# taz.de -- Wie geht es weiter am Leopoldplatz?: Raus aus dem Kreislauf | |
> Nach dem Hilferuf der Anwohner ist einiges passiert am Leopoldplatz. Die | |
> Drogenszene wurde teils verdrängt, teils eingehegt durch soziale | |
> Maßnahmen. | |
Bild: Sven Dittrich an seinem Arbeitsplatz, dem „Infopoint“ auf dem Leopold… | |
Berlin taz | Mit leicht zitternden Händen zündet sich Sven Dittrich eine | |
Zigarette an. „Ich hatte kurz Angst, dass er an seinem Erbrochenen | |
erstickt“, sagt er und vergisst dabei das Rauchen. Es ist Vormittag. Zehn | |
Meter entfernt steht der Mann, der eben fast einen Krankenwagen gebraucht | |
hätte, weil er bewusstlos auf dem Boden lag, und trinkt wieder Bier. Auch | |
Dittrich beruhigt sich schnell. Solche Szenen erlebt er oft hier, am | |
Leopoldplatz. | |
Der 45-Jährige mit dem freundlichen Gesicht verbringt fast jeden Tag an | |
diesem Ort der Gegensätze. Boulevardmedien nennen den Platz „Berlins | |
schlimmste Crack-Hölle“, doch auf ihm findet auch Berlins ältester | |
Bio-Wochenmarkt statt. Heute dudelt hier Jahrmarktmusik. | |
Dittrich kennt die vielen Facetten des „Leo“ wie kaum ein anderer. Seit 17 | |
Jahren blickt er von seiner Wohnung direkt auf den Platz. Fünf Jahre lang | |
führte er hier einen Trödelladen. Jetzt arbeitet er mitten auf dem Platz, | |
in einem kleinen grünen Bauwagen. Von dort verwaltet er den Schlüssel zur | |
öffentlichen Toilette. Er notiert die vielen „Nutzungskonflikte“ und | |
moderiert sie. Und er beantwortet Fragen aller Art, von „Wann fährt der | |
nächste Bus?“ bis: „Wie finde ich eine Wohnung?“ Manchmal patrouilliert … | |
entlang der 53 Mülleimer des Platzes. Er nennt es „Fieber messen“ an diesem | |
Brennpunkt der Republik. Bezahlt wird er dafür von jenen, die er vor zwei | |
Jahren scharf kritisierte. | |
Damals geriet der unscheinbare Trödelhändler plötzlich ins Rampenlicht, | |
auch überregional. Mit 300 Anwohner:innen und | |
Gewerbetreiber:innen forderte er im Frühjahr 2023 auf einer Demo: | |
„Nicht wieder so ein Sommer wie letztes Jahr!“ Er gründete eine | |
Bürgerinitiative, weitere Aktionen folgten, lokale Medien berichteten. Er | |
erzählt: „Die Bezirksbürgermeisterin dankt uns heute, dass wir den Druck | |
aufgebaut haben, den sie nach oben weitergeben konnte.“ | |
## In den Hausflur gekackt | |
Lange hätten sich die Menschen am „Leo“ in Toleranz geübt, sagt Dittrich. | |
„Doch bei vielen hört das Verständnis für Drogenabhängige auf, wenn bei | |
ihnen in den Hausflur gekackt oder zum vierten Mal eingebrochen wurde.“ | |
So wie bei Oya Ayik: Sechsmal fand sie letztes Jahr ihr Geschäft | |
aufgebrochen vor. „Mit fünf Jahren bin ich nach Deutschland gekommen; seit | |
ich fünfzehn bin, arbeite ich. Es war nie einfach, aber die Einbrüche | |
bedrohen meine Existenz.“ Die Witwe mit türkischen Wurzeln ist stolz | |
darauf, für sich und ihre kranke Mutter sorgen zu können. Dafür steht sie | |
an sieben Tagen in der Woche von früh bis spät in ihrem kleinen Café, wo es | |
nach Gözleme und Manti duftet. | |
„Der Kontakt zu meinen Kunden macht mich glücklich“, sagt Ayik und zeigt | |
stolz Geschenke, die Stammkunden ihr mitgebracht haben. Aber die Kasse im | |
vorderen Bereich nutzt sie nur noch für Kleingeld – zu oft hat jemand | |
hineingegriffen, wenn sie kurz nach hinten in die Küche musste. „Fünf-, | |
sechsmal am Tag gebe ich Leuten Kaffee gratis. Ich mag helfen. Aber | |
mittlerweile versuche ich auch, Grenzen zu zeigen, um nicht schwach zu | |
erscheinen.“ | |
Nicht nur bei Ayik trifft die Bürgerinitiative von Sven Dittrich daher | |
einen Nerv. Im Jahr ihrer Gründung 2023 gibt es in Deutschland so viele | |
Drogentote wie noch nie: 2.227 – das sind 12 Prozent mehr als im Vorjahr. | |
[1][Berlin führt die traurige Statistik] – gemessen an der Einwohnerzahl – | |
an mit 271 Toten. Zugleich rauscht eine Crack-Welle durch das Land, das | |
Bundeskriminalamt findet Rekordmengen Kokain. | |
## Aggressives Betteln und Beschaffungskriminalität | |
Dittrich fasst zusammen: „Wir haben ein Problem mit Koks, das den Weltmarkt | |
überschwemmt. Am Ende landet es als Crack auf der Straße, wo es zu | |
Verelendung führt. Der Suchtdruck ist hoch. Das führt zu dem aggressiven | |
Betteln und der Beschaffungskriminalität. Es sind globale Zusammenhänge, | |
womit wir es hier im Endeffekt auf dem Platz zu tun haben.“ | |
Die Politik reagiert alarmiert. Auf Drängen der Bezirksbürgermeisterin | |
Stefanie Remlinger (Grüne) landet das Thema auf dem „Sicherheitsgipfel“, | |
den Berlins Bürgermeister Kai Wegner (CDU) im September 2023 ursprünglich | |
nach [2][einer mutmaßlichen Vergewaltigung im Görlitzer Park einberufen | |
hatte]. Remlinger fordert mehr Polizei – der Leopoldplatz liefert die | |
Bilder. Täglich treffen sich hier mehr als einhundert Drogenabhängige | |
direkt neben einem gut besuchten Spielplatz. Immer wieder finden Kinder | |
Spritzen oder Drogen. Kai Wegner verschafft sich persönlich ein Bild, | |
spricht vor laufenden Kameras mit den Crack-Rauchenden. | |
Einer von denen war Niko. Täglich kommt der 37-Jährige zum Leopoldplatz, im | |
Rollstuhl, mit offenen Wunden an den Füßen. Er könne gut Dinge erklären, | |
„sodass auch der letzte Journalist sie versteht“, sagt er mit zahnlosem | |
Grinsen. Kai Wegner habe ihn gefragt, warum er Crack raucht. „Dann hab ich | |
ihm auch ein paar herausfordernde Fragen gestellt, von wegen: Will denn | |
nicht jeder Mensch im Endeffekt glücklich sein?“ Gefährlich sei der Leo vor | |
allem für die Drogenszene selbst, meint Niko. Trotzdem sagt er: „Einen | |
Spielplatz neben einen Drogenumschlagplatz zu basteln, war ja wohl die | |
dümmste Idee überhaupt.“ | |
Auf dem Spielplatz sind die Eltern uneinig. Manche fordern, die Drogenszene | |
müsse hier weg, andere lehnen „Verdrängung“ ab. Alle wissen, dass die nach | |
dem Sicherheitsgipfel verstärkten Polizeieinsätze dazu geführt haben, dass | |
der Platz inzwischen von deutlich weniger Suchtkranken besucht wird – und | |
sich Teile der Szene nun wenige U-Bahn-Stationen weiter sammeln. Dort sind | |
Aufzüge und die öffentliche Toilette kaum mehr nutzbar, Anwohnende | |
beschweren sich – es droht ein ewiger Kreislauf zu werden. Deshalb sind | |
alle auch für soziale Angebote wie Unterkünfte und Konsumräume – nur nicht | |
hier. | |
## Das Team verteilt Käsebrote, Tee oder Kaffee | |
Doch genau hier, in Sichtweite des Spielplatzes, steht das | |
„Drogenkonsummobil“ des gemeinnützigen [3][Vereins Fixpunkt]. Daneben, in | |
einem kleinen weißen Container, arbeitet David Konschack. Der | |
Sozialarbeiter mit den vielen Tattoos gibt gratis Spritzen und anderes | |
„Besteck“ für den Drogenkonsum aus, um Infektionen vorzubeugen. Auch | |
Käsebrote, Tee oder Kaffee verteilt sein Team. „Das ist im Grunde nur | |
Überlebenshilfe. Das Mindeste. Auch um mit einigen suchtkranken Menschen | |
überhaupt in Kontakt zu kommen“, sagt der 31-Jährige. | |
Fixpunkt bietet hier auch Beratung an, so niedrigschwellig wie möglich. | |
Darum kann der Druckraum auch nicht einfach woanders stehen. Konschack: | |
„Wir gehen dahin, wo die Szene ist. Und die sammelt sich nicht zufällig an | |
bestimmten Orten. Da geht es zum Beispiel darum, wo viele Leute | |
vorbeikommen, die man nach Geld fragen kann, wo man selber gut hinkommt und | |
wo die Dealer sind.“ Eine Steuerung der Szene könne deswegen am ehesten | |
über mehr Drogenkonsumräume gelingen. „Warum nicht in jedem Bezirk | |
mindestens einen?“, fragt Konschack. Entscheidend sei auch, den Besitz | |
geringer Mengen zum Eigenbedarf zu entkriminalisieren. | |
Was den Leopoldplatz betrifft, ist der Bezirk tatsächlich auf der Suche | |
nach einer Immobilie für ein „Haus der Hilfe“. Dort sollen ein | |
Drogenkonsumraum sowie spezialisierte Unterkünfte entstehen – wenn das Geld | |
dafür vom Senat kommt. | |
Die Idee fänden sowohl die CDU als auch die Grünen interessant, sagt | |
Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger (Grüne). Seit dem | |
Sicherheitsgipfel trifft sie sich einmal im Monat mit VertreterInnen der | |
Landespolitik. Und sie bekam je 1,2 Millionen Euro für 2024 und 2025 für | |
einen Mix aus Maßnahmen. Der Bauwagen von Sven Dittrich als „Infopoint“ des | |
Bezirks ist eine davon, aber auch aufsuchende Sozialarbeit, bis hin zu | |
Kunstprojekten am Platz. | |
## Mehr Polizeistreifen und mehr Licht am Abend | |
Um ein „Haus der Hilfe“ zu etablieren, müssten die Gelder verstetigt | |
werden. Doch bei den aktuellen Verhandlungen zum neuen Landeshaushalt für | |
2026/27 geht es wieder vor allem ums Sparen. Remlinger warnt: „Wenn man | |
jetzt stoppen würde, wäre es schlimmer als vorher, denn dann hätte die | |
Politik sich blamiert.“ Vonseiten der Senatsverwaltung für Umwelt, bei der | |
nach dem Sicherheitsgipfel ein Lenkungsgremium für den Platz eingerichtet | |
wurde, heißt es, man strebe eine Verlängerung an, derzeit würden die | |
Maßnahmen aber noch evaluiert. | |
Vorerst wurde also nur ein Sichtschutz zwischen Spielplatz und Drogenszene | |
angebracht. Es wird noch mehr aufgeräumt, es gibt mehr Polizeistreifen und | |
mehr Licht am Abend. Und den Bauwagen von Dittrich und seinem Team, der an | |
sechs Tagen in der Woche geöffnet ist. Sven Dittrich glaubt an die Kraft | |
vieler kleiner Schritte. Er nimmt an jedem „runden Tisch“ mit Politikern | |
teil, tauscht sich in der „Praktikerrunde“ mit Polizisten und | |
Straßensozialarbeitern aus. | |
„Multikomplex ist das hier alles“, sagt Dittrich immer wieder. Wie um das | |
zu untermalen, hält kurz vor Feierabend ein junger Mann mit Rennrad vor dem | |
grünen Bauwagen. Seit 15 Jahren wohne er am Leo, er verstehe die Probleme | |
und schätze eigentlich das Engagement. „Allerdings muss ich leider sagen, | |
die Drogenszene fühlt sich für mich gerade wie ein Schutzschild an – gegen | |
meinen Vermieter.“ Der wolle die Miete erhöhen, weil seine Straße | |
inzwischen angeblich eine „gehobene Wohnlage“ geworden sei. | |
11 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Luca Vogel | |
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