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# taz.de -- Fremdenhass in Deutschland: Die neue Einsamkeit
> Fortschrittliche Politik hat keine institutionelle Heimat mehr. Nun gilt
> es, selbstbewusst Minderheit zu sein, mit einer Kultur der Solidarität.
Bild: Protest für Menschenrechte vor dem Reichstag, im Juni 2023
Viele haben Angst vor dem, was kommt. Doch hat die Angst für jede und jeden
ein anderes Gesicht. Bei mir ist es ein Gefühl der Entfremdung – dem
eigenen Land und den Landsleuten nicht mehr trauen zu können; die Furcht
vor der Irrationalität, vor dem [1][Ressentiment und dem anschwellenden
Wahn], in der Zuwanderung die Mutter aller Probleme zu sehen.
Meine Entfremdung ist die Luxusvariante von Angst. Wie ist es mit denen,
die nicht für zugehörig gehalten werden, die einen unsicheren Status haben
oder eine Staatsangehörigkeit, die nach neuestem Verständnis wieder
entzogen werden kann? Von einem Freund, der vor anderthalb Jahrzehnten nach
Deutschland einwanderte, hier promovierte und heiratete, hörte ich: Dies
ist nicht mehr das Land, in das ich gekommen bin.
Wo also stehen wir? Mit der Aufarbeitung der [2][NS-Verbrechen] verband
sich die Hoffnung auf eine Zivilisierung der deutschen Gesellschaft, auf
eine Immunisierung gegen ihre faschistischen Potenziale. Der Aufstieg der
Grünen schien dort hinein zu passen; er bestärkte das Lebensgefühl, dieses
Land sei auf bestem Wege, offener und demokratischer zu werden, diverser
und obendrein [3][ökologisch transformierbar].
Dieser Horizont existiert nicht mehr. Die demokratische Substanz
Deutschlands ist poröser als gedacht; der Boden unter unseren Schritten
wird unsicherer. Bei jenen, die das spüren, greift ein Gefühl von
Einsamkeit um sich, eine leise Einsamkeit, die nach ihrem Namen sucht. Die
Entwicklung, die die Grünen genommen haben und lange zuvor die
Sozialdemokraten, hat zur Folge, dass fortschrittliche Politik in
essenziellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat.
## Eine neue APO muss her
Auch wenn die Linkspartei an dieser Stelle ihr Fingerchen hebt –
kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Idee von
Gerechtigkeit und die Überzeugung „Eine andere Welt ist möglich“ sind heu…
ohne nennenswerte institutionelle Heimat. Das verlangt nach einer neu
verstandenen [4][außerparlamentarischen Opposition], gerade zu den Anliegen
globaler Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter
gehören.
Seien wir also selbstbewusst und freimütig Minderheit, indem wir diesem Ort
seinen politischen Charakter zurückgeben. Denn heutige Minderheiten werden
ja meist identitär definiert, als ein Anderssein qua Herkunft, Hautfarbe,
sexueller Orientierung. Zugleich ist Andersdenken verarmt und
delegitimiert, als sei intellektuelle Randständigkeit keine respektable
Position. Als sei der gesellschaftliche Rand ein schmuddeliger Ort, der
nach Weimar riecht und dem Ende der Demokratie.
Weil in Deutschland eine radikale Linke kaum noch existiert, gelten
Ansichten als „extrem“, die anderswo schlicht links oder links-liberal
wären. Wie der Mechanismus wirkt, zeigt sich bei [5][links-jüdischen
Positionen, die in den USA] von der Hälfte aller jungen Juden und Jüdinnen
geteilt werden, doch bei uns staatliche Repression und mediale
Verwünschungen auf sich ziehen.
Antidiskriminierungs-Instrumente, wie sie in der Vergangenheit vor allem
auf Betreiben der Grünen entstanden, basierten auf der schönen Idee, der
Staat solle Benachteiligte schützen. Was aber, wenn der Staat selbst
diskriminiert, und zwar nicht durch einzelne Organe, die zur Ordnung
gerufen werden könnten, sondern durch oberste Instanzen, gestützt auf eine
Mehrheit in [6][Parlament und Parteien]? Was heute jenen widerfährt, die
beim Thema Israel die Staatsraison herausfordern, kann morgen andere
treffen.
## Sichere Räume schaffen
Kann man sich dafür wappnen? In Maßen schon. Denn mit dem Glauben, der
Staat werde sukzessiv fortschrittlicher, grüner und softer ist eine
Landschaft der Alimentierung entstanden, ein seliges Vertrauen in
Staatsknete. Jüngste Erfahrungen, wie rabiat Geld und Räume entzogen werden
können, halten diesbezüglich Lehren parat. Fortschrittliches Denken und
Handeln muss sich ideell wie materiell aus dem Zustand des Alimentiertseins
befreien. Das Gegenteil von Staatsgläubigkeit ist nicht Neoliberalismus,
sondern Emanzipation und Eigenständigkeit.
Es gilt safe spaces zu entwickeln, die mehr sind als Hinterhofkammern:
Institutionen, die nicht von öffentlicher Finanzierung abhängig sind. Es
braucht gemeinschaftliche Fonds, die solche Einrichtungen stützen, auch
Fonds für Rechtshilfe. Was es bisher gibt, ist zu klein, zu wenig
gesichert.
Denn auch dies kommt auf uns zu: Die progressiven Minderheiten Deutschlands
werden in einer noch kaum vorstellbaren Weise vor der Aufgabe stehen, die
Grundrechte von postmigrantischen oder migrantisierten Menschen zu
verteidigen. Jene, die weniger angreifbar sind, weil weiß, in guten Jobs
etc., sind aufgefordert zu überlegen, was sie für die Rechte der
Vulnerableren tun können, damit diese sich nicht zusätzlich exponieren
müssen. Es bedarf einer neuen erfindungsreichen Kultur der Solidarität für
harte Zeiten.
Die Gaza-Protestbewegung hält dafür Anhaltspunkte in zweierlei Richtung
bereit. Wie ihre Entrechtung von vielen moderat Linken hingenommen wurde,
ist kein gutes Vorzeichen für künftige Kämpfe um die Meinungsfreiheit
Andersdenker. Auf der anderen Seite neigen Minderheiten unter Druck dazu,
hermetisch zu werden. Die Geschichte ist voller Beispiele, wie schwer es
ist, Minderheit in einer Minderheit zu sein.
Ich plädiere dafür, dass es in diesen hochkomplexen Zeiten mehr
Wertschätzung für etwas gibt, das ich „tentative Ansichten“ nenne:
versuchsweise eingenommene Haltungen, die sich ihrer Widersprüchlichkeit
bewusst sind. Wir brauchen mehr kluge, diskursfähige Radikalität, die sich
die Luft zum Atmen nimmt, gerade weil die Verhältnisse so stickig sind.
27 Nov 2024
## LINKS
[1] /Debatte-um-Asyl-und-Migration/!6033837
[2] /Verfolgung-von-Naziverbrechen/!6028440
[3] /Forscherin-ueber-Transformation/!5904272
[4] https://systemchange-movie.de/trailer/
[5] https://www.ifnotnowmovement.org/
[6] /Schwerpunkt-AfD/!t5495296
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
APO
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Weltklima
GNS
Solidarität
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Angst
Rechtsstaat
Demokratie
Einsamkeit
Letzte Generation
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Klima
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