kein einfacher Stadt-Land-Gegensatz, sondern einer zwischen
Kosmopolitismus (urbanisierten, internationalisierten und akademisierten
Gebieten) und Kommunitarismus (eher ländlich, traditionell). In allen
untersuchten Bundesländern war zudem erkennbar: In wachsenden Gemeinden hat
die AfD weniger Erfolg, in schrumpfenden Gemeinden eher viel.
Die taz hörte sich daraufhin vor Ort um. Ein Weg führte uns im Sommer
[17][ins brandenburgische Michendorf], wo die Bevölkerung
überdurchschnittlich stark wächst, während die AfD bis dato
unterdurchschnittliche Wahlergebnisse einfuhr. Der Ort liegt im Speckgürtel
von Berlin und zieht viele Reiche und Pendler an, hat gleichzeitig aber
chronisch leere Kassen, wegen ausbleibender Gewerbesteuer. Was Michendorf
ausmacht: eine engagierte Bürgermeisterin, die offen gegen rechts Stellung
bezieht und ein reges Vereinsleben.
Geringer als im Landesdurchschnitt war die Zustimmung zur AfD bislang auch
[18][in Wahlhausen], das in Thüringen an der hessischen Grenze liegt. Das
Dorf ähnelt in wichtigen Daten der thüringischen Gemeinde Oberstadt: Beide
liegen ländlich, haben rund 300 Einwohnende, eine vergleichbare
Altersstruktur, Arbeitslosigkeit und Anteil von Männern und Frauen. Doch in
Oberstadt wählte in der Vergangenheit fast jedeR Zweite AfD. Wahlhausen
hingegen liegt als evangelische Enklave im Eichsfeld, einer traditionell
katholischen CDU-Hochburg, mit kurzem Weg in den hessischen Nachbarort und
einer aktiven Zivilgesellschaft. In Oberstadt hingegen sind laut den Daten
der Tübinger Forscher die Steuereinnahmen geringer und wichtige Wege
länger: zum nächsten Arzt und zur nächsten Bahnstation.
Ähnlich auf dem Papier sind sich auch die sächsischen Gemeinden
[19][Markkleeberg und Taucha]. Beide grenzen an die Universitätsstadt
Leipzig, sind ähnlich groß und besiedelt. Doch in Markkleeberg schnitt die
AfD bis dato schlecht ab, in Taucha deutlich besser. Markkleeberg ist eine
der einkommensstärksten Gemeinden Sachsens, doch anscheinend geht es auch
ums Gefühl und das soziale Umfeld: Laut Befragungen haben Menschen in
Taucha mehr Angst davor, Opfer einer Straftat zu werden als in
Markkleeberg. Und: Taucha hat eine aktive rechtsextreme Szene.
Tatsächlich bewahrheiteten sich die untersuchten Trends bei den
Landtagswahlen. In Sachsen wurde am 1. September die AfD in Taucha mit 23
Prozent stärkste Kraft, wobei die AfD landesweit bei 30,6 Prozent lag.
Deutlich schlechter lief es für die rechtsextreme Partei wieder in
Markkleeberg, wo sie auf 17,5 Prozent der Stimmen kam.
Auch in Brandenburg und Thüringen blieb es bei dem Trend, den die Tübinger
Forscher in den Monaten zuvor in ihren Daten ausmachten: In Thüringen kam
die AfD bei der Landtagswahl am 1. September auf 19,9 Prozent und fuhr
landesweit das viertschlechteste Ergebnis ein. In Oberstadt erreichte die
AfD hingegen 52,7 Prozent und lag damit deutlich über den landesweiten 32,8
Prozent.
Im Brandenburgischen Michendorf indes kam die AfD bei der Wahl am 22.
September auf 21,1 Prozent und lag somit rund 8 Prozentpunkte unter dem
Landesdurchschnitt.
Auf1 – Fernsehen für Verschwörungsgläubige und Putinfans
Stefan Magnet, der Gründer des Sender Auf1 TV, träumt von einer
„Medienrevolution“: Anfang des Jahres 2024 stellte der Österreicher vor
einem exklusiven Kreis in München seine Ideen vor. Bei Häppchen und
Weißwein behauptet er, es gebe „keine freien Medien in Deutschland“. Und er
wolle das ändern – mit seinem Fernsehsender Auf 1.
Ein Reporter der taz [20][ist damals dabei]. Kurz darauf berichten wir
unter dem Titel „Ein Heimatsender für die AfD“ über die Pläne des
Medienunternehmers aus Linz. Sein Fernsehprogramm Auf1 TV ist klar
rechtsextrem und verschwörungsideologisch ausgerichtet, im Netz folgen ihm
bereits Hunderttausende. 2024 sollte das Jahr werden, in dem Stefan Magnet
sein Auf1 auch in Deutschland groß macht.
Das Vehikel dafür war ein kleiner Fernsehsender namens „Schwarz Rot Gold
TV“ (SRG TV) aus Baden-Württemberg. Den hatte ein Stuttgarter Arzt während
der Covid-Pandemie als Internet-Medium aufgebaut, um über angebliche
Corona-Lügen aufzuklären. SRG TV beantragte erfolgreich eine Sendelizenz
und war seit dem 1. September 2023 bundesweit über Satellit zu empfangen.
Zugleich überließ SRG TV Stefan Magnet für das Programm von Auf1 TV mehrere
Stunden täglicher Sendezeit.
Zu Unrecht, entschied bald die gemeinsame Kommission der deutschen
Landesmedienanstalten für Zulassung und Aufsicht (ZAK). SRG TV habe Auf 1
Sendezeit „verkauft“, es gebe damit eine Einflussnahme von Stefan Magnets
Unternehmen auf das Programm von SRG TV. Das sei eine verbotene
Themenplatzierung im Sinne des Medienstaatsvertrags. Die Kommission
betonte, es handele es sich „um einen rein formellen Verstoß“ – eine
Prüfung der Inhalte von AUF1 habe bei der Entscheidung keine Rolle
gespielt. Gleichwohl stufte sie die unzulässige Themenplatzierung als
Ordnungswidrigkeit ein und erließ Anfang März 2024 ein Bußgeld „im
niedrigen sechsstelligen Bereich“. Der Geschäftsführer der SRGT GmbH räumte
daraufhin den Verstoß gegen das Verbot der Themenplatzierung ein und zahlte
das Bußgeld.
Magnet verlor dadurch die Möglichkeit, als regulärer TV-Sender in
Deutschland sein Programm ausstrahlen zu können. Schaden tut das dem Sender
nur begrenzt: Eine Analyse des Internet-Think Thanks Cemas zeigt, wie
überaus erfolgreich Auf1 im Internet ist. Allein bei Telegram hat der Kanal
von AUF1 knapp 230.000 Abonnenten. Es sei „durchaus außergewöhnlich“ wie
Auf1 an anderen „alternativen Medien“ vorbeigezogen ist, wie überaus
erfolgreich Auf1 im Internet ist, sagt ein CemaS-Sprecher. Auf1 zähle nun
zu den größten „Alternativmedien“ für das verschwörungsideologische Mil…
Das Medium lockt damit nicht nur ein spezielles Publikum, sondern auch
spezielle Gäste an. Im aktuellen „Interview des Monats“ steht wieder einmal
Alice Weidel vor der Auf1-Kamera.
Anfeindungen gegenüber Kommunalpolitiker:innen
Dass Kommunalpolitiker Anfeindungen ausgesetzt sind, darüber hat die taz
oft berichtet. Selten aber waren die Angriffe so massiv wie 2022 bei Thomas
Zschornak, den ehrenamtlichen Bürgermeister der sorbischen Gemeinde
Nebelschütz in Sachsen. Zschornak wurde unter anderem Vetternwirtschaft,
persönliche Vorteilsnahme, Amtsmissbrauch, Titelhuberei und unsolides
Finanzgebaren vorgeworfen. Alle Vorwürfe wurden durch eine anonyme Webseite
verbreitet, die im Dorf durch Flugblätter beworben wurde. Keiner hielt der
Prüfung der Kommunalaufsicht stand. Die Webseite verschwand Sommer 2023 aus
dem Netz.
Zschornak, der durch eine ökologisch ausgerichtete „enkeltaugliche“ Politik
bekannt wurde, war im Frühjahr 2022 gerade dabei, nach 32 Jahren
abzutreten. Der damals 58-Jährige erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Da
hatten die Kampagne ihr Ziel aber schon erreicht: Zschornak erlitt einen
Zusammenbruch, bekam Entzündungen, konnte sich nur noch mit Krücken
aufrechthalten und litt an Depressionen. Vollkommen wiederhergestellt ist
seine Gesundheit bis heute nicht. Über Zschornak hat die [21][wochentaz im
Februar berichtet].
Schon bald kam der Verdacht auf, dass Zschornaks späterer Nachfolger als
Bürgermeister und der damalige Amtsleiter des zuständigen
Verwaltungsverbandes in die Kampagne verwickelt gewesen sein sollen. Obwohl
Zschornak und sein Anwalt solche Hinweise weiterleiteten, etwa dass als
mögliche Tatmittel auch Computer im Verwaltungsverband sicherzustellen
seien, hielt sich die Staatsanwaltschaft Görlitz zurück.
Nach weiteren, von den Berichten im DLF und in der taz ausgelöste
Recherchen intensivierte die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit. Dass die
Berichterstattung nicht nachgelassen hat, ist insbesondere dem sorbischen
Publizisten Benedikt Dyrlich zu verdanken, der in der Tageszeitung Serbske
Nowiny veröffentlicht.
Mit Erfolg: Im Juni teilte die Staatsanwaltschaft mit, worauf Zschornak
lange gewartet hatte: Die Kriminalpolizei Görlitz habe Nachermittlungen
aufgenommen „wegen Beleidigung, ubler Nachrede und Verleumdung gegen
Personen des politischen Lebens u. a.“, hauptsächlich gegen zwei Personen
aus der Gemeinde Nebelschütz. Es sind Zschornaks Amtsnachfolger und der
ehemalige Amtsleiter. Außerdem wurden im Verwaltungsamt Computer
sichergestellt.
Das war im Juni. Wer glaubte, die Ermittlungen würden nun zügig zu Ende
geführt, sieht sich getäuscht: Die Staatsanwaltschaft Görlitz hat der taz
Mitte Dezember mitgeteilt, dass „die Auswertung der gesicherten
Datenträger“ noch nicht abgeschlossen sei. Vor März 2025 sei nicht mit
einem Abschluss zu rechnen. Dann liegt die Kampagne drei Jahre zurück.
Auch politisch bleibt die Unterstützung dürftig. Von seinen
CDU-Parteifreunden erkundigen sich nur wenige. Beistand erfährt Zschornak
von Petra Köpping von der SPD, der alten und vermutlich auch neuen
sächsischen Sozialministerin. Sie war es, die ihn und weitere
Kommunalpolitiker nach Dresden lud. Wer im August erlebt hat, wie
gestandene Männer und Frauen mit den Tränen rangen, wenn sie über
Zermürbung und Einschüchterung berichteten, war fassungslos – und wird es
lange bleiben. Auch darüber hat [22][die taz berichtet].
27 Dec 2024
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