# taz.de -- Frohes neues Jahr!: Neujahrsgrüße nach Deutschland | |
> Wie blicken die Menschen in Europa auf uns? Was wünschen sie sich – was | |
> wünschen sie uns? Die taz-Korrespondent*innen haben sich umgehört. | |
Bild: Relaxed im Wahllokal im irischen Inishbofin | |
Vielerorts in Europa sind Korrespondent*innen für die taz unterwegs. | |
Einige von ihnen schicken uns Neujahrsgrüße aus ihren Wahlheimaten zurück | |
nach Deutschland. | |
## Aus einer irischen Wahlkabine | |
Liebe deutsche Wählerinnen und Wähler! Ihr dürft im Februar wählen. Dann | |
tut das auch! Es dauert nicht lange, ein Kreuzchen zu machen. Bei uns in | |
Irland ist das komplizierter, denn wir nummerieren die Kandidatinnen und | |
Kandidaten in der Reihenfolge unserer Präferenz. Das dauert. Vielleicht | |
sind deshalb [1][bei der Wahl Ende November] mehr als 40 Prozent zu Hause | |
geblieben. | |
Ich habe eine halbe Stunde in der Wahlkabine verbracht, um die Namen so zu | |
sortieren, dass die Rechtsextremen keinen Fuß auf den Boden bekommen. Das | |
ist geglückt. Euch in Deutschland wird das nicht gelingen. Es gibt zu | |
viele, die den Faschisten glauben, obwohl sie ihnen die Höcke voll lügen. | |
Mein Freund und Kollege Derek Scally von der Irish Times meint, dass die | |
Deutschen langweilige Wahlkampagnen mögen. Sie hatten genug Aufregung für | |
zwei Jahrhunderte, sie wollen Stabilität. „Was am 6. November geschah, war | |
die Ausnahme. Live im Fernsehen verwandelte sich der Kanzler von einem | |
sanftmütigen Hamburger Anwalt in einen Scholzilla, [2][entließ seinen | |
Finanzminister] und schickte ihm mehrere rhetorische Raketen hinterher“, | |
sagt Derek. „Für deutsche Verhältnisse war das eine heiße Sache.“ | |
John, ein verrenteter Gewerkschafter, freut sich über das Lindner-Aus: | |
„Diese Gurken werden bei den Wahlen unter fünf Prozent bleiben, und dann | |
ist es mit diesem Narzissten endgültig vorbei. Dann kann er sich in Ruhe | |
der Vermehrung seines Vermögens widmen.“ SPD und Grüne hätten das | |
eigentlich wissen müssen, findet John: „Wer mit Hunden ins Bett geht, steht | |
mit Flöhen auf.“ | |
Wolfgang, ein Deutscher, der seit 20 Jahren in Irland lebt, weist auf einen | |
Artikel in der Zeitschrift Rolling Stone hin. Dort vergleicht der Autor die | |
Zitate der Regierungsstreithähne mit dem Zwist der Gallagher-Brüder von der | |
Band Oasis. Scholz sagte: „Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den | |
Blick auf das verstellt, was diese Regierung zusammen vorangebracht hat.“ | |
Noel Gallagher sagte über seinen Bruder Liam: „Er ist der wütendste Mann, | |
den du je kennenlernen wirst. Er ist wie ein Mann mit einer Gabel in einer | |
Welt voller Suppe.“ | |
Scholz sagte, er habe mit Bundespräsident Steinmeier telefoniert und ihn um | |
die Entlassung Lindners gebeten. Noel Gallagher sagte inhaltlich dasselbe | |
über Liam: „Wir sagten ihm einfach, er solle sich verpissen. Und er ging | |
schmollend weg!“ | |
Die irischen Wettbüros tippen auf eine Große Koalition. Was anderes wird | |
kaum übrig bleiben. Es könnte trotzdem eine interessante Wahl werden. In | |
Irland sind Wahlen eher langweilig, am Ende kommt immer das Gleiche heraus. | |
Wir wählen seit der Staatsgründung vor über hundert Jahren immer dieselben | |
beiden konservativen Parteien, ob Wirtschaftskrise oder Aufschwung, ob | |
Krisen oder Kriege, ob wankende Demokratien oder ungewisses Europa-Projekt. | |
Aber wenigstens haben wir die Rechtsextremen für weitere fünf Jahre aus dem | |
Parlament ausgesperrt. Das wird Euch leider nicht gelingen. | |
Trotz alledem: Ein gutes neues Jahr! | |
Wünscht euch euer Ralf Sotscheck | |
## Aus der frisch wieder eröffneten Notre-Dame | |
Meine Lieben in Deutschland! | |
Na, das hattet ihr nicht erwartet. Geradezu [3][belgische Verhältnisse in | |
Frankreich], in diesem Land, das auch ohne Regierung nicht besser oder | |
schlechter funktioniert als mit. Das ist halt auch Politik und in der | |
französischen Verfassung sogar vorgesehen. | |
Lange schaute man aus Frankreich mit einem gewissen Neid auf den Erfolg der | |
deutschen Exportwirtschaft und die finanzielle Stabilität im Nachbarland. | |
Doch heute würden sich viele Franzosen und Französinnen die Mahnungen zu | |
mehr Haushaltsdisziplin verbitten: „Kehrt doch lieber vor der eigenen | |
Türe!“ | |
Drücken wir uns also lieber, über den mehr verbindenden als trennenden | |
Fluss der Loreley, gegenseitig die Daumen. An populistischen Miesmachern | |
und Predigern des Nieder- und Untergangs mangelt es ohnehin nicht. Seien | |
wir – gegen den Strom, trotz allem oder erst recht – Optimisten! | |
Denn Krisen haben meist den positiven Effekt, dass sie Bewegung in | |
erstarrte Institutionen bringen. Die späten Nachfahren der Großen | |
Revolution, der Sansculotten und Pariser Kommunarden sind auch in der | |
jüngeren Geschichte immer wieder für Überraschungen gut, um Neuerungen | |
durchzusetzen oder die allzu selbstzufriedenen Machthaber das Fürchten zu | |
lehren. | |
Wer hätte gedacht, dass die Kathedrale Notre-Dame schon fünf Jahre nach dem | |
verheerenden Großbrand im April 2019 [4][in neuem Glanz eingeweiht werden | |
könnte]. Präsident Emmanuel Macron prahlt damit – es war indes bloß seine | |
Vorgabe, nicht aber sein Werk und auch nicht sein Geld. Gewürdigt werden | |
sollten vielmehr die Steinmetze, Restaurateur*innen, Bauarbeiter*innen | |
und mit ihren Spenden auch die Zigtausenden von Mäzen*innen. Sie haben es | |
möglich gemacht, dass diese zunächst so unwahrscheinlich anmutende Wette | |
gehalten wurde. Dass Macron diesen Erfolg nun auf sich lenken und als | |
Exempel einer „Union nationale“ verkaufen will, verwundert niemanden. | |
Andere mutmachende Entwicklungen spielen sich derzeit vor Gerichten ab. Die | |
Opfer sexualisierter Gewalt gehen zur Gegenoffensive über. Die Scham | |
wechselt die Seite, wie [5][beim Prozess in Avignon], der eine Zeitenwende | |
im Kampf gegen sexualisierte Gewalt einläuten könnte. Vor Gericht standen | |
wegen Vergewaltigung neben Dominique Pelicot, der seine Frau Gisèle betäubt | |
und Dutzenden von Männern ausgeliefert hatte, auch 50 Mitangeklagte, und | |
mit ihnen ihre antiquierten sexistischen Vorstellungen männlicher Macht. | |
Das Urteil dürfte über Frankreich hinaus einen exemplarischen Charakter | |
bekommen. | |
Lange Zeit hat ganz Europa große Hoffnungen in die deutsch-französische | |
Zusammenarbeit gelegt. Wünschen wir uns, in einem übermütigen Anflug von | |
Zukunftsvertrauen, dass diese Partnerschaft 2025 wieder in Gang kommen | |
möge! Mit einer gewissen Bescheidenheit in eigener Sache und dem | |
Eingeständnis, dass keine der beiden Nationen der anderen wirklich | |
etwas vormachen oder vorwerfen kann. | |
Aus Paris, euer Rudolf Balmer | |
## Vom Tresen einer Espressobar in Italien | |
Liebe Menschen in Deutschland, ihr glaubt gar nicht, wie weit entfernt euer | |
Land von Italien ist. Okay, am Ende liegen bloß knappe 70 Kilometer | |
Österreich zwischen Italiens Nord- und eurer Südgrenze – doch so wirklich | |
kriegt kaum jemand in Rom, Turin, Mailand oder Neapel mit, was in | |
Deutschland so passiert. | |
So gut wie alle am Tresen der Espressobar zucken mit den Achseln auf die | |
Frage, was jetzt aus Deutschland wird und wie es in Berlin weitergehen | |
soll. Der Kanzler hat den Finanzminister rausgeschmissen? [6][Welcher | |
Kanzler?] Welcher Finanzminister? Ach, Olaf Scholz heißt der | |
Regierungschef? Und Christian who? | |
Wirklich überraschend ist die Unkenntnis nicht. Als Scholz Christian | |
Lindner am 6. November vor die Tür setzte, hatten Italiens Medien andere | |
Sorgen, war doch in den USA gerade [7][Donald Trump zum Präsidenten gewählt | |
worden]. Und auch sonst sind Krisen anderswo viel spektakulärer als die in | |
Berlin. Abend für Abend berichten die TV-Nachrichten aus Paris, reden von | |
Macron, Mélenchon, Barnier, Le Pen – nicht von Scholz, Merz, Habeck oder | |
Weidel. | |
Auch vorher regte Deutschlands Regierungschef die Phantasie der | |
Italiener*innen nicht an – er flog hier genauso unter dem Radar wie zu | |
Hause. In einer Umfrage von 2023 nach einflussreichen Leadern der Welt | |
kommt er – anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens | |
Regierungschef Pedro Sánchez – gleich gar nicht vor. | |
Wie anders war das noch vor gar nicht langer Zeit. Im Jahr 2021 galt Angela | |
Merkel gleich 64 Prozent der Italiener*innen als vertrauenswürdige | |
Weltenlenkerin, weit vor allen anderen, vor Joe Biden, Ursula von der Leyen | |
oder Macron. „Anatra zoppa“, lahme Ente nennt jetzt dagegen die | |
Nachrichtenagentur Ansa den Kanzler. Auch das ist Niedergang, genauso wie | |
der Niedergang ganz Deutschlands, den [8][Italiens Ministerpräsidentin | |
Giorgia Meloni] jedes Mal gerne andeutet, wenn sie über die Wirtschaft in | |
Europa spricht. | |
„Stärker als Frankreich, stärker als Deutschland“ werde Italien nach den | |
Prognosen der OECD auch im Jahr 2025 wachsen, verkündete sie vor einigen | |
Tagen wieder. Für Frankreich ist das zwar geflunkert – das Land wächst | |
gegenwärtig stärker als Italien – für Deutschland aber dürfte Melonis | |
Ansage stimmen. Denn so bescheiden die für 2024 erwarteten 0,5 Prozent an | |
Zuwachs Italiens beim BIP sind, so überholen sie doch die deutschen 0,0 | |
Prozent allemal. „Nicht mehr Lokomotive, sondern letzter Waggon“ in Europa, | |
lästert die Politik-Website Affaritaliani.it über die „rabenschwarze Krise�… | |
Deutschlands. Wenigstens von der Krise der deutschen Automobilindustrie | |
haben auch die Kund*innen am Tresen der Espressobar gehört, dank der | |
TV-Berichte über [9][die Warnstreiks bei VW.] | |
Dann aber reden sie in der Espressobar doch von wenigstens einem Feld, auf | |
dem „la Germania“ Wachstumszahlen vorzuweisen hat. Die „nazisti“ von der | |
AfD seien ja kräftig im Kommen, wirft einer in die Runde und setzt nach, | |
mit der „stabilità“, der altgewohnten und gerne auch heimlich bewunderten | |
Stabilität in Deutschland, sei es ja auch nicht mehr weit her. | |
Aus Rom, euer Michael Braun | |
## Vom schwedischen Gartenzaun | |
Liebe Leute in Deutschland! | |
Wie geht’s euch da unten, so ohne Wind? Oder habt ihr das gar nicht | |
mitbekommen? Hier jedenfalls, 1.500 Kilometer weiter nördlich, war es | |
gerade eine Schlagzeile: Rekordhohe Strompreise in Südschweden – wegen | |
Windstille in Deutschland. Flaute in der deutschen Windkraft heißt nämlich | |
Stromimport aus Schweden, und dann wird die Elektrizität auch hier | |
teurer. | |
Ich werde schon unzufrieden angeguckt, wenn das Gespräch darauf kommt. Als | |
Deutsche kann man die Menschen in Schweden energiepolitisch aber noch mehr | |
verwirren, wenn man erzählt, dass man in Berlin mit Gas geheizt hat – das | |
klingt für sie kurios. Und wie billig dieses Gas war, als es noch aus | |
Russland kam! | |
Schweden kommt kaum hinterher, die Krisennachrichten aus Deutschland zu | |
analysieren, und die nostalgischen Töne sind dabei nicht zu überhören. Da | |
unten irgendwo liegt ein Land, stabil und sicher, der Anker Europas und | |
zugleich die Lokomotive, die die kontinentale Wirtschaft zieht: So stellte | |
sich Deutschland für die Schweden sehr lange dar. Jetzt blicken sie | |
stattdessen nervös auf die deutsche Wirtschaft. [10][Schlechte Nachrichten | |
aus Wolfsburg] werden fast persönlich genommen. VW ist schließlich der | |
größte Investor beim einstigen [11][schwedischen Batterie-Hoffnungsträger | |
Northvolt.] | |
Interessanterweise hält sich die alte Bewunderung für deutsche Autos | |
hingegen hartnäckig und blitzt weiterhin gelegentlich als irrationaler | |
Pluspunkt für mich auf. Mal gucken, wie lange noch. Schwedische | |
Wirtschaftsanalytiker lassen sich jedenfalls nicht mehr blenden: Das | |
Problem der verschlafenen E-Auto-Entwicklung haben sie eiskalt erkannt. Sie | |
diagnostizieren zudem, dass Deutschland sich zu lange auf den Exportmarkt | |
China verlassen habe. Häme ist dabei weniger zu hören, dafür ist Schweden | |
selbst in der Exportwirtschaft zu abhängig von Deutschland. | |
Der jüngste deutsche Kracher flog hier anfangs unter dem Radar, weil alle | |
nur auf die US-Präsidentschaftswahl starrten. Aber dann war das Staunen | |
groß. Jetzt auch noch ein Regierungskollaps? Weitere Unsicherheitssignale, | |
auf die man gerne verzichtet hätte. Doch aus Schreck wurde Hoffnung: | |
Vielleicht kommt ja eine große Koalition, überlegt eine Expertenstimme im | |
Radio, vielleicht könnte sie ja mehr Stabilität und mehr Beschlusskraft | |
bringen … | |
Ihr seht, Schweden zittert mit Deutschland, zumindest der Teil, dem die | |
Abhängigkeiten bewusst sind. Das ist nicht die Mehrheit – im Alltag haben | |
die meisten anderes zu tun. Mein Nachbar zeigte sich immerhin schon zweimal | |
interessiert: „Warum um Himmels Willen telefoniert Scholz mit Putin?“ Das | |
fand er nicht gut. Und dann natürlich: „Kleine Regierungskrise bei euch, | |
was?“ Das Gespräch war aber eher grobmaschig angelegt. Nach ein paar Sätzen | |
erwähnte er schon Merkel und Kohl, und ich bestätigte, dass er sich die | |
Namen richtig gemerkt hat. | |
Das war’s, und wir konnten wieder über den schwedischen Winter reden: Der | |
bringt zu wenig Schnee und zu viel Eis bisher. Passt irgendwie ins | |
Gesamtbild. Aber keine Sorge, beruhigte mich der Nachbar, der Schnee wird | |
kommen. Und in Deutschland hoffentlich der Wind! | |
Aus Härnösand, eure Anne Diekhoff | |
## Aus der Schlange vor einem Kiosk in der Ukraine | |
Was erwarten sich die Menschen in Kyjiw von der Wahl in Deutschland? „Die | |
Ukrainer denken erst mal an die Ukrainer. Und zwar an diejenigen, die ihnen | |
nahe stehen und die sie lieben“, sagt ein Mann, der neben mir in einer | |
Schlange am Kiosk steht und auf seinen Kaffee wartet. | |
Wann die wohl wären, die Wahlen, fragt er mich und fügt dann etwas | |
ungehalten hinzu: „Wir haben jetzt Anfang Dezember. Und Sie wollen mit mir | |
über ein Ereignis sprechen, das am Ende des Winters stattfindet. Wissen | |
Sie, was davor noch alles kommt? Davor muss ich zweimal meine Miete und | |
meine Strom- und Heizungskosten bezahlen und meiner Frau Haushaltsgeld | |
geben. Und das alles bei 600 Euro Monatslohn. Bei 3 Euro für ein Kilo | |
Tomaten kann man mit 600 Euro keine großen Sprünge machen.“ | |
Er jedenfalls sei froh, wenn er bis zum 23. Februar irgendwie über die | |
Runden komme und nicht in den Krieg müsse. Der einzige deutsche Politiker, | |
dessen Namen er kennt, ist Scholz. Aber so groß werde der Unterschied | |
zwischen Scholz und seinem Widersacher ja wohl nicht sein, meint er. Auf | |
das aktuelle Chaos in Deutschland angesprochen, antwortet er: „Wie gern | |
hätte ich eure Probleme. Ihr könnt wenigstens wählen. Das ist bei uns nicht | |
möglich.“ Wenn sich überhaupt etwas [12][an der aktuellen Situation in der | |
Ukraine] ändern würde, meint er, würde es an Donald Trump liegen. Er sehe | |
gespannt auf den 20. Januar, den Tag seiner Amtseinführung. Irgendwie sei | |
dieser Trump doch sympathisch. | |
Am nächsten mobilen Kaffeebüdchen redet sich ein anderer Mann in Rage: | |
„Scholz ist doch der Regierungschef, der uns [13][den Taurus nicht geben | |
will] und der mit Putin telefoniert hat.“ Der Mann trägt einen schwarzen | |
Mantel, denn es ist kalt und ein scharfer Wind pfeift durch die Straßen. | |
Unter dem Mantel lugt ein Rock hervor, der Mann muss ein orthodoxer | |
Geistlicher sein. „Wenn die Opposition in Deutschland drankommt, kriegen | |
wir den Taurus“, sagt er. Hofft er. | |
Er ist nicht der einzige Ukrainer, der sich den Marschflugkörper wünscht. | |
Zwangsrekrutierungen lehnen die Ukrainer mehrheitlich ab. Die Lieferung der | |
Taurusraketen würden sie begrüßen. Wer will schon gerne in den | |
Schützengraben. Der orthodoxe Geistliche zumindest hofft, dass Scholz nicht | |
wiedergewählt wird. | |
Anna, eine Arzthelferin, hat Angst vor weiteren Raketen: „Wir in Kyjiw | |
müssen die russische Antwort ertragen, wenn die wieder mit Raketen Russland | |
beschießen.“ Sie kommt aus der Gegend bei Sumy und pendelt zwischen dort | |
und der Hauptstadt. Inzwischen habe sie verstanden, dass oft das Gegenteil | |
von dem eintrete, was versprochen werde. „Der ukrainische [14][Angriff auf | |
das russische Gebiet] von Kursk sollte unser Gebiet sicherer machen. | |
Tatsächlich werden wir jetzt in Sumy viel stärker aus der Luft angegriffen | |
als früher.“ An die Luftangriffe habe sie sich fast schon gewöhnt, sagt | |
Anna. An die Totenwagen jedoch nicht. Jeden Tag, sagt sie, fahren sie ein | |
in ihre Heimatstadt Konotop. | |
Nicht vergessen werde ich wohl die Verkäuferin, die mich vor einigen Tagen | |
in Lwiw in einer Bäckerei bediente. Jeden Tag um 9 Uhr morgens wird in Lwiw | |
über Lautsprecher zu einer Schweigeminute aufgerufen. Man hört dann über | |
die Lautsprecher ein Klopfen. Ich wollte gerade mein Brot bezahlen, da | |
begann sie. Die Frau hielt inne und fing an zu weinen. Ich hatte sie | |
eigentlich zu den Wahlen in Deutschland befragen wollen. Doch schließlich | |
zahlte ich und ging. Ich traute mich einfach nicht. | |
Aus Kyjiw, euer Bernhard Clasen | |
## Aus einer Metrostation in Athen | |
Liebe Miteuropäer in Deutschland, | |
das furiose Ampel-Aus, eine veritable Wirtschaftskrise, das enorm | |
beängstigende Erstarken der AfD: Klar, was in Deutschland gerade passiert, | |
kommt nahezu in Echtzeit an den Füßen der Akropolis an. | |
Die Griechen können ein Lied davon singen, was Krise bedeutet. In den | |
2010er Jahren galt Hellas als das „unartige Kind“, gar „Europas schwarzes | |
Schaf“. Ein deutsches Magazin stellte die Griechen als die „Betrüger in der | |
Eurozone“ an den Pranger. Sie hätten sich in den Euro hineingemogelt, auf | |
Pump weit über ihre Verhältnisse gelebt, so der Vorwurf. Es folgten | |
drastische Kürzungen bei Löhnen und Renten, zahlreiche wirtschaftliche und | |
gesellschaftliche Grausamkeiten: Griechenland hatte einen rigorosen | |
Sparkurs durchzuführen. | |
Die hiesige Wirtschaftsleistung brach um ein sagenhaftes Viertel ein. Von | |
dieser großen Depression hat sich Athen bis heute nicht erholt. Die | |
Griechen machten die Bundesregierungen unter Kanzlerin Angela Merkel für | |
das „deutsche Spardiktat“ in Athen verantwortlich. Der [15][damalige | |
Finanzminister Wolfgang Schäuble] avancierte in den Augen der Griechen zur | |
Hassfigur. Und nun? Steckt Deutschland selbst in der Krise. | |
Alexis Angelopoulos glaubt, dass es Deutschland noch „vergleichsweise gut“ | |
gehe. Hinter Zigaretten, Kaugummis und Schokolade wartet der | |
Wirtschaftsstudent im Kiosk an der Athener Metrostation Doukissis | |
Plakentias auf seine Kundschaft. Der 24-Jährige jobbt immer dann hier, wenn | |
seine Kollegen einen freien Tag genießen, und wohnt im Hotel Mama ganz in | |
der Nähe. Eine eigene Wohnung ist für ihn nicht drin. Dass die deutsche | |
Wirtschaft in der Rezession steckt, findet er nicht gut. Von Häme keine | |
Spur. „Deutschlands Krise tut Europa nicht gut“, sagt er. | |
Etwas andere Töne schlägt Sokrates Leriou an. Der 63-Jährige redet sich in | |
seinem gelben Taxi in Rage, wenn er an die 2010er Jahre zurückdenkt. Sein | |
Umsatz sei damals um 60 Prozent eingebrochen, erinnert er sich. „Deutsche | |
Politiker und Medien warfen uns vor, dass wir Griechen angeblich faul | |
seien. Ich sitze seit 32 Jahren am Steuer, täglich zehn Stunden, oft an | |
sieben Tagen in der Woche. Nun stellt sich heraus: Die Deutschen arbeiten | |
viel weniger als wir Griechen!“, ätzt er. | |
Schadenfreude, Häme oder Spott empfindet jedoch auch er nicht. Im | |
Gegenteil: „Ich will nicht, dass Deutschland Probleme hat. Hat Deutschland | |
auch nur einen leichten Schnupfen, kriegen die anderen Länder in Europa | |
eine Erkältung.“ Den Deutschen wünsche er nur eines: „Gute Besserung.“ | |
Dem pflichtet Jannis Tsakiris bei. Der 83-jährige Rentner ist frisch | |
rasiert und trägt einen Nadelstreifenanzug – früher besaß er eine eigene | |
Schneiderei. Die Rente sei ihm jedoch um 6.000 Euro im Jahr gekürzt worden. | |
Dieser Abzug sei bis heute nicht ausgeglichen worden. „Und seien Sie | |
versichert, das wird nie passieren“, sagt er bitter. | |
„Fühlen Sie Schadenfreude, Häme oder Spott, Herr Tsakiris?“ „Οχι“,… | |
er prompt – „Nein!“ | |
Statt Häme fühle er Mitleid mit den einfachen Leuten in Deutschland. Der | |
kurzen und knackigen Zustandsbeschreibung in den griechischen sozialen | |
Medien stimmt Tsakiris jedenfalls unverblümt und sofort zu: „Deutschland | |
ist kaputt.“ | |
Und „kaputt“ versteht hier jeder Grieche, auch ohne eine Übersetzung. | |
Aus Athen, euer Ferry Batzoglou | |
1 Jan 2025 | |
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