# taz.de -- Hamburgs Obdachlose im Winter: Das bisschen Kälte … | |
> Hamburg verlangt von Obdachlosen, oberhalb minus fünf Grad die | |
> Notschlafstelle zu verlassen. Helfer kritisieren das und juristisch ist | |
> es fraglich. | |
Bild: Unwirtlicher Ort: Obdachlosen-Schlafplatz unter der Hamburger Kennedy-Br�… | |
Hamburg taz | In jedem Jahr wieder stellt sich in Hamburg, wenn es kalt | |
wird und sogar die Alster zufriert, die Frage, warum das | |
[1][Winternotprogramm für Obdachlose] nicht auch tagsüber geöffnet ist? In | |
diesem Jahr nun antwortet Hamburgs Sozialbehörde darauf mit einem farbigen | |
Stufenplan. Erst bei dauerhafter Eiseskälte „geringer als –5°C“, markie… | |
in Rot und Violett, dürfen die Menschen ganztags in den Räumen des | |
Winternotprogramms bleiben. | |
In den vergangenen Tagen, als das Thermometer in Hamburgs frühmorgens minus | |
sechs Grad maß, es tagsüber aber auf plus drei Grad stieg, gilt laut der | |
Sozialbehörde die Stufe Orange. Heißt: Die Menschen müssen raus auf die | |
Straße. Aber sie bekommen vier Stunden Drinnensein dazu, denn sie dürfen | |
morgens statt normalerweise bis um 9.30 bis um 11.30 Uhr in der Unterkunft | |
bleiben und dürfen nachmittags statt um 17 Uhr schon um 15 Uhr zurück. | |
„Wir nutzen ein Ampelsystem, das sich an den Warnstufen des Deutschen | |
Wetterdienstes orientiert“, sagt Sprecherin Anja Segert. Das werde jeweils | |
tagesaktuell entschieden. | |
„Das ist ein Stufenplan, den hat der Wetterfrosch gemacht“, sagt [2][Ronald | |
Kelm], Helfer beim ehrenamtlich arbeitenden Gesundheitsmobil. „Ich vermisse | |
hier ernste gesundheitliche Kriterien.“ Denn auch bei Nässe und Kälte um | |
den Gefrierpunkt könnten Menschen unterkühlt werden. | |
## Tagsüber raus, um Lebenslage zu verändern | |
„Das Winterwetter ist nicht nur kalt, sondern auch nass“, erklärt seine | |
Kollegin, die Intensivmedizinerin Lina Ko. Gerade die nasse Kälte sei | |
gefährlich. „Ab einer Körpertemperatur von 35 Grad spricht man von | |
Unterkühlung. Je niedriger die Körpertemperatur ist, desto höher das Risiko | |
für schwere Infektionen wie Lungenentzündungen“, erklärt die Ärztin, die | |
ehrenamtlich beim Gesundheitsmobil hilft. | |
Das [3][Winternotprogramm] gibt es seit mehr als 30 Jahren. Es startet | |
stets am 1. November und bietet in diesem Jahr 400 Plätze in der Hamburger | |
Friesenstraße 22 und 300 an der Châu-und-Lân-Straße 72 [Wer soll denn | |
außerhalb Hamburgs wissen, wo genau das ist?; [4][d. säzz.]]. | |
Gedacht ist, dass die Menschen tagsüber eine [5][der | |
Tagesaufenthaltsstätten] aufsuchen und sich „um ihre persönlichen | |
Angelegenheiten kümmern, um ihre Lebenslage zu verändern“, teilt die | |
Behörde mit. Dazu gehöre es, das Jobcenter und Beratungsstellen | |
aufzusuchen. | |
Ronald Kelm hält dagegen, dass viele Tagesaufenthaltsstätten nur | |
stundenweise geöffnet seien, und, sofern von Ehrenamtlichen betrieben, | |
oftmals auch zu klein seien. „Die Menschen halten sich in U- und S-Bahnen | |
auf oder in Einfahrten, um sich vor der Kälte zu schützen“, sagt Kelm. Auch | |
hätten die Tagesaufenthaltsstätten zu wenig Plätze. Rund 500 sind es laut | |
einer Pressemitteilung des Sozialverbands SoVD, der ebenfalls die | |
ganztägige Öffnung des Winternotprogramms fordert. | |
Die neue Regelung je nach Außentemperatur führt bei dem | |
[6][SoVD-Landesvorsitzenden Klaus Wicher] zu Kopfschütteln. Die Bedingungen | |
in den Winternotunterkünften seien besser geworden, doch diese | |
Tagesöffnungen seien an den Menschen vorbei gedacht. „Bei plus zwei Grad | |
geht es morgens gnadenlos raus aus der Unterkunft“, sagt Wicher. „Das ist | |
weder gemütlich noch macht es den Obdachlosen Spaß. Bei minus fünf Grad | |
dürfen sie länger im Warmen bleiben.“ | |
In beiden Fällen sei es sehr kalt draußen, sagt Wicher. „Das ist eine | |
merkwürdige Art, wie man auf diese Menschen zugeht.“ Nötig seien ernst zu | |
nehmende Perspektiven wie Housing First. „Die, die das nicht schaffen, | |
brauchen unsere Menschlichkeit“, sagt Wicher. | |
„Für mich ist die einzige kurzfristige Lösung eine ganztägige Öffnung des | |
Winternotprogramms und längerfristig eine Vermittlung in Unterkünfte | |
beziehungsweise Wohnraum“, sagt auch die Sozialpolitikerin Olga Fritzsche | |
von der Linken. Die Unterscheidung nach Wetterlagen sei „einfach absurd“. | |
Auch das Diakonische Werk schaltete sich vergangene Woche über einen | |
Bericht des Evangelischen Pressedienstes (epd) in die Debatte ein und | |
forderte die ganztägige Öffnung des Winternotprogramms. | |
Diakonie-Sozialexperte Dirk Hauer sprach [7][von rund 3.800 Obdachlosen in | |
der Stadt], deren Leben bei Schnee und Frosttemperaturen „akut gefährdet“ | |
sei. Wer auf der Straße lebt, sei häufig chronisch krank, ergänzte der | |
Mediziner Hans-Heiner Stöver, der sich ehrenamtlich im Diakonie-Zentrum für | |
Wohnungslose engagiert. | |
Im vergangenen Jahr [8][starben] in Hamburg 26 Obdachlose auf der Straße, | |
die meisten dem Bericht zufolge an „Komplikationen grundsätzlich gut | |
behandelbarer Erkrankungen“. Stöver sagt, als Arzt rate er bei grippalen | |
Infekten normalerweise dazu, „sich auszuruhen, warm zu halten, viel zu | |
schlafen und zu trinken“. Das sei für Obdachlose unter den derzeitigen | |
Bedingungen nicht möglich. | |
## Erfrierungsschutz ist ein hohes Rechtsgut | |
Zum Stufenplan befragt, sagt Diakonie-Sprecher Malte Habscheidt, jede | |
Stunde längere Öffnungszeit begrüße man natürlich sehr. „Wir denken | |
allerdings, dass Menschen bei Schnee und anhaltender Kälte in den | |
Unterkünften bleiben sollten.“ | |
Nicht nur politisch, auch juristisch scheint es gegen die Wettertabelle | |
Bedenken zu geben. Der Medizinrechtler Jens Prütting von der Bucerius Law | |
School weist darauf hin, dass hier bei einem Erfrierungstod oder schweren | |
Gesundheitsschäden „sehr hochrangige Rechtsgüter“ in Rede stünden, bei | |
denen die sogenannte „Je desto“-Formel des Bundesverwaltungsgerichts | |
greifen dürfte, die besagt, dass keine übermäßigen Anforderungen an die | |
Ergründung des konkreten Schutzbedürfnisses gestellt werden dürfen. | |
Prütting: „Dementsprechend sollte darüber nachgedacht werden, ob die | |
Entscheidung, erst bei minus fünf Grad durchgehend geöffnete Unterkünfte zu | |
gewähren, hinreichen kann.“ | |
Die Sozialbehörde verweist auf besagte Tagesaufenthaltsstätten. Mit deren | |
Öffnungszeiten sei „die restliche Zeit des Tages abgedeckt“, sodass die | |
Betroffenen sich nicht draußen aufhalten müssten. Zudem sei es so, dass man | |
bei diesem Ampelsystem, sollte sich das Wetter zwischen Stufen befinden, | |
„grundsätzlich zugunsten des höheren Schutzlevels für die Obdachlosen“ | |
entscheide. Und kranke Obdachlose dürften „unabhängig vom Wetter den ganzen | |
Tag“ bleiben. | |
Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil berichtet: „Wenn sie drin bleiben wollen, | |
brauchen sie ein Attest.“ Zu ihm an den Wagen sei in diesem Winter ein Mann | |
mit Lungenentzündung gekommen, nur damit er ein Attest bekommt und drin | |
bleiben kann. „Das kann es doch nicht sein.“ | |
20 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Sozialarbeiter-ueber-Obdachlosigkeit/!5999464 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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