| # taz.de -- Frohes neues Jahr!: Neujahrsgrüße nach Deutschland | |
| > Wie blicken die Menschen in Europa auf uns? Was wünschen sie sich – was | |
| > wünschen sie uns? Die taz-Korrespondent*innen haben sich umgehört. | |
| Bild: Relaxed im Wahllokal im irischen Inishbofin | |
| Vielerorts in Europa sind Korrespondent*innen für die taz unterwegs. | |
| Einige von ihnen schicken uns Neujahrsgrüße aus ihren Wahlheimaten zurück | |
| nach Deutschland. | |
| ## Aus einer irischen Wahlkabine | |
| Liebe deutsche Wählerinnen und Wähler! Ihr dürft im Februar wählen. Dann | |
| tut das auch! Es dauert nicht lange, ein Kreuzchen zu machen. Bei uns in | |
| Irland ist das komplizierter, denn wir nummerieren die Kandidatinnen und | |
| Kandidaten in der Reihenfolge unserer Präferenz. Das dauert. Vielleicht | |
| sind deshalb [1][bei der Wahl Ende November] mehr als 40 Prozent zu Hause | |
| geblieben. | |
| Ich habe eine halbe Stunde in der Wahlkabine verbracht, um die Namen so zu | |
| sortieren, dass die Rechtsextremen keinen Fuß auf den Boden bekommen. Das | |
| ist geglückt. Euch in Deutschland wird das nicht gelingen. Es gibt zu | |
| viele, die den Faschisten glauben, obwohl sie ihnen die Höcke voll lügen. | |
| Mein Freund und Kollege Derek Scally von der Irish Times meint, dass die | |
| Deutschen langweilige Wahlkampagnen mögen. Sie hatten genug Aufregung für | |
| zwei Jahrhunderte, sie wollen Stabilität. „Was am 6. November geschah, war | |
| die Ausnahme. Live im Fernsehen verwandelte sich der Kanzler von einem | |
| sanftmütigen Hamburger Anwalt in einen Scholzilla, [2][entließ seinen | |
| Finanzminister] und schickte ihm mehrere rhetorische Raketen hinterher“, | |
| sagt Derek. „Für deutsche Verhältnisse war das eine heiße Sache.“ | |
| John, ein verrenteter Gewerkschafter, freut sich über das Lindner-Aus: | |
| „Diese Gurken werden bei den Wahlen unter fünf Prozent bleiben, und dann | |
| ist es mit diesem Narzissten endgültig vorbei. Dann kann er sich in Ruhe | |
| der Vermehrung seines Vermögens widmen.“ SPD und Grüne hätten das | |
| eigentlich wissen müssen, findet John: „Wer mit Hunden ins Bett geht, steht | |
| mit Flöhen auf.“ | |
| Wolfgang, ein Deutscher, der seit 20 Jahren in Irland lebt, weist auf einen | |
| Artikel in der Zeitschrift Rolling Stone hin. Dort vergleicht der Autor die | |
| Zitate der Regierungsstreithähne mit dem Zwist der Gallagher-Brüder von der | |
| Band Oasis. Scholz sagte: „Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den | |
| Blick auf das verstellt, was diese Regierung zusammen vorangebracht hat.“ | |
| Noel Gallagher sagte über seinen Bruder Liam: „Er ist der wütendste Mann, | |
| den du je kennenlernen wirst. Er ist wie ein Mann mit einer Gabel in einer | |
| Welt voller Suppe.“ | |
| Scholz sagte, er habe mit Bundespräsident Steinmeier telefoniert und ihn um | |
| die Entlassung Lindners gebeten. Noel Gallagher sagte inhaltlich dasselbe | |
| über Liam: „Wir sagten ihm einfach, er solle sich verpissen. Und er ging | |
| schmollend weg!“ | |
| Die irischen Wettbüros tippen auf eine Große Koalition. Was anderes wird | |
| kaum übrig bleiben. Es könnte trotzdem eine interessante Wahl werden. In | |
| Irland sind Wahlen eher langweilig, am Ende kommt immer das Gleiche heraus. | |
| Wir wählen seit der Staatsgründung vor über hundert Jahren immer dieselben | |
| beiden konservativen Parteien, ob Wirtschaftskrise oder Aufschwung, ob | |
| Krisen oder Kriege, ob wankende Demokratien oder ungewisses Europa-Projekt. | |
| Aber wenigstens haben wir die Rechtsextremen für weitere fünf Jahre aus dem | |
| Parlament ausgesperrt. Das wird Euch leider nicht gelingen. | |
| Trotz alledem: Ein gutes neues Jahr! | |
| Wünscht euch euer Ralf Sotscheck | |
| ## Aus der frisch wieder eröffneten Notre-Dame | |
| Meine Lieben in Deutschland! | |
| Na, das hattet ihr nicht erwartet. Geradezu [3][belgische Verhältnisse in | |
| Frankreich], in diesem Land, das auch ohne Regierung nicht besser oder | |
| schlechter funktioniert als mit. Das ist halt auch Politik und in der | |
| französischen Verfassung sogar vorgesehen. | |
| Lange schaute man aus Frankreich mit einem gewissen Neid auf den Erfolg der | |
| deutschen Exportwirtschaft und die finanzielle Stabilität im Nachbarland. | |
| Doch heute würden sich viele Franzosen und Französinnen die Mahnungen zu | |
| mehr Haushaltsdisziplin verbitten: „Kehrt doch lieber vor der eigenen | |
| Türe!“ | |
| Drücken wir uns also lieber, über den mehr verbindenden als trennenden | |
| Fluss der Loreley, gegenseitig die Daumen. An populistischen Miesmachern | |
| und Predigern des Nieder- und Untergangs mangelt es ohnehin nicht. Seien | |
| wir – gegen den Strom, trotz allem oder erst recht – Optimisten! | |
| Denn Krisen haben meist den positiven Effekt, dass sie Bewegung in | |
| erstarrte Institutionen bringen. Die späten Nachfahren der Großen | |
| Revolution, der Sansculotten und Pariser Kommunarden sind auch in der | |
| jüngeren Geschichte immer wieder für Überraschungen gut, um Neuerungen | |
| durchzusetzen oder die allzu selbstzufriedenen Machthaber das Fürchten zu | |
| lehren. | |
| Wer hätte gedacht, dass die Kathedrale Notre-Dame schon fünf Jahre nach dem | |
| verheerenden Großbrand im April 2019 [4][in neuem Glanz eingeweiht werden | |
| könnte]. Präsident Emmanuel Macron prahlt damit – es war indes bloß seine | |
| Vorgabe, nicht aber sein Werk und auch nicht sein Geld. Gewürdigt werden | |
| sollten vielmehr die Steinmetze, Restaurateur*innen, Bauarbeiter*innen | |
| und mit ihren Spenden auch die Zigtausenden von Mäzen*innen. Sie haben es | |
| möglich gemacht, dass diese zunächst so unwahrscheinlich anmutende Wette | |
| gehalten wurde. Dass Macron diesen Erfolg nun auf sich lenken und als | |
| Exempel einer „Union nationale“ verkaufen will, verwundert niemanden. | |
| Andere mutmachende Entwicklungen spielen sich derzeit vor Gerichten ab. Die | |
| Opfer sexualisierter Gewalt gehen zur Gegenoffensive über. Die Scham | |
| wechselt die Seite, wie [5][beim Prozess in Avignon], der eine Zeitenwende | |
| im Kampf gegen sexualisierte Gewalt einläuten könnte. Vor Gericht standen | |
| wegen Vergewaltigung neben Dominique Pelicot, der seine Frau Gisèle betäubt | |
| und Dutzenden von Männern ausgeliefert hatte, auch 50 Mitangeklagte, und | |
| mit ihnen ihre antiquierten sexistischen Vorstellungen männlicher Macht. | |
| Das Urteil dürfte über Frankreich hinaus einen exemplarischen Charakter | |
| bekommen. | |
| Lange Zeit hat ganz Europa große Hoffnungen in die deutsch-französische | |
| Zusammenarbeit gelegt. Wünschen wir uns, in einem übermütigen Anflug von | |
| Zukunftsvertrauen, dass diese Partnerschaft 2025 wieder in Gang kommen | |
| möge! Mit einer gewissen Bescheidenheit in eigener Sache und dem | |
| Eingeständnis, dass keine der beiden Nationen der anderen wirklich | |
| etwas vormachen oder vorwerfen kann. | |
| Aus Paris, euer Rudolf Balmer | |
| ## Vom Tresen einer Espressobar in Italien | |
| Liebe Menschen in Deutschland, ihr glaubt gar nicht, wie weit entfernt euer | |
| Land von Italien ist. Okay, am Ende liegen bloß knappe 70 Kilometer | |
| Österreich zwischen Italiens Nord- und eurer Südgrenze – doch so wirklich | |
| kriegt kaum jemand in Rom, Turin, Mailand oder Neapel mit, was in | |
| Deutschland so passiert. | |
| So gut wie alle am Tresen der Espressobar zucken mit den Achseln auf die | |
| Frage, was jetzt aus Deutschland wird und wie es in Berlin weitergehen | |
| soll. Der Kanzler hat den Finanzminister rausgeschmissen? [6][Welcher | |
| Kanzler?] Welcher Finanzminister? Ach, Olaf Scholz heißt der | |
| Regierungschef? Und Christian who? | |
| Wirklich überraschend ist die Unkenntnis nicht. Als Scholz Christian | |
| Lindner am 6. November vor die Tür setzte, hatten Italiens Medien andere | |
| Sorgen, war doch in den USA gerade [7][Donald Trump zum Präsidenten gewählt | |
| worden]. Und auch sonst sind Krisen anderswo viel spektakulärer als die in | |
| Berlin. Abend für Abend berichten die TV-Nachrichten aus Paris, reden von | |
| Macron, Mélenchon, Barnier, Le Pen – nicht von Scholz, Merz, Habeck oder | |
| Weidel. | |
| Auch vorher regte Deutschlands Regierungschef die Phantasie der | |
| Italiener*innen nicht an – er flog hier genauso unter dem Radar wie zu | |
| Hause. In einer Umfrage von 2023 nach einflussreichen Leadern der Welt | |
| kommt er – anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens | |
| Regierungschef Pedro Sánchez – gleich gar nicht vor. | |
| Wie anders war das noch vor gar nicht langer Zeit. Im Jahr 2021 galt Angela | |
| Merkel gleich 64 Prozent der Italiener*innen als vertrauenswürdige | |
| Weltenlenkerin, weit vor allen anderen, vor Joe Biden, Ursula von der Leyen | |
| oder Macron. „Anatra zoppa“, lahme Ente nennt jetzt dagegen die | |
| Nachrichtenagentur Ansa den Kanzler. Auch das ist Niedergang, genauso wie | |
| der Niedergang ganz Deutschlands, den [8][Italiens Ministerpräsidentin | |
| Giorgia Meloni] jedes Mal gerne andeutet, wenn sie über die Wirtschaft in | |
| Europa spricht. | |
| „Stärker als Frankreich, stärker als Deutschland“ werde Italien nach den | |
| Prognosen der OECD auch im Jahr 2025 wachsen, verkündete sie vor einigen | |
| Tagen wieder. Für Frankreich ist das zwar geflunkert – das Land wächst | |
| gegenwärtig stärker als Italien – für Deutschland aber dürfte Melonis | |
| Ansage stimmen. Denn so bescheiden die für 2024 erwarteten 0,5 Prozent an | |
| Zuwachs Italiens beim BIP sind, so überholen sie doch die deutschen 0,0 | |
| Prozent allemal. „Nicht mehr Lokomotive, sondern letzter Waggon“ in Europa, | |
| lästert die Politik-Website Affaritaliani.it über die „rabenschwarze Krise�… | |
| Deutschlands. Wenigstens von der Krise der deutschen Automobilindustrie | |
| haben auch die Kund*innen am Tresen der Espressobar gehört, dank der | |
| TV-Berichte über [9][die Warnstreiks bei VW.] | |
| Dann aber reden sie in der Espressobar doch von wenigstens einem Feld, auf | |
| dem „la Germania“ Wachstumszahlen vorzuweisen hat. Die „nazisti“ von der | |
| AfD seien ja kräftig im Kommen, wirft einer in die Runde und setzt nach, | |
| mit der „stabilità“, der altgewohnten und gerne auch heimlich bewunderten | |
| Stabilität in Deutschland, sei es ja auch nicht mehr weit her. | |
| Aus Rom, euer Michael Braun | |
| ## Vom schwedischen Gartenzaun | |
| Liebe Leute in Deutschland! | |
| Wie geht’s euch da unten, so ohne Wind? Oder habt ihr das gar nicht | |
| mitbekommen? Hier jedenfalls, 1.500 Kilometer weiter nördlich, war es | |
| gerade eine Schlagzeile: Rekordhohe Strompreise in Südschweden – wegen | |
| Windstille in Deutschland. Flaute in der deutschen Windkraft heißt nämlich | |
| Stromimport aus Schweden, und dann wird die Elektrizität auch hier | |
| teurer. | |
| Ich werde schon unzufrieden angeguckt, wenn das Gespräch darauf kommt. Als | |
| Deutsche kann man die Menschen in Schweden energiepolitisch aber noch mehr | |
| verwirren, wenn man erzählt, dass man in Berlin mit Gas geheizt hat – das | |
| klingt für sie kurios. Und wie billig dieses Gas war, als es noch aus | |
| Russland kam! | |
| Schweden kommt kaum hinterher, die Krisennachrichten aus Deutschland zu | |
| analysieren, und die nostalgischen Töne sind dabei nicht zu überhören. Da | |
| unten irgendwo liegt ein Land, stabil und sicher, der Anker Europas und | |
| zugleich die Lokomotive, die die kontinentale Wirtschaft zieht: So stellte | |
| sich Deutschland für die Schweden sehr lange dar. Jetzt blicken sie | |
| stattdessen nervös auf die deutsche Wirtschaft. [10][Schlechte Nachrichten | |
| aus Wolfsburg] werden fast persönlich genommen. VW ist schließlich der | |
| größte Investor beim einstigen [11][schwedischen Batterie-Hoffnungsträger | |
| Northvolt.] | |
| Interessanterweise hält sich die alte Bewunderung für deutsche Autos | |
| hingegen hartnäckig und blitzt weiterhin gelegentlich als irrationaler | |
| Pluspunkt für mich auf. Mal gucken, wie lange noch. Schwedische | |
| Wirtschaftsanalytiker lassen sich jedenfalls nicht mehr blenden: Das | |
| Problem der verschlafenen E-Auto-Entwicklung haben sie eiskalt erkannt. Sie | |
| diagnostizieren zudem, dass Deutschland sich zu lange auf den Exportmarkt | |
| China verlassen habe. Häme ist dabei weniger zu hören, dafür ist Schweden | |
| selbst in der Exportwirtschaft zu abhängig von Deutschland. | |
| Der jüngste deutsche Kracher flog hier anfangs unter dem Radar, weil alle | |
| nur auf die US-Präsidentschaftswahl starrten. Aber dann war das Staunen | |
| groß. Jetzt auch noch ein Regierungskollaps? Weitere Unsicherheitssignale, | |
| auf die man gerne verzichtet hätte. Doch aus Schreck wurde Hoffnung: | |
| Vielleicht kommt ja eine große Koalition, überlegt eine Expertenstimme im | |
| Radio, vielleicht könnte sie ja mehr Stabilität und mehr Beschlusskraft | |
| bringen … | |
| Ihr seht, Schweden zittert mit Deutschland, zumindest der Teil, dem die | |
| Abhängigkeiten bewusst sind. Das ist nicht die Mehrheit – im Alltag haben | |
| die meisten anderes zu tun. Mein Nachbar zeigte sich immerhin schon zweimal | |
| interessiert: „Warum um Himmels Willen telefoniert Scholz mit Putin?“ Das | |
| fand er nicht gut. Und dann natürlich: „Kleine Regierungskrise bei euch, | |
| was?“ Das Gespräch war aber eher grobmaschig angelegt. Nach ein paar Sätzen | |
| erwähnte er schon Merkel und Kohl, und ich bestätigte, dass er sich die | |
| Namen richtig gemerkt hat. | |
| Das war’s, und wir konnten wieder über den schwedischen Winter reden: Der | |
| bringt zu wenig Schnee und zu viel Eis bisher. Passt irgendwie ins | |
| Gesamtbild. Aber keine Sorge, beruhigte mich der Nachbar, der Schnee wird | |
| kommen. Und in Deutschland hoffentlich der Wind! | |
| Aus Härnösand, eure Anne Diekhoff | |
| ## Aus der Schlange vor einem Kiosk in der Ukraine | |
| Was erwarten sich die Menschen in Kyjiw von der Wahl in Deutschland? „Die | |
| Ukrainer denken erst mal an die Ukrainer. Und zwar an diejenigen, die ihnen | |
| nahe stehen und die sie lieben“, sagt ein Mann, der neben mir in einer | |
| Schlange am Kiosk steht und auf seinen Kaffee wartet. | |
| Wann die wohl wären, die Wahlen, fragt er mich und fügt dann etwas | |
| ungehalten hinzu: „Wir haben jetzt Anfang Dezember. Und Sie wollen mit mir | |
| über ein Ereignis sprechen, das am Ende des Winters stattfindet. Wissen | |
| Sie, was davor noch alles kommt? Davor muss ich zweimal meine Miete und | |
| meine Strom- und Heizungskosten bezahlen und meiner Frau Haushaltsgeld | |
| geben. Und das alles bei 600 Euro Monatslohn. Bei 3 Euro für ein Kilo | |
| Tomaten kann man mit 600 Euro keine großen Sprünge machen.“ | |
| Er jedenfalls sei froh, wenn er bis zum 23. Februar irgendwie über die | |
| Runden komme und nicht in den Krieg müsse. Der einzige deutsche Politiker, | |
| dessen Namen er kennt, ist Scholz. Aber so groß werde der Unterschied | |
| zwischen Scholz und seinem Widersacher ja wohl nicht sein, meint er. Auf | |
| das aktuelle Chaos in Deutschland angesprochen, antwortet er: „Wie gern | |
| hätte ich eure Probleme. Ihr könnt wenigstens wählen. Das ist bei uns nicht | |
| möglich.“ Wenn sich überhaupt etwas [12][an der aktuellen Situation in der | |
| Ukraine] ändern würde, meint er, würde es an Donald Trump liegen. Er sehe | |
| gespannt auf den 20. Januar, den Tag seiner Amtseinführung. Irgendwie sei | |
| dieser Trump doch sympathisch. | |
| Am nächsten mobilen Kaffeebüdchen redet sich ein anderer Mann in Rage: | |
| „Scholz ist doch der Regierungschef, der uns [13][den Taurus nicht geben | |
| will] und der mit Putin telefoniert hat.“ Der Mann trägt einen schwarzen | |
| Mantel, denn es ist kalt und ein scharfer Wind pfeift durch die Straßen. | |
| Unter dem Mantel lugt ein Rock hervor, der Mann muss ein orthodoxer | |
| Geistlicher sein. „Wenn die Opposition in Deutschland drankommt, kriegen | |
| wir den Taurus“, sagt er. Hofft er. | |
| Er ist nicht der einzige Ukrainer, der sich den Marschflugkörper wünscht. | |
| Zwangsrekrutierungen lehnen die Ukrainer mehrheitlich ab. Die Lieferung der | |
| Taurusraketen würden sie begrüßen. Wer will schon gerne in den | |
| Schützengraben. Der orthodoxe Geistliche zumindest hofft, dass Scholz nicht | |
| wiedergewählt wird. | |
| Anna, eine Arzthelferin, hat Angst vor weiteren Raketen: „Wir in Kyjiw | |
| müssen die russische Antwort ertragen, wenn die wieder mit Raketen Russland | |
| beschießen.“ Sie kommt aus der Gegend bei Sumy und pendelt zwischen dort | |
| und der Hauptstadt. Inzwischen habe sie verstanden, dass oft das Gegenteil | |
| von dem eintrete, was versprochen werde. „Der ukrainische [14][Angriff auf | |
| das russische Gebiet] von Kursk sollte unser Gebiet sicherer machen. | |
| Tatsächlich werden wir jetzt in Sumy viel stärker aus der Luft angegriffen | |
| als früher.“ An die Luftangriffe habe sie sich fast schon gewöhnt, sagt | |
| Anna. An die Totenwagen jedoch nicht. Jeden Tag, sagt sie, fahren sie ein | |
| in ihre Heimatstadt Konotop. | |
| Nicht vergessen werde ich wohl die Verkäuferin, die mich vor einigen Tagen | |
| in Lwiw in einer Bäckerei bediente. Jeden Tag um 9 Uhr morgens wird in Lwiw | |
| über Lautsprecher zu einer Schweigeminute aufgerufen. Man hört dann über | |
| die Lautsprecher ein Klopfen. Ich wollte gerade mein Brot bezahlen, da | |
| begann sie. Die Frau hielt inne und fing an zu weinen. Ich hatte sie | |
| eigentlich zu den Wahlen in Deutschland befragen wollen. Doch schließlich | |
| zahlte ich und ging. Ich traute mich einfach nicht. | |
| Aus Kyjiw, euer Bernhard Clasen | |
| ## Aus einer Metrostation in Athen | |
| Liebe Miteuropäer in Deutschland, | |
| das furiose Ampel-Aus, eine veritable Wirtschaftskrise, das enorm | |
| beängstigende Erstarken der AfD: Klar, was in Deutschland gerade passiert, | |
| kommt nahezu in Echtzeit an den Füßen der Akropolis an. | |
| Die Griechen können ein Lied davon singen, was Krise bedeutet. In den | |
| 2010er Jahren galt Hellas als das „unartige Kind“, gar „Europas schwarzes | |
| Schaf“. Ein deutsches Magazin stellte die Griechen als die „Betrüger in der | |
| Eurozone“ an den Pranger. Sie hätten sich in den Euro hineingemogelt, auf | |
| Pump weit über ihre Verhältnisse gelebt, so der Vorwurf. Es folgten | |
| drastische Kürzungen bei Löhnen und Renten, zahlreiche wirtschaftliche und | |
| gesellschaftliche Grausamkeiten: Griechenland hatte einen rigorosen | |
| Sparkurs durchzuführen. | |
| Die hiesige Wirtschaftsleistung brach um ein sagenhaftes Viertel ein. Von | |
| dieser großen Depression hat sich Athen bis heute nicht erholt. Die | |
| Griechen machten die Bundesregierungen unter Kanzlerin Angela Merkel für | |
| das „deutsche Spardiktat“ in Athen verantwortlich. Der [15][damalige | |
| Finanzminister Wolfgang Schäuble] avancierte in den Augen der Griechen zur | |
| Hassfigur. Und nun? Steckt Deutschland selbst in der Krise. | |
| Alexis Angelopoulos glaubt, dass es Deutschland noch „vergleichsweise gut“ | |
| gehe. Hinter Zigaretten, Kaugummis und Schokolade wartet der | |
| Wirtschaftsstudent im Kiosk an der Athener Metrostation Doukissis | |
| Plakentias auf seine Kundschaft. Der 24-Jährige jobbt immer dann hier, wenn | |
| seine Kollegen einen freien Tag genießen, und wohnt im Hotel Mama ganz in | |
| der Nähe. Eine eigene Wohnung ist für ihn nicht drin. Dass die deutsche | |
| Wirtschaft in der Rezession steckt, findet er nicht gut. Von Häme keine | |
| Spur. „Deutschlands Krise tut Europa nicht gut“, sagt er. | |
| Etwas andere Töne schlägt Sokrates Leriou an. Der 63-Jährige redet sich in | |
| seinem gelben Taxi in Rage, wenn er an die 2010er Jahre zurückdenkt. Sein | |
| Umsatz sei damals um 60 Prozent eingebrochen, erinnert er sich. „Deutsche | |
| Politiker und Medien warfen uns vor, dass wir Griechen angeblich faul | |
| seien. Ich sitze seit 32 Jahren am Steuer, täglich zehn Stunden, oft an | |
| sieben Tagen in der Woche. Nun stellt sich heraus: Die Deutschen arbeiten | |
| viel weniger als wir Griechen!“, ätzt er. | |
| Schadenfreude, Häme oder Spott empfindet jedoch auch er nicht. Im | |
| Gegenteil: „Ich will nicht, dass Deutschland Probleme hat. Hat Deutschland | |
| auch nur einen leichten Schnupfen, kriegen die anderen Länder in Europa | |
| eine Erkältung.“ Den Deutschen wünsche er nur eines: „Gute Besserung.“ | |
| Dem pflichtet Jannis Tsakiris bei. Der 83-jährige Rentner ist frisch | |
| rasiert und trägt einen Nadelstreifenanzug – früher besaß er eine eigene | |
| Schneiderei. Die Rente sei ihm jedoch um 6.000 Euro im Jahr gekürzt worden. | |
| Dieser Abzug sei bis heute nicht ausgeglichen worden. „Und seien Sie | |
| versichert, das wird nie passieren“, sagt er bitter. | |
| „Fühlen Sie Schadenfreude, Häme oder Spott, Herr Tsakiris?“ „Οχι“,… | |
| er prompt – „Nein!“ | |
| Statt Häme fühle er Mitleid mit den einfachen Leuten in Deutschland. Der | |
| kurzen und knackigen Zustandsbeschreibung in den griechischen sozialen | |
| Medien stimmt Tsakiris jedenfalls unverblümt und sofort zu: „Deutschland | |
| ist kaputt.“ | |
| Und „kaputt“ versteht hier jeder Grieche, auch ohne eine Übersetzung. | |
| Aus Athen, euer Ferry Batzoglou | |
| 1 Jan 2025 | |
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