# taz.de -- Unterwegs mit dem Berliner Kältebus: Frieren auf der Straße | |
> Der Kältebus der Berliner Stadtmission versucht Wohnungslose für die | |
> Nacht unterzubringen, die als Notfälle gemeldet sind. Nicht immer gibt es | |
> Dankbarkeit. | |
Bild: Kontaktaufnahme mit einer obdachlosen Person in Wilmersdorf | |
Berlin taz | Minus 9 Grad misst das Thermometer. Dick eingepackt in | |
Kältebus-Jacken stehen Rolf Hennig und Lea Strube an diesem Februarabend | |
auf einem Parkplatz in Berlin-Charlottenburg. Strube kippt noch schnell | |
eine Tasse Kaffee runter, bevor die Ehrenamtlichen der Berliner | |
Stadtmission, ausgestattet mit reichlich Schokolade und Club Mate, in die | |
Nacht starten – denn die ist lang. Bis 3 Uhr morgens sammeln [1][die drei | |
Kältebusse der Stadtmission] obdachlose Menschen ein, die einen warmen | |
Schlafplatz benötigen. | |
Kurz vor Abfahrt erscheinen Maria* und Jörg* am Bus. „Wir wollen hier weg. | |
Uns wird es zu gefährlich“, sagt Maria, nervös um sich blickend. Die | |
„Nazis“ würden sie bedrohen. Die kleine Frau trägt nur einen dünnen | |
Bademantel und Turnschuhe. Jörg, der neben ihr im Rollstuhl sitzt, bricht | |
plötzlich in Schmerzensschreie aus: „Mein Steißbein ist verrutscht!“, ruft | |
er. Strube und Hennig fackeln nicht lang, verstauen den Rollstuhl auf der | |
Rückbank und bringen die beiden in die Unterkunft der Kältehilfe am | |
Goslarer Platz in Charlottenburg. | |
Die Einrichtung, die erst seit Anfang Dezember 2024 geöffnet ist, bietet | |
150 Notübernachtungsplätze. Berlinweit gibt es 1.165. Es reicht vorne und | |
hinten nicht: die Auslastung lag im Dezember bei durchschnittlich 90 | |
Prozent. In den vergangenen Nächten mussten die Fahrer*innen der | |
Kältebusse laut Stadtmission immer wieder obdachlose Menschen abweisen, | |
[2][weil die Unterkünfte belegt waren]. „Je später am Abend es wird, desto | |
häufiger kommt das vor“, bestätigt Hennig. „Die Anzahl der verfügbaren | |
Plätze variiert täglich, weil viele kleinere Unterkünfte nur an wenigen | |
Tagen oder zu bestimmten Uhrzeiten geöffnet sind.“ | |
Ein weiteres Problem: nur zwei der rund 30 Unterkünfte in Berlin sind | |
barrierearm. „Anfang der Saison gab es keinen einzigen freien Liegeplatz | |
für Personen mit Rollstuhl“, erzählt Strube. Auch die Unterkunft am | |
Goslarer Platz, die 10 „barrierearme“ Plätze ausweist, verfügt nicht über | |
eine barrierearme Dusche. Hinzu kommt der Mangel an niedrigschwelligen | |
Unterkünften: Menschen, die alkoholisiert oder in ihrer Mobilität stark | |
eingeschränkt sind, haben kaum eine Chance auf einen Schlafplatz. „Nur drei | |
Unterkünfte nehmen sie überhaupt auf“, so Strube. | |
Als Maria und Jörg versorgt sind, verschafft sich Strube einen Überblick | |
über die Auftragslage. Auf einem Tablet werden ihr alle Fälle potenziell | |
gefährdeter Personen angezeigt, die Passant*innen, Polizei, Krankenhäuser | |
oder die Leitstelle der Berliner Verkehrsbetriebe melden. Die Fälle werden | |
in einem Ampelsystem vorpriorisiert und je nach Dringlichkeit rot, gelb | |
oder grün markiert. | |
Der erste Einsatz des Abends führt das Team zum Bundesplatz in Schöneberg. | |
Unter einem S-Bahn-Viadukt liegt eine Person, eingewickelt in einen | |
Schlafsack. Strube steigt aus dem Bus und kniet sich vor dem Mann nieder: | |
„Hey, wie heißt du?“. Keine Reaktion. „Willst du in die Wärme in eine | |
Unterkunft?“ Der Mann zieht den Schlafsack hoch bis unter die Augen. „Tee? | |
Suppe? Eine Decke“, fragt sie weiter. Ein vorsichtiges Nicken. | |
„Da kann man nichts machen, wenn Leute nicht mitwollen“, sagt Hennig. Viele | |
hätten soziale Ängste, schlechte Erfahrung oder Angst vor Uninformiertheit. | |
Niemand muss einsteigen, wer nicht in eine Unterkunft gebracht werden will, | |
wird mit Tee, Instantsuppe, Decken, Schlafsäcken, Schals und Mützen | |
versorgt. „Manchmal muss man auch kleine Tricks anwenden“, erklärt Hennig. | |
„Ich habe für die Obdachlosen immer Zigaretten dabei. Das ist ein | |
Gesprächsöffner, dann tauen sie häufig auf“, berichtet er aus Erfahrung. | |
Hennig, 76, engagiert sich schon seit 12 Jahren bei der Berliner | |
Kältehilfe. Was sich seit seiner Anfangszeit verändert hat? „Es werden | |
immer mehr obdachlose Menschen.“ Schätzungen der Wohlfahrtsverbände zufolge | |
sind zwischen 8.000 und 12.000 Menschen in der Hauptstadt obdachlos. „Als | |
ich angefangen habe, waren es noch 6.000“, erinnert er sich. Auch die Zahl | |
der Übernachtungen in den Notunterkünften stieg laut Kältehilfe im Dezember | |
um 8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. | |
Zusätzlich verschärft wird die Situation durch [3][die angespannte Lage auf | |
dem Berliner Wohnungsmarkt]. Sozialarbeiter*innen berichten von | |
immer mehr obdachlosen Menschen mit großen gesundheitlichen Problemen oder | |
Behinderungen. Während es in den 1990er Jahren oft noch möglich war, | |
relativ schnell eine Wohnung zu finden, sind viele Betroffene heute über | |
Jahre hinweg ohne festen Wohnsitz – mit massiven gesundheitlichen Folgen. | |
Als der Kältebus gegen 21 Uhr in die Tübinger Straße in | |
Charlottenburg-Wilmersdorf einbiegt, wartet Anna* schon seit 3 Stunden in | |
der Caritas-Wärmestube – denn diese schließt um 18 Uhr. Seit 25 Jahren lebt | |
die Berlinerin auf der Straße. Sie hat einen Dauerschlafplatz in einer | |
Einrichtung in Wannsee, einem Ortsteil im äußersten Westen der Stadt. Als | |
Strube die Nachricht überbringen muss, dass der Bus sie heute Nacht nicht | |
bis nach Wannsee fahren kann, ist die Enttäuschung groß: „Das ist ja eine | |
Katastrophe! Geben Sie mir Ihre Nummer, damit ich die rot durchstreiche und | |
ja nicht nochmal anrufe!“, empört sie sich. | |
Strube versucht zu beruhigen: „Ich will ehrlich sein. Es ist heute Nacht | |
eine Scheiß Kombi: Wir sind wenig Leute, es ist kalt und glatt. | |
Normalerweise bringen wir dich dahin, wo du einen Dauerschlafplatz hast, | |
aber das können wir heute Nacht nicht leisten.“ Zeitgleich versucht sie der | |
älteren Dame einen Schlafplatz zu organisieren. Drei Unterkünfte sind nicht | |
erreichbar, in der vierten sind alle Betten belegt. Schließlich findet | |
Strube ein freies Bett bei „Eva’s Haltestelle“ im Wedding. Dort wird Anna | |
gegen halb zehn fluchend abgegeben. | |
Die Einrichtung ist eine der wenigen reinen Frauenunterkünfte in der | |
Hauptstadt. Obwohl Schätzungen zufolge rund ein Drittel der obdachlosen | |
Menschen in Berlin Frauen sind, sind von den 1.165 Notübernachtungsplätzen | |
nur rund 158 Plätze für Frauen vorgesehen. | |
Zurück im Bus nimmt Strube einen großen Schluck Club Mate. Noch knapp 4 | |
Stunden geht die Schicht für die 29-Jährige, die sich in dieser Saison zum | |
ersten Mal bei der Berliner Kältehilfe engagiert. Auf Strubes Tablet laufen | |
stetig neue Fälle ein: „Neukölln, Erkstraße: stark betrunkener Mann sitzt | |
eingenässt und ungeschützt auf dem Boden“, leuchtet es rot auf. „Die | |
Auftragslage ist weiter stabil“, scherzt sie. | |
Nach dem Umweg in den Wedding übernimmt das Team Aufträge in der Nähe und | |
landet in Moabit. Eine Bewohnerin eines Wohnhauses nahe des U-Bahnhofs | |
Birkenstraße hat gemeldet, dass seit dem Vorabend zwei Personen im Hausflur | |
des obersten Stockwerks schlafen. Strube bahnt sich entschlossen den Weg | |
nach oben, wo sie zwei Personen vorfindet, die auf Pappen auf dem Boden | |
liegen. „Hallo, wir sind von der Kältehilfe“, sagt sie. „Es tut mir | |
wahnsinnig leid, aber Sie müssen hier leider weg. Sonst rufen die | |
Bewohner*innen die Polizei“. | |
Die Frau ist frustriert: „Ein krönender Abschluss eines wunderbaren | |
Tages!“, sagt sie sarkastisch und packt wutentbrannt ihre Sachen zusammen: | |
Klopapier, eine Jacke, einen provisorischen Mülleimer und Aschenbecher. | |
Sogar ein Duftspray hat sie gekauft, um die Bewohner*innen nicht zu | |
belästigen. Strube bietet ihr einen Schlafplatz in einer Notunterkunft an. | |
Sie winkt ab: „Brauche ich nicht. Ich kenn den ganzen Scheiß, das habe ich | |
alles hinter mir“, sagt sie und verschwindet fluchend in die kalte Nacht. | |
Ihr Begleiter möchte zur Drogen- und Suchthilfe „Fixpunkt“ am Leopoldplatz | |
im Wedding gebracht werden. Doch auch diese Einrichtung ist bereits seit 18 | |
Uhr geschlossen. Strube und Hennig versuchen ihn zu überzeugen, eine | |
Unterkunft für die Nacht anzunehmen – ohne Erfolg. „Bringt mich einfach zum | |
Leo“, sagt er erschöpft. Dort wärmen sich im U-Bahnhof obdachlose Menschen | |
auf, konsumieren Crack und anderes. | |
Ein Mann, der angibt, Unterstützung bei Drogenproblemen zu brauchen, | |
bekommt von Strube einen Flyer mit Hilfsnummern. Andere werden mit | |
Schlafsäcken, Isomatten und Mützen versorgt – auch dies keine | |
Selbstverständlichkeit. Denn obwohl der Kältebus längst ein fester | |
Bestandteil der von Anfang November bis Ende März laufenden Kältehilfe ist, | |
finanziert sich das Projekt ausschließlich durch Spenden. | |
Strube und Hennig tun an diesem Abend, was sie können. Viel Dankbarkeit | |
erhalten sie dafür nicht. Hennig lässt sich davon nicht entmutigen: „Ich | |
arbeite immer gern mit Menschen“, sagt er mit einem Lachen. Zudem sei es | |
nicht immer so: „Die extreme Kälte frustriert viele.“ | |
*Name von der Redaktion geändert | |
21 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Lilly Schröder | |
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