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# taz.de -- Klimaaktivisten vor Gericht: Die verknackte Generation
> Sie haben immer gewaltfrei protestiert, nun droht Mitgliedern der Letzten
> Generation eine Haftstrafe. Ein Ex-Schwerverbrecher bereitet sie darauf
> vor.
Bild: Blockade des Berliner Sachsendamms, 2022: Simon Lachner bei einer Strafta…
Das Gefängnistraining beginnt mit einer Meditation. „Ihr geht zum Dorfplatz
und seid da mit eurer Angst, euren Zweifeln und Sorgen“, sagt Kevin Hecht.
Hecht ist Aktivist:in der [1][Letzten Generation] und war deshalb schon
im Gefängnis. Vier weitere Aktivist:innen sitzen mit geschlossenen
Augen auf einem Ecksofa. Gerade wurde noch gefrühstückt,
Erdnussbutterbrötchen, Apfelspalten, Kaffee. Jetzt sollen sie die negativen
Emotionen in Hoffnung, Freude und Licht verwandeln und die Helligkeit mit
in ihre imaginierte Gefängniszelle nehmen. „Es ist kühl, aber da ist auch
Hoffnung.“ Als die Übung beendet ist, sollen alle ihre Arme nach oben
strecken. „Guten Morgen“, grölt Mirko Guth in die Stille. Er war in der
Zwischenzeit rauchen.
Guth stützt seine tätowierten Unterarme auf eine Stuhllehne und schaut in
die jungen Gesichter. Er wird heute einige moralische Überzeugungen brechen
müssen, naive Vorstellungen aus dem Weg räumen und Tipps geben, wie man im
Gefängnis nicht verprügelt wird. Guth war selbst schwerkriminell, saß
mehrere Jahre in Haft, jetzt wird er von der Letzten Generation als
Gefängnistrainer bezahlt. Drei der Aktivist:innen, die ihn an diesem
Sonntag im August in einer sächsischen Kleinstadt besuchen, soll er auf
ihre Haft vorbereiten.
Auf den deutschen Straßen [2][sind von den Blockaden der Letzten Generation
nur noch Klebeabdrücke der Hände geblieben]. Die Bewegung hat ihre Taktik
geändert und verzichtet seit Jahresanfang auf Straßenblockaden. Juristisch
aber werden die Protestaktionen noch lange andauern. Online führt die
Bewegung einen Kalender mit Gerichtsterminen, beinahe täglich steht ein
Mitglied vor Gericht. Die rechtlichen Konsequenzen ihrer Aktionen wollen
sie in Kauf nehmen, so steht es in den Werten der Letzten Generation, „bis
hin zu massenhaften Inhaftierungen von Klimaschützenden über Wochen und
Monate“. Wussten die Aktivist:innen wirklich, worauf sie sich
einlassen?
Links außen auf dem Sofa sitzt Simon Lachner. Er hat Elektrotechnik
studiert, bevor er einer der Sprecher der Letzten Generation wurde.
Lachner, 26, hat rotbraune Locken, einen aufgeschlossenen Blick und eine
Excel-Tabelle, in der er alle Straßenblockaden mit Datum aufgelistet hat.
Welche Anzeige mit welchem Aktenzeichen zu welcher Aktion gehört, weiß er
trotzdem nicht. Nur dass es über 70 Verfahren sind, die gegen ihn laufen.
Bisher drohen ihm drei Monate Gefängnis.
Morgens um 10 Uhr ist er noch selbstbewusst: „Also, wir sind dann ja die
politischen Gefangenen“, fängt er an, sich in seine Rolle als Insasse zu
denken. Mirko Guth schneidet ihm sofort das Wort ab. „Ihr seid da die
Opfer! Mit Hochnäsigkeit im Knast seid ihr ganz schnell wieder unten.“ Er
holt Luft und sagt dann ruhiger: „Ihr seid da drinnen nicht die
Klimaaktivisten.“
Mirko Guth trägt kurz geschorene Haare und schwere Silberketten um den
Hals. In jedem fünften Satz sagt er Fotze. Oder Hurensohn. Der 44-Jährige
ist in Mannheim aufgewachsen, mit zehn Jahren sei er raus auf die Straße
und habe nur noch mit Kriminellen rumgehangen. „Die einen Jungs gehen
spielen, die anderen gehen schwimmen und wir sind aufs Feld gegangen, um
uns zu prügeln“, erzählt er. Es folgten Raub, Körperverletzung,
Drogenhandel, Waffenbesitz – „das volle Programm“. Zwischen 2006 und 2013
saß er deshalb immer wieder im Gefängnis.
„Was ist für euch ein Krimineller?“, fragt Guth als Erstes. Antworten
tröpfeln in den Raum: Menschen, die gegen geltendes Recht verstoßen; die
sich nicht an die gesellschaftliche Norm halten. Viele Kriminelle verbinde,
dass sie selbst einmal Gewalt erfahren hätten. Seit sie sich auf der Straße
festgeklebt haben, habe sich ihr Bild von Kriminellen verschoben. [3][Weil
sie selbst merkten, wie schnell man in diese Kategorie fällt]. Die
Erklärungen der Aktivist:innen sind ausschweifend, fast philosophisch.
Guth dagegen geht es eigentlich um einen bestimmten Teil der Kriminellen:
die gefährlichen fünf Prozent nennt er sie. Schwerstkriminelle in den
Gefängnissen, die keinen Funken Skrupel mehr spüren, die das Gefängnis
kontrollieren und die Insassen tyrannisieren. Auf diese Menschen will Guth
die Gruppe vorbereiten. Während seiner Haft habe er einige von ihnen
kennengelernt.
Mit der Letzten Generation hatte Guth bisher hingegen nichts zu tun. Zur
Verständigung wurde für ihn ein Glossar erstellt: Aktivistisprech –
Deutsch. Darin aufgelistet sind Begriffe wie Bezugsgruppe, Cis-Mann,
FLINTA, Gendern, Awareness. Eigentlich arbeitet er mit Jugendlichen
zusammen, die im Gefängnis landen könnten – so wie er in ihrem Alter. Seine
Vergangenheit dient als schlechtes Beispiel. Diese Arbeit brachte ihn mit
den Aktivist:innen der Letzten Generation zusammen.
Guth sagt: „Was ich gemacht habe, ist nicht zu entschuldigen.“ Er wolle
kein Mitleid, weil er im Gefängnis war. „Ich bin kein Opfer.“ Damals hätte
er Spaß an Gewalt gehabt. Er wird jetzt sehr präzise in seinen
Schilderungen, damit die Aktivist:innen eine Vorstellung davon
bekommen, mit wem sie eingesperrt werden könnten. Wenn ein Sexualstraftäter
neu in den Trakt gekommen sei, habe er einen Besenstiel genommen und mit
Honig bestrichen, damit Scheuerpulver daran haftet. „Den habe ich ihm in
den Arsch gerammt“, er schiebt einen imaginären Besen nach oben, „und noch
mal kräftig zugestoßen, damit er die nächsten Wochen Probleme beim Scheißen
hat.“ Für Körperverletzungen im Gefängnis habe er zwei Jahre zusätzlich
bekommen. Guth zeigt auf das Tattoo auf seinem rechten Unterarm: „Jedes
Blatt steht für einen Kinderficker, den ich platt gemacht habe.“ Über den
Arm rankt sich ein Zweig.
Das sind Mirko Guths Erzählungen. Was sicher ist: Guth saß ab 2006 über
sieben Jahre in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in Haft. In
Bruchsal, Remscheid, Bochum, Attendorn und Geldern. Das lässt sich anhand
von Arbeitsbescheinigungen aus den Justizvollzugsanstalten und Einträgen im
Bundeszentralregister nachvollziehen.
Während Guth brutalste Details schildert, guckt sich Kevin Hecht immer
wieder in der Gruppe um und fragt: „Geht es allen gut? Braucht jemand eine
Pause?“ Hecht, 33, markante Augenbrauen, bunter Wollcardigan, saß im August
2023 als erstes Mitglied der Letzten Generation wegen Klebeaktionen für
einen Monat im Gefängnis in Cottbus. Auch Hecht wurde von Mirko Guth auf
die Haft vorbereitet.
Dass [4][Klimaaktivist:innen jetzt Gefängnisstrafen drohen], weil sie
sich auf der Straße festgeklebt haben, Farbe an Ministerien, Denkmäler,
Privatjets gespritzt haben, ist das verhältnismäßig? Im Juli wurde in
Berlin eine der höchsten Strafen gegen ein Mitglied der Letzten Generation
verhängt. Der Richter urteilte: 16 Monate Haft ohne Bewährung. Die hohe
Strafe begründete er auch damit, dass die Aktivistin keine Reue zeigte und
weitere Aktionen mit der Letzten Generation plane.
Zwar ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, aber es zeigt: Die Strafen
belaufen sich nicht nur auf ein paar Hundert Euro Bußgeld, sondern bedeuten
teilweise monatelange Freiheitsstrafen. Auch in Heilbronn, Heidelberg oder
Regensburg wurden mehrmonatige Haftstrafen verhängt.
## Gefängnisaufenthalte sind Teil der Strategie
Gleichzeitig brüstet sich die Letzte Generation mit den Verhaftungen ihrer
Mitglieder. Online führen sie ihre bisher erreichten Meilensteine auf.
Darunter: „1.500 Menschen haben sich bei Straßenblockaden verhaften
lassen.“ Alle staatlichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen befreie sie davon,
sich von staatlichen Repressionen einschüchtern zu lassen, und halte so
ihre Entschlossenheit aufrecht. Die Gefängnisaufenthalte sind damit Teil
ihrer Strategie. Auch die Bußgelder ihrer Mitglieder übernimmt die Letzte
Generation nicht. Wer die Strafe nicht bezahlen kann, muss ins Gefängnis.
Andere [5][Bewegungen wie Ende Gelände] setzen bei ihren Aktionen auf
Anonymität. Ihre Körper hüllen sie in weiße Maleranzüge, die Gesichter
verstecken sie hinter Sonnenbrillen und FFP2-Masken. Simon Lachner hat
früher bei Ende Gelände mitgemacht. Wie alle Aktivist:innen der Letzten
Generation entschied er dann, seine Identität nicht mehr zu schützen. Was
das tatsächlich bedeuten kann, scheint er erst gerade auf Guths Couch zu
durchdringen.
„Durch den Knast kommt ihr entweder mit Achtsamkeit oder mit Abgrenzung“,
sagt Kevin Hecht. Anders als Mirko Guth tastet Hecht jedes Wort mit der
Zunge ab, ehe es aus dem Mund kommt. Um den eigenen Körper zu beobachten,
hat Hecht im Gefängnis täglich eine Tabelle geführt. Hecht hält einen
selbstgezeichneten Kalender hoch, jeder Tag hat einen Kasten mit drei
bunten Kurven: Temperatur, psychische Verfassung, Energie.
Hecht ist non-binär. Im Gefängnis hat Hecht das zum Schutz verheimlicht.
Das sagt auch Guth: „Bekennt euch nicht queer und hört auf mit dem
Gendern.“ Jede Angriffsfläche, die man bieten könnte, gilt es
auszuschalten. Also auch Werte und politische Überzeugungen. „Ihr werdet
viel mit Nazis konfrontiert sein“, sagt Hecht, der Hitlergruß sei häufiger
gezeigt worden. „Versucht euch davon freizumachen, dass ihr dagegen
irgendwas tun könnt. Ihr könnt es nicht.“
Im Knast laufe vor allem Bild TV. Ein Reporter des Senders setzte sich
einmal mit einer Blockflöte in eine Straßenblockade, um die „Klima-Chaoten�…
mit dem Gepfeife endlich mal zurückzunerven. Dieses Bild der Letzten
Generation komme in den Gefängnissen an.
Vom Sofa kommt keine Widerrede, stattdessen wird mitgeschrieben. Beim
Zuhören ergibt sich eine Liste mit zwölf Verhaltensregeln:
1. Häng keine Fotos auf. Autos, Häuser, Urlaube, das alles sind Hinweise
auf Geld.
2. Verrate keine Adressen oder Namen. Wenn jemand fragt, wie deine Mutter
heißt, sag Angelika.
3. Geh keine Tauschgeschäfte ein. Die Zinsen im Gefängnis steigen schnell.
Du musst immer das Doppelte, schnell das Dreifache zurückzahlen.
4. Dusch aus Höflichkeit mit Unterhose. Schau den anderen Männern nicht in
den Schritt.
5. Starre niemanden an. Aber wenn du in die Zelle kommst, schau den anderen
Insassen in die Augen. Falls du das nicht schaffst, schau zwischen die
Augenbrauen. Geh aufrecht, gib den anderen die Hand.
6. Es gibt keine Gefühle. Wenn du weinen musst, dann hinter geschlossener
Tür.
7. Wenn andere nach Hilfe fragen, hilf nicht. Du könntest in etwas
reingezogen werden. Glaub nicht alles, was dir erzählt wird.
8. Spiel keinen Fußball, mach keinen Kampfsport, da wollen sich die Leute
messen. Volleyball, Joggen, Schach sind unverfänglicher.
9. Halte dich fern von Menschen mit folgenden Tattoos: Sterne auf Brust
oder Knien bedeuten Mafia, ein Schriftzug auf dem Rücken spricht für ein
Gangmitglied. Auch Abstand zu Insassen mit missglückten Tattoos halten. Ein
Wolf, der eher wie ein Pferd aussieht – solche Tattoos haben Opfer. An
ihnen wird Tätowieren geübt.
10. Drogen immer ablehnen.
11. „Wenn Freistunde ist, bewegt ihr euren scheiß Arsch!“
Dann sagt Guth, Regel Nummer 12: „Kauft euch am Kiosk zwei Dosen Thunfisch.
Die steckt ihr in eine Socke und legt sie in euren Schrank – für den Fall.“
Guth deutet an, wie er die Socke schleudern würde, um damit jemanden zu
schlagen. So ein Hieb sei ziemlich schmerzvoll und abschreckend.
## Eigentlich gilt absolute Gewaltfreiheit
In den Werten der Letzten Generation steht an allererster Stelle: „Wir sind
absolut gewaltfrei in unserem Verhalten und in unserer Sprache.“ Egal wie
aggressiv die Autofahrer:innen auf die Straßenblockaden reagierten,
die Aktivist:innen beschimpft, bespuckt oder getreten haben, [6][sie
antworteten mit stoischer Ruhe.] Nie wurde zurückgebrüllt. Jetzt lernen
sie, wie sie sich im Gefängnis eine Waffe zur Selbstverteidigung bauen
können.
Mirko Guth sagt: „Fragt euch schon vor dem Gefängnis: Kann ich mich
verteidigen? Würde ich jemanden aus Selbstschutz schlagen? Was mache ich,
wenn ich angegriffen werde?“ Es komme zwar selten vor, aber wenn ein
Insasse in die Zelle komme und deine Schuhe haben wolle, sei es besser,
sich zu wehren, als ihm die Schuhe zu geben. „Sonst will er morgen deine
Hose und schnell hat man nichts mehr.“
[7][Wenn sie nicht zuschlagen wollen, sollen sie üben, sich zu schützen.]
Guth stellt sich breitbeinig hin, hebt die Fäuste vorm Gesicht. „So nicht!
Wir sind hier nicht im Film.“ Mit dieser Körperhaltung hat man schnell die
eigene Faust im Gesicht, sagt er. Stattdessen sollen sie die Oberarme
schützend an die Ohren legen. Er rotiert die Arme fließend am Kopf nach
vorne und hinten.
„Wir sehen zwar aus wie leichte Opfer, aber das lässt sich beeinflussen“,
sagt Kevin Hecht. Denn Täter suchten sich ihre Opfer auch unterbewusst aus.
Also überlegte sich Hecht eine Rolle, um sich im Gefängnis zu behaupten.
Eine Übung: Um sich stark zu fühlen, stemmte Hecht sich mit beiden Händen
und dem ganzen Gewicht gegen die Zellenwand. Eine Eigenheit: Beim Hofgang
lief Hecht immer barfuß, um das Gras unter den Füßen zu fühlen. Und zum
Eindruckschinden: Hecht ließ sich die Akte einer Straßenblockade ins
Gefängnis schicken. Eine Verteidigerin hätte mal gesagt, solche dicken
Aktenordner kenne sie nur von Mordfällen. Also nahm Hecht die Akte mit in
den Freigang und las sie unter den Blicken der anderen Insassen.
Während des Hofgangs habe es an einem Tag in Strömen geregnet, erzählt
Hecht. Die ganzen aufgepumpten Männer mit großer Klappe drückten sich gegen
die Gefängnismauern unter einen kleinen Vorsprung, um nicht nass zu werden.
Hecht setzte sich mitten in den Regen auf eine Bank und meditierte. Beim
Erzählen lacht Hecht zum ersten Mal an diesem Tag. Es sei sein
Lieblingsmoment in Haft gewesen, „wenn man das überhaupt so sagen kann“.
Simon Lachner, der vielleicht bald in Haft muss, löst sich aus der Couch.
Er setzt sich aufrechter hin. Wenn man Hecht so zuhört, kommt man
vielleicht doch auch sanfter durchs Gefängnis – ohne Gewalt. Aber Guth
winkt ab, macht das nicht mit dem Barfußspazieren, sagt er. Dann stellt
Lachner die falsche Frage: „Wieso nicht?“
Guth baut sich vor ihm auf. Sein ganzer Körper ist angespannt, die Hände zu
Fäusten geballt. „Bist du geisteskrank! Warum sollte ich deine dreckigen
Füße sehen wollen? Hast du keinen Respekt?“, fährt er Lachner an. Der
Aktivist starrt ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. So könne auch auf
die nackten Füße reagiert werden. Hecht hätte Glück gehabt, sagt Guth.
Seine Finger lockern sich langsam.
Der Gefängnisalltag ist ein ewiger Spagat: sein Ding machen, aber nicht
anecken; Angst haben, aber sie nicht zeigen; den Menschen in die Augen
gucken, aber nicht zu lange; Klimaaktivist:in sein, aber bloß kein:e
Klimaaktivist:in sein.
Kevin Hecht ist dieses Kunststück einen Monat lang geglückt. Womöglich kam
Hecht den anderen Insassen sonderbar vor, aber Hecht war auch Mirko Guths
Sonderling. Denn Guth bereitet die Aktivist:innen nicht nur auf den
Knast vor, sondern sagt auch, dass er sie schützt, wenn sie drinnen sitzen.
Guth sagt, er kenne viele Leute, die noch in deutschen Gefängnissen sitzen
würden. Jungs von früher, Männer, mit denen er einsaß, oder er kennt
jemanden, der jemanden kennt.
Welchen Einfluss Guth von außen nehmen kann, lässt sich schwer überprüfen.
Hecht sagt, er habe davon im Gefängnis nichts mitbekommen. Aber es habe
eine Situation gegeben, die Guth wahrscheinlich für ihn entschärft habe. Es
gab einen Häftling, mit dem Hecht auch über Privates gesprochen habe, sie
hätten sich in ihren Zellen besucht. Aber dann habe es einen Bruch gegeben.
Nach der Haft erfuhr Hecht von Mirko Guth, dass der Insasse plötzlich
angenommen hatte, Hecht sei schwul, und ihn deshalb verprügeln wollte. Guth
sagt, er habe telefoniert und das verhindert.
Ab drei Monaten Haft werde es schwieriger für die Aktivist:innen, ohne
Zwischenfälle durch den Gefängnisalltag zu balancieren, sagt Guth. Dann
würden sich die langfristigen Insassen für einen interessieren. Fotos von
Familienmitgliedern machen zu lassen, um einen zu erpressen, sei aufwändig.
Solche Spielchen würden deshalb erst nach einer gewissen Zeit im Gefängnis
anfangen.
Simon Lachner wirkt nach dem Training wie einen Kopf kleiner. Er habe den
Tag in einer Schockstarre verbracht, erzählt er später. Die Gewalt, von der
Guth erzählt hat, davon hatte er keine Ahnung, sagt er. Für ihn wirkten
Guths Erzählungen wie aus einer anderen Welt. Seit dem Gefängnistraining
frage er sich, ob die schlimmere Strafe gar nicht der Freiheitsentzug ist,
sondern dass man dieser Gewalt ausgesetzt ist.
Worüber er nicht nachgedacht habe, ist die Frage, ob er Gewalt ausüben
würde. Das habe er verdrängt.
Hätte sich Simon Lachner mit dem Wissen von heute trotzdem an über siebzig
Straßenblockaden beteiligt? „Ja“, sagt er. „Ich hoffe, dass ich trotzdem
meiner Moral gefolgt wäre.“ Seine Stimme klingt zögerlich.
Ob Lachners Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, entscheidet das
Gericht noch. Er würde die Strafe lieber bezahlen, als sie abzusitzen.
Falls er ins Gefängnis muss, hat Kevin Hecht noch einen Ratschlag: „Nachts
ist die beste Zeit, um wach zu sein.“ Von eins bis vier sei es still. Wenn
die Zelle abgeschlossen ist, könne man sich erholen. Dann kann man wach
sein, ohne wachsam zu sein.
26 Oct 2024
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## AUTOREN
Sophie Fichtner
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