# taz.de -- Lagebericht Letzte Generation: Kritische Phase | |
> Die Letzte Generation blockiert keine Straßen mehr, den Einzug ins | |
> EU-Parlament hat sie verpasst. Wie steht es um die Organisation? | |
Bild: Lina Johnsen, Spitzenkandidatin für die EU-Wahl hier bei einer Protestak… | |
Wann ist eine soziale Bewegung erfolgreich? Im Rückblick ist das leicht zu | |
beantworten: Wenn sie ihre Ziele, oder zumindest einen Teil davon, | |
erreicht. Aber wie weiß eine Bewegung, die noch mitten in ihren Kämpfen | |
steckt, ob sie auf dem richtigen Weg ist? Ob sie festhalten soll an ihrer | |
Strategie und nur einen langen Atem braucht, oder ob sie ihren Kurs | |
korrigieren muss? | |
Dass diese Fragen schwer zu beantworten sind, lässt sich derzeit an der | |
Letzten Generation beobachten. Im Januar gab die Gruppe bekannt, künftig | |
auf Straßenblockaden zu verzichten. Seitdem zieht sie deutlich weniger | |
Hass, aber auch deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich. Seit Mai | |
ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen des Verdachts auf Bildung | |
einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation, ein | |
schwerwiegender Vorwurf, doch die großen Solidaritätsbekundungen bleiben | |
aus. Und im Juni verpasste die Gruppe den Einzug ins Europaparlament, sie | |
bekam nur 0,3 Prozent der Wählerstimmen. | |
„Dass Menschen uns nicht gewählt haben, heißt nicht, dass wir unbeliebt | |
sind, sondern dass die Menschen noch nicht den Schritt in den Protest | |
geschafft haben“, sagt Carla Hinrichs in die Kamera ihres Laptops. Es ist | |
der Montagabend nach der EU-Wahl, die Letzte Generation hat ihre Mitglieder | |
zu einer Videokonferenz geladen. Zunächst erzählt eine Aktivistin aus | |
Regensburg vom dortigen Hochwasser, dann reden die Sprecher:innen Theo | |
Schnarr und Carla Hinrichs, zum Schluss Lina Johnsen. Sie war die | |
Spitzenkandidatin für die EU-Wahl. | |
Alle drei lächeln viel, während sie sprechen oder einander zuhören, ihre | |
Botschaft ist klar: Es ist zwar schade, dass der Einzug nicht geklappt hat, | |
aber eigentlich war der Weg das Ziel und das Ganze trotzdem ein Erfolg. | |
Mehr als 250 Menschen nehmen an der Videokonferenz teil. Wie die | |
Zugeschalteten darüber denken, erfährt man nicht: Nach einer Stunde ist | |
Schluss, eine Möglichkeit für Fragen oder Anmerkungen gibt es nicht. | |
## Letzte Generation will eine Massenbewegung werden | |
Fünf Tage später laufen am Potsdamer Platz in Berlin gut 50 Menschen in | |
orangefarbenen Westen, ein Kamerateam und acht Polizist:innen | |
durcheinander. Eine wuselige Szene, die sich plötzlich verschiebt: Wie auf | |
ein unsichtbares Signal hin gehen die Menschen in den Westen auf die | |
Straße. Sie nutzen eine Rotphase der Ampel, um sich vor den fahrenden Autos | |
zu positionieren, und laufen los, sehr langsam, sehr still. Die | |
„ungehorsame Versammlung“, wie die Letzte Generation diese Aktionsform | |
nennt, hat begonnen. Im Schneckentempo laufen die Aktivist:innen bis | |
zur Friedrichstraße, die Polizei lässt sie weitgehend gewähren, obwohl die | |
Demonstration nicht angemeldet ist. | |
„Die ungehorsamen Versammlungen sind als Aktionsform zwar weniger | |
effizient, aber dafür anschlussfähiger als die Straßenblockaden“, erklärt | |
Lina Johnsen beim Gespräch in einem Café in Berlin-Wedding. „Das ist | |
wichtig für die Phase, in der wir uns jetzt als Organisation befinden, denn | |
jetzt wollen wir eine Massenbewegung werden.“ | |
Dass die Medien nun weniger berichteten, sei nicht schlimm, Aufmerksamkeit | |
habe die Gruppe seit ihrer Gründung im Winter 2021/2022 genug bekommen. | |
Jetzt gehe es um den Aufbau von Ortsgruppen, die bei der Letzten Generation | |
„Widerstandsgruppen“ heißen, um das Organisieren von möglichst vielen | |
Menschen. | |
Ein nachvollziehbares Ziel. Ob die Gruppe dabei erfolgreich sein wird, ist | |
ungewiss. Einerseits haben gerade die Straßenblockaden dafür gesorgt, dass | |
die Letzte Generation zum wohl unbeliebtesten Teil der Klimabewegung wurde, | |
auch aus der Bewegung selbst gab es viel Kritik. Nicht nur an den | |
Aktionsformen, auch an der Verfasstheit der Gruppe: Die Letzte Generation | |
ist nicht basisdemokratisch, sondern hierarchisch organisiert. Die | |
Mitglieder können Feedback zur Strategie geben, aber die Entscheidungen | |
werden von einem kleinen Kreis an Aktivist:innen getroffen. | |
Andererseits gibt es wohl keine Klimaschutzgruppe in Deutschland, die | |
offener für neue Mitglieder ist als die Letzte Generation, es gibt weder | |
formelle noch informelle Aufnahmehürden. Kein Wunder, dass die Gruppe | |
rapide gewachsen ist: War es zur Gründung nur eine Handvoll Aktivist:innen, | |
seien es jetzt „zwei- bis dreitausend Menschen in etwa 70 | |
Widerstandsgruppen“, sagt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Dabei ist es | |
nicht ohne, Mitglied der Letzten Generation zu sein, vor allem dann nicht, | |
wenn man sich an den Straßenblockaden beteiligt hat. | |
## Nur die drastischen Urteile bekommen Aufmerksamkeit | |
Allein in Berlin finden derzeit [1][fast täglich Gerichtsverhandlungen] | |
dazu statt. Manchmal sind es gleich mehrere, so wie an diesem Dienstag im | |
Juni. Im Amtsgericht Moabit sitzt unter anderem eine junge Frau auf der | |
Anklagebank, die im April 2023 an einer Straßenblockade am Kurfürstendamm | |
teilgenommen hatte. Die orangefarbenen Hartplastiksitze der | |
Zuschauerreihen in dem holzgetäfelten Gerichtssaal bleiben fast alle leer, | |
nur zwei Menschen aus der Prozessbegleitungsgruppe der Letzten Generation | |
sind gekommen. | |
Die Verhandlung endet mit einer Einstellung gegen Geldauflage an eine | |
gemeinnützige Organisation. „Eine Klima-Organisation möchte ich hier jetzt | |
nicht so gern nehmen“, sagt die Richterin zur Frage, an wen die Spende | |
gehen soll, „aber Tierschutz ist in Ordnung, denke ich“. Die meisten | |
Verfahren gehen weniger glimpflich aus, meist gibt es Geldstrafen, die die | |
Aktivist:innen selbst bezahlen müssen, manchmal auch Haft. | |
Nur die drastischsten Urteile werden mit Öffentlichkeitsarbeit und medialer | |
Aufmerksamkeit begleitet, der Rest spielt sich weitgehend unbemerkt in den | |
Gerichtssälen ab. So auch die Verurteilung eines führenden Mitglieds am | |
vergangenen Mittwoch zu einer Freiheitsstrafe von [2][einem Jahr und vier | |
Monaten ohne Bewährung]. | |
„Wir sind jetzt gerade in einer kritischen Phase“, sagt Lina Johnsen. | |
„Natürlich fühlt es sich manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen an.“ Do… | |
das bedeute nicht, dass die Gruppe es nicht schaffen könne, die notwendigen | |
Veränderungen anzustoßen. | |
## Letzte Generation spricht ungern über Fehler | |
Die Letzte Generation bezieht sich in ihrer Strategie auf den „Movement | |
Action Plan“, den der US-amerikanische Aktivist Bill Moyers in den 1980er | |
Jahren entwickelte und der acht Phasen beschreibt, die gewaltfreie soziale | |
Bewegungen typischerweise durchliefen. Laut Moyers folgt normalerweise ein | |
oder zwei Jahre nach dem Start einer Bewegung, der mit großen Hoffnungen | |
verknüpft war, eine Phase der Frustration. In dieser gingen die | |
Aktivist:innen davon aus, zu scheitern. Doch dem Modell zufolge beginnt | |
in dieser Phase des vermeintlichen Scheiterns tatsächlich der Erfolg der | |
Bewegung, weil ihre Forderungen von der Mehrheitsgesellschaft übernommen | |
würden. | |
Durch den Bezug auf Moyers Theorie macht die Organisation klar, dass sie | |
sich trotz der „kritischen Phase“ weiterhin auf dem richtigen Weg sieht, | |
dass alles nach Plan läuft. Diese Gewissheit ist so etwas wie der | |
Markenkern der Letzten Generation, das, was sie von anderen Gruppen | |
unterscheidet: „Wir haben einen Plan“ stand schon auf den ersten Plakaten | |
und Flyern, die die Letzte Generation 2022 verteilte. | |
Das ist ein Versprechen – eines, das die Letzte Generation attraktiv macht. | |
Gerade weil die Klimakrise so überwältigend scheint, sich viele angesichts | |
dieser komplexen Katastrophe so plan- und machtlos fühlen. | |
Aber kann die Letzte Generation ihr Versprechen halten? Die Strategie, | |
möglichst störende Mittel wie Straßenblockaden mit möglichst | |
mehrheitsfähigen Forderungen wie der nach einem Tempolimit zu verbinden, um | |
schnell erste Erfolge nachweisen zu können, ist gescheitert. Man könnte der | |
Letzten Generation vorwerfen, dass sie darüber wenig spricht, wie auch über | |
andere Fehler, weil das nicht passt in die Erzählung, einen Plan zu haben | |
und auf dem richtigen Weg zu sein. | |
Man kann aber auch sagen: Die Letzte Generation und gerade die wenigen | |
Mitglieder, die die Strategie vorgeben, das sind überwiegend junge | |
Menschen, die gegen übermächtige Gegner kämpfen. Natürlich machen sie dabei | |
Fehler, und auch im Umgang mit Fehlern machen sie Fehler. | |
## Nur wenige ziehen Konsequenzen für ihr Leben | |
Wer Lina Johnsen an diesem Vormittag im Café zuhört, der sitzt vor einer | |
26-Jährigen, die sich dazu entschieden hat, wirklich anzuerkennen, was die | |
Klimakrise bedeutet und echte Konsequenzen für das eigene Leben daraus zu | |
ziehen. Es gibt, gerade in Deutschland, nach wie vor nur wenige Menschen, | |
die das tun. Und es gibt viele, die sehr viel mehr Lebenserfahrung haben | |
als Johnsen und sich dennoch anders entscheiden. | |
Dass es mit dem [3][Einzug ins EU-Parlament] nicht geklappt hat, sei | |
schade, sagt Johnsen. Man merkt ihr aber auch ein wenig Erleichterung | |
darüber an, die nächsten fünf Jahre ihres Lebens nun nicht zu großen Teilen | |
in den Parlamentsgebäuden in Brüssel verbringen zu müssen. Nach zwei Jahren | |
Vollzeit-Aktivismus möchte sie jetzt ihren Master beginnen, aber weiter | |
Aktivistin bei der Letzten Generation bleiben. | |
Hier, beim Gespräch auf einer schattigen Café-Terrasse, fühlt sich der Juni | |
angenehm an. Aber Juni 2024, das sind auch 51 Grad in Neu-Delhi, mehr als | |
1.000 tote Pilger:innen auf dem Weg nach Mekka und Tourist:innen, die | |
auf griechischen Inseln tot zusammenbrechen. Ganz gleich, was man von den | |
Mitteln der Letzten Generation hält: Dass sie ihre Ziele erreicht, kann man | |
sich angesichts dieser Realität nur wünschen. | |
22 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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