| # taz.de -- Geschmacksveränderung: Und plötzlich liebte ich Schokoladeneis | |
| > Wer öfter etwas ausprobiert, trainiert seine Akzeptanz. Das gilt auch | |
| > fürs Essen. | |
| Bild: Schokoladeneis – frau muss es nur oft genug essen, dann schmeckt es auch | |
| Die Eissaison begann dieses Jahr mit einem Flop. Ich bestellte eine Kugel | |
| Earl Grey im Becher, [1][erwartete eine Geschmacksexplosion] und bekam – na | |
| ja das, was es ist – gefrorenen schwarzen Tee. Kein guter Nachtisch, | |
| stellte ich fest und löffelte meinem Freund sein Haselnusseis weg. Warum | |
| ich nicht einfach mal Schokolade bestelle oder Stracciatella, fragte er, | |
| irgendwas Normales. | |
| Schokoladeneis mochte ich noch nie. Als ich in einem Eisladen arbeitete, | |
| probierte ich es trotzdem immer wieder, denn kaum eine Sorte ging so gut | |
| weg wie Milchschokolade mit Mandelkrokant. Mir schmeckte es einfach nicht. | |
| Bis dieser Sommer kam. Nach dem Earl-Grey-Unfall wagte ich es und bestellte | |
| eine Kugel belgische Schokolade. Auf einmal liebte ich alles daran: die | |
| Cremigkeit, den Zucker, die minimale Herbe. Was war plötzlich los mit mir? | |
| Auf der Suche nach Antworten rufe ich Geschmacksforscher Maik Behrens vom | |
| Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an. Wie kann das sein, | |
| dass ich jetzt Schokoladeneis mag? Wir haben angeborene Vorlieben und | |
| Abneigungen für Geschmäcker, erklärt Behrens. Die Abneigung [2][gegenüber | |
| Bitterem] sei bei Neugeborenen sehr ausgeprägt, dafür [3][bevorzugten sie | |
| Süßes], wie eigentlich alle Wirbeltiere. Im Laufe des Lebens verändere sich | |
| dann oft, was uns gut oder schlecht schmeckt, je nachdem welche Erfahrungen | |
| wir mit Lebensmitteln machten. | |
| Ich denke an die salzigen Cracker, die ich auf einem Flug gegen die | |
| Übelkeit gegessen habe und sie danach jahrelang nicht anrühren konnte. Oder | |
| dass ich Malzbier gerne trinke, weil es mich an meine Uroma erinnert. Was | |
| wir mögen oder nicht, hängt also stark mit den Erlebnissen zusammen, die | |
| wir mit dem Essen machen. Ein Schokoladeneistrauma habe ich aber nicht. | |
| Maik Behrens vermutet stattdessen eine Erkältung hinter meinem plötzlichen | |
| Geschmackswandel. Mit der Zunge können wir nur die fünf Grundgeschmäcker | |
| unterscheiden: süß, [4][salzig], bitter, sauer und [5][umami]. Aber mit der | |
| Nase und durch die Geruchsstoffe, die aus der Nahrung über den Rachenraum | |
| zu ihr dringen, könnten wir noch viel mehr wahrnehmen. | |
| Behrens spricht vom retronasalen Riechen. Wie wir Aromastoffe riechen, | |
| bestimme oft auch, ob uns etwas schmecke. Eine bittere Geruchskomponente | |
| der Schokolade habe mich wahrscheinlich gestört, sagt er. Seit einer | |
| Erkältung sei diese Geruchskomponente in meiner Nase aber möglicherweise | |
| nicht mehr so dominant. Stattdessen nehme ich die Süße der Schokolade jetzt | |
| reiner wahr. | |
| Damit hält jeder Schnupfen, der diesen Winter auf uns wartet, potenziell | |
| einen Gewinn bereit. Was mir bald alles schmecken könnte! Karamell? | |
| Marzipan? Camembert? | |
| Dann sagt Forscher Behrens noch: „Wer öfter etwas probiert, trainiert die | |
| Akzeptanz.“ Das gilt nicht nur fürs Schmecken, denke ich kurz, aber er | |
| spricht schon weiter. Zwar könnten wir nichts tun, wenn uns ein | |
| Bitterrezeptor auf der Zunge fehle – der Grund warum manchen Rosenkohl zum | |
| Beispiel bitterer vorkommt als anderen. Aber wir könnten unseren | |
| Geschmacks- und vor allem Geruchssinn trainieren, durch aufmerksames | |
| Riechen und Schmecken. Vielleicht stelle ich mit der Zeit fest, dass | |
| Camembert nicht nur muffig schmeckt, sondern auch süß oder nussig? | |
| Schokoladeneis wird mich jetzt immer daran erinnern, dass wir uns ein Leben | |
| lang weiterentwickeln. Und es nicht nur eine zweite Chance geben kann, | |
| sondern auch eine fünfte und sechste. | |
| 20 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Fichtner | |
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