# taz.de -- Rituale und Rationalität: Warum wir den Jahreswechsel gebührend f… | |
> Rational betrachtet ist Silvester ein Tag wie jeder andere. Aber wie kann | |
> das sein, wenn die Luft golden ist und etwas Neues beginnt? | |
Bild: Wenn die Luft golden ist und ein neues Jahr beginnt | |
Silvester einfach mal nicht feiern, rät mir meine Kollegin, „ist doch auch | |
nur ein Tag wie jeder andere“. Die Wörter erzeugen ein fiependes | |
Störgeräusch in meinem Ohr. Jeder schnöde Donnerstagabend sei besser als | |
die Silvesternacht, zu viele Erwartungen, die eh nicht erfüllt werden, zu | |
viel Stress, zu viel Alkohol. Mich macht diese Vorstellung traurig. Keine | |
Pfannkuchen mit Pflaumenmus, weder [1][Wachsgießen] noch gemeinsam | |
Runterzählen, sich um Mitternacht nicht lange in den Armen liegen? Ich habe | |
doch schon extralange, bunte Wunderkerzen gekauft. Kann ich das schaffen, | |
Silvester nicht feiern? | |
Klar, rational betrachtet ist es einer von 365 aufeinanderfolgenden Tagen. | |
Dann ist die Erde einmal um die Sonne gekreist und wir fangen wieder bei | |
eins an zu zählen. Aber der Jahreswechsel ist für mich aufgeladen wie kein | |
anderer Tag: reflektieren, zwanzig Jahresrückblicke schauen, die Wäsche | |
darf auf keinen Fall hängen bleiben, sonst nimmt man den alten Dreck mit | |
ins neue Jahr. Ich schreibe Wünsche auf Papierschnipsel und verbrenne sie | |
am offenen Fenster. Man muss eine rote Unterhose tragen, für die Liebe! | |
Diese etwas quatschigen Rituale geben mir Halt. Ich kann kaum etwas | |
beeinflussen, aber wenn ich alle Regeln befolge, liegt es immerhin nicht an | |
mir, dass es im neuen Jahr auch Regentage geben wird. Psycholog:innen | |
sprechen von Kontrollillusion – und die kann eine erstaunlich starke | |
Wirkung haben. Zum Beispiel [2][bei Sportler:innen, die an die Kraft ihres | |
Glücksbringers glauben]. Vergessen sie diesen am Wettkampftag zu Hause, | |
kann ihre Leistung darunter leiden. | |
Wenn ich Silvester einfach ignoriere, die Wäsche von einem Jahr ins nächste | |
trocknet und ich jeden Tag wie den vorherigen betrachte, was bleibt dann | |
von der Magie im Leben? | |
Alles rational zu sehen ist, wie vor einem vollen Frühstückstisch zu | |
sitzen, mit Marmelade, Käse, fein geschnittenen Gurken, Butter, Nutella – | |
und die Scheibe Brot dann trocken zu essen. Wie langweilig. | |
Dann lese ich noch, dass der erste Mann im All, [3][Juri Gagarin], auf dem | |
Weg zur Startrampe noch mal aus dem Bus gestiegen sein soll und gegen den | |
Hinterreifen gepinkelt hat. Seitdem gibt es unter russischen | |
Raumfahrer:innen das Ritual, vor dem Raketenstart den Reifen mit Urin | |
zu begießen. Astronaut:innen vertrauen den Gesetzen der Physik so sehr, | |
dass sie sich in eine Rakete setzen und ins Weltall schießen lassen. Und | |
trotzdem haben sie dieses Ritual vor dem Abflug, das ihnen Glück bringen | |
soll. Das ist eine Bankrotterklärung an den Rationalismus, beschließe ich. | |
Also sitze ich an Silvester schon um 16 Uhr mit meinen Freund:innen im | |
Halbkreis um einen Beamer und esse extra viele Pfannkuchen. Jede:r hat | |
eine Powerpoint-Präsentation mit dem persönlichen Jahresrückblick erstellt. | |
Wir jubeln nochmal über besiegte Krankheiten, bestandene Prüfungen und neue | |
Wohnungen. Um Mitternacht stehen wir auf einer Brücke, umarmen und küssen | |
uns. Die Luft ist für einen Moment golden. Weil irgendwer gegenüber eine | |
ausdauernde Feuerwerkbatterie gezündet hat, aber auch weil etwas Neues | |
beginnt, da bin ich mir sicher. | |
Auf uns warten noch genug normale Donnerstage in diesem Jahr. | |
3 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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