# taz.de -- Leerstellen in journalistischen Texten: Was der Flaschensammler nic… | |
> Wann hat man schon das Glück, den Protagonisten seines Textes zweimal zu | |
> treffen? Ein paar Gedanken zu der Zufälligkeit meiner Recherchen. | |
Bild: Das Leben als Flaschensammler ist schwer genug – die Anfeindungen von a… | |
Hamburg taz | Es heißt, man trifft sich immer zweimal, aber das stimmt | |
nicht, zumindest im Journalismus: Meist schreiben wir nur einmal über | |
Menschen. Was danach passiert, erfahren wir selten, und wenn, wird daraus | |
selten ein Text. [1][Bei der Geschichte des Flaschensammlers] gibt es einen | |
Nachtrag, aber der ist, wenn man ehrlich ist, zufällig, weil der | |
Flaschensammler noch einmal in die Redaktion gekommen ist. | |
Er hat dabei eine Sache zurechtgerückt, aber vor allem hat er gezeigt, wie | |
viele Leerstellen in solch einer Recherche bleiben, ohne dass man es merkt. | |
Der Flaschensammler hat zum ersten Mal im November vergangenen Jahres an | |
der Tür unserer Redaktion geklingelt. Er sagte, dass er von der Security am | |
Bahnhof Altona hinausgeworfen worden sei, als er dort Pfandflaschen abgeben | |
wollte. Er habe nicht mitgehen wollen, woraufhin ihn die Security-Leute | |
hinausgeschleppt hätten „wie ein Stück Müll“. Er habe dann lange vor dem | |
Eingang gelegen, dabei sei seine Kamera verschwunden. | |
Der Flaschensammler sagte, er sei Umweltschützer und fotografiere in einem | |
Wald bei Hamburg. Er trug einen braunen Wollpullover und einen langen Bart. | |
Er wirkte wie jemand, der zu einer früheren Zeit Eremit hätte sein können. | |
Sein Deutsch war auch aus der Zeit gefallen, ein bisschen wie ein Brief, | |
den ein Dichter im 19. Jahrhundert schreibt. | |
## Hilfsangebote der Leser:innen | |
Dabei wirkte er wehrhaft. So etwas solle nicht vorkommen dürfen, sagte er. | |
Und dass er nicht wisse, wohin er sich wenden solle mit [2][seinem Protest | |
gegen die Security], gegen die Polizei, die seine Anzeige nicht habe | |
aufnehmen wollen, und mit seiner Frage, wie er wieder an seine Kamera | |
kommen könne mit den Bildern aus dem Wald. | |
Ich hörte seine Geschichte und dachte, dass es einer der seltenen | |
Geschichten sei, bei der Gut und Böse klar verteilt sind. Endlich eine, die | |
man nicht sachte vereinfacht, damit sie plakativ genug ist für viele Klicks | |
im Internet. Gegen Ende unseres Gesprächs tauchte noch eine Klippe auf: | |
Vielleicht, sagte der Flaschensammler, gebe es ein Hausverbot gegen ihn. | |
Falls ja, sei es fast zehn Jahre alt und erlassen worden, weil er die | |
Tauben am Bahnhof füttere. Er müsse das, sagte er, er könne ihr Elend nicht | |
mit ansehen. | |
Ich schrieb auf, was er mir erzählt hatte und holte die Stellungnahmen von | |
Polizei und Bahn ein. Die Polizei schrieb, dass sehr wohl eine Anzeige | |
aufgenommen worden sei, gegen Unbekannt, weil die mutmaßlichen Täter nicht | |
mehr vor Ort gewesen seien. Die Bahn schrieb Tage später nichtssagend, man | |
sei noch mit der Befragung der Mitarbeiter beschäftigt. | |
Nach Veröffentlichung des Textes meldeten sich mehrere Leser:innen mit | |
Hilfsangeboten: eine Kamera oder Geld, um eine neue zu kaufen. Der | |
Flaschensammler war weder über Telefon noch über E-Mail zu erreichen, er | |
hatte gesagt, er werde bei Gelegenheit noch einmal in die Redaktion kommen. | |
Er kam nicht, stattdessen schrieb mir die Bahn, dass ein Hausverbot gegen | |
ihn vorliege. Ich las die E-Mail und dachte: Wie groß ist das Unrecht, | |
jemanden, der Hausverbot hat und sich weigert, zu gehen, hinauszutragen? | |
Ich fragte mich, ob ich den Leser:innen, die Hilfe angeboten hatten, einen | |
neuen Text dazu schuldete oder ob der alte die Graustufen schon gezeigt | |
hatte. | |
An einem Dienstag kam der Flaschenmann überraschend wieder. Er wollte davon | |
erzählen, dass ihn ein Bahnmitarbeiter schikaniere. Ich sagte, dass ich | |
wenig Zeit hätte, was halb stimmte. Schließlich sagte ich doch, was ich | |
eigentlich sagen wollte: „Laut Polizei stimmt es nicht, dass Sie keine | |
Anzeige erstatten durften.“ | |
Der Flaschenmann erzählte stattdessen von seinen Schwierigkeiten mit dem | |
Bahnmitarbeiter. Dann kam er doch noch auf die Anzeige zurück: Vor Ort habe | |
er keine erstatten können. Auch auf dem ersten Revier nicht. Erst auf dem | |
zweiten am anderen Ende der Stadt. | |
Die Welt ist voller Graustufen. Wahrscheinlich können wir | |
Journalist:innen nicht mehr, als sie [3][ansatzweise nachzuzeichnen]. | |
Nachdem der Flaschensammler gegangen war, habe ich einer der Leserinnen | |
geschrieben: Ob sie die angebotene Kamera nun zu uns schicken könne. Der | |
Flaschenmann wollte kein Geld für eine Fahrkarte annehmen. Aber er will | |
wiederkommen. An einem Dienstag. | |
5 Apr 2025 | |
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[1] /Aus-dem-Leben-eines-Flaschensammlers/!6046633 | |
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