# taz.de -- Musik-Subkultur in Palermo: Als Punk überlebenswichtig wurde | |
> Palermo war lange von existenzieller Gewalt geprägt. Gerade deshalb | |
> entstand in der Metropole Siziliens eine der lebendigsten Musikszenen | |
> Europas. | |
Bild: Für die Presse dokumentierte Sgroi Mafiamorde, in der Freizeit fotografi… | |
Im Sizilianischen gibt es keine Futurformen. Über das Zukünftige wird | |
stattdessen im Präsens gesprochen und mit Zeitmarkierungen wie „morgen“, | |
„übermorgen“ und „nie“ versehen. Auf Sizilien ist man allerdings | |
vergleichsweise viel mit der Vergangenheit beschäftigt. | |
No Future als existenzielles Motto passt bestens zur sizilianischen | |
Hauptstadt Palermo, die etwa in den 1980er Jahren, mitten in einem der | |
blutigsten Mafiakriege, die paradoxe Mischung aus Nihilismus und | |
Änderungswillen gerade durch eine superlebendige Punkszene verkörperte. | |
Trotz Gentrifizierung und Tourismus bleibt Palermo bis heute laut, dreckig, | |
anarchisch, souverän und architektonisch verfallen. Punk war prägend für | |
die Stadt, was in dem Fotoband „Palermo 1984–1986, Early Works“ des | |
Fotografen Fabio Sgroi herausragendend dokumentiert ist. | |
Sgroi arbeitete damals für die progressive, [1][Mafia-kritische Zeitung | |
L’Ora] zusammen mit der Fotografin Letizia Battaglia. Während er mit | |
Battaglia vor allem die Tatorte der täglichen Mafiamorde in Palermo | |
dokumentierte, fokussierte er in der Freizeit auf die vitale Punk-, | |
Hardcore- und Darkwave-Subkultur der Stadt. In besetzten Häusern und | |
Kneipen hat sie ein kulturelles Gegengewicht zu der alltäglichen Gewalt | |
geboten. | |
## Die Altstadt war eine No-Go-Area | |
Dieser Kontrast war dringend nötig. In den Jahren 1980 bis 1993 gab es | |
Tausende Mafiaopfer in Palermo. Die Kurve gekriegt hin zu mehr Sicherheit | |
hat die Stadt [2][erst Mitte der 1990er Jahre] nach den Attentaten auf den | |
Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und auf Staatsanwalt Paolo Borsellino | |
und die anschließende Zerschlagung der Cosa Nostra. Diese Zeitenwende war | |
eng mit dem politischen und kulturellen Engagement gegen die Mafia | |
verbunden, das von dem langjährigen Bürgermeister Leoluca Orlando angeführt | |
wurde. 2022 beendete er nach 25 Amtsjahren (mit Unterbrechungen) seine | |
Tätigkeit. | |
In den 1980er Jahren galt Palermos Centro Storico, die Altstadt, obwohl mit | |
einer prunkvollen architektonischen Vergangenheit gesegnet, für die meisten | |
Einwohner als No-go-Area. Heute sitzt Sgroi bei einem Kaffee in der Bar | |
Kassaro, unweit des barocken Stadtzentrums Quattro Canti, und zieht | |
Parallelen zwischen der Stadt heute und einer ihrer prominentesten Fresken | |
aus dem 15. Jahrhundert: Darauf nimmt der als Skelett dargestellte Tod (die | |
Pest) mit Pfeil und Bogen Personen aus allen sozialen Schichten aufs Korn. | |
Sgroi: „Der palermitanische Triumph des Todes im Palazzo Abatellis ist für | |
mich immer noch ein treffendes Bild. Auch wenn sich hier heute viele | |
Touristen tummeln, lauert der Tod immer noch in den engen Gassen und am | |
Stadtrand.“ | |
Die Entstehung der Punkszene, erklärt Sgroi, sei eine Reaktion auf jene | |
düstere Zeit gewesen, mit Bands wie MGs und Under Trash. Die Polizei | |
reagierte sehr autoritär auf Punk, zudem gab es die mörderischen Tendenzen | |
der Mafia. „Für uns waren Punk und Darkwave lebensrettend, gerade weil sich | |
in den Stilen auch der Tod manifestierte. Wir wollten damals raus aus der | |
Stadt, inzwischen wollen alle hierher. Aber Palermo bleibt irgendwie | |
provinziell.“ | |
Der politische Geist von Punk hat sich anderswo in der Stadt bis heute | |
erhalten, besonders im Palestra Populare, einem linken Sport- und | |
Kulturzentrum auf der Via San Basilio unweit des historischen Marktes | |
Vucciria. Im Hinterhof eines Palazzos aus dem 17. Jahrhundert befindet sich | |
ein Sportsaal aus den 1930er Jahren; dort hängt die Medusa-köpfige | |
Trinacria-Flagge Siziliens neben Zitaten des US-Boxhelden Muhammed Ali und | |
von sizilianischen Unabhängigkeitskämpfern und Separatisten. | |
## Sängerin und stärkste Frau der Welt | |
Die Palestra begann ursprünglich als besetztes Haus mit dem Zweck, allen | |
Stadtbewohnern günstige Sport- und Kulturmöglichkeiten anzubieten – vor | |
allem Kampf- und Kraftsport sowie Punk, Hardcore und sizilianischer Folk | |
werden hier geboten. Es ist auch der Nachfolger des Ex Carcere, eines | |
ehemaligen besetzen Frauengefängnisses, das in den Nullerjahren zum Zentrum | |
der Hardcorepunkszene wurde. | |
Sowohl Sport als auch Musikprogramm werden von dem Ausnahmetalent Verdiana | |
Mineo mitgestaltet. Als mehrfache italienische Landesmeisterin gilt die | |
Gewichtheberin Mineo als eine der stärksten Frauen der Welt. Kraft hat sie | |
auch in ihrer Stimme, mit der sie die zeitgenössische sizilianische | |
Folkband Mavaria anführt, und zwar ausschließlich mit Songtexten auf | |
Sizilianisch. | |
Live durchdringen ihre rauen, emotionsgeladenen und arabisch-europäischen | |
Gesangsmelodien die melancholischen Balladen; viele davon stammen aus der | |
Feder der kommunistischen Folkmusiclegende Rosa Balestreri, die alte | |
Volkslieder in den 1970er Jahren notiert und aufgenommen hat. | |
„Wir machen melancholische Musik – eigentlich ist sizilianische Volksmusik | |
grundsätzlich traurig und handelt oft von den Lebensbedingungen der | |
Arbeiter, dem Land, der Armut oder von sehr düsteren Liebesabenteuern. Mein | |
Ziel ist es, nicht nur als Aktivistin, sondern auch als Athletin und | |
Sängerin soziale Ungleichheit anzuprangern und zu beseitigen. Wir wollen | |
auch die sizilianische Unabhängigkeit – aber nicht aus nationalistischem | |
Stolz, sondern, wir wollen ein sizilianisches Bewusstsein schaffen dafür, | |
um dem kapitalistischen System zu widerstehen, das uns ausbeutet.“ | |
## Partys in prächtigen Palazzi | |
Weniger politisch, aber ähnlich unabhängig agiert Palermos elektronische | |
Musikszene, die zwar in den 90er Jahren in verschiedenen besetzten Häusern | |
ihre Anfänge hatte, aber heute im Centro Storico eher in kleinen Tanzbars | |
wie Castigamatti, Botanico und Fabbrica 102 stattfindet. In Letzterem | |
veranstaltet der überregional bekannte Gravity-Graffiti-Labelgründer | |
Riccardo Schirò eine Clubnacht. Sein Label bewegt sich zwischen Ambient | |
House und melodischem Synthpop. | |
Dagegen hat sich die Meeraqui Crew entschieden, ihre Partyreihe eher in | |
prächtigen Palazzi und Gärten der Villa Tasca (bekannt aus der TV-Serie | |
„White Lotus“) abzuhalten. Ortsunabhängig ist das queere, vierköpfige | |
Fluidae Collective, das mit einem Manifest 2021 zu dem Zweck gegründet | |
wurde, Safe Spaces für queere und weiblich gelesene Personen auf Sizilien | |
zu etablieren. Es will zudem den Naturbezug der Insel in der Kunst und | |
Musik aufrechterhalten. Obwohl sie eigentlich aus Catania stammen, sind sie | |
in Palermo sehr präsent. Und das ist gut so. | |
Es mag keine Überraschung sein, dass international renommierte DJs und | |
Produzenten aus Palermo, wie der Gründer des Labels Stroboscopic Artefacts, | |
Luca Mortellaro sowie der Industrial-Produzent Nino Pedone (alias | |
Shapednoise) vor Längerem nach Berlin gezogen sind. Verblüffend ist jedoch, | |
dass beide seitdem kaum in Palermo in Erscheinung getreten sind. Mortellaro | |
kehrte vor einigen Jahren nach Palermo zurück und spielte im Februar | |
erstmals seit seiner Jugend im Club i Candelei. Pedone, der kürzlich sein | |
Album „Absurd Matter“ bei dem Festival Berlin Atonal präsentierte, hat | |
bisher nur ein einziges Mal in der Stadt aufgelegt. | |
DJ Flora Pitrolo, Gründerin des Labels A Colder Consciousness, ist darüber | |
nicht verwundert. Die 35-jährige Kulturwissenschaftlerin findet es typisch, | |
dass lokale Talente in Palermo ignoriert werden, anstatt dass sie in der | |
Stadt mit offenen Armen empfangen würden. | |
## Der Aufschwung Palermos | |
Flora Pitrolo drückt es so aus: „Bevor Santa Rosalia zur Schutzpatronin der | |
Stadt wurde, war der antike vorrömische Schutzpatron der sogenannte Genius | |
von Palermo, der gewöhnlich als Mann dargestellt wird, der eine Schlange | |
stillt – so die lateinische Inschrift auf der Statue: ‚Palermo verschlingt | |
die Seinen und füttert die Fremden.‘ So ist es auch mit dem derzeitigen | |
Aufschwung Palermos. Die Musikszene der Stadt war früher hoffnungslos | |
isoliert, heute leidet sie eher unter der starken Ausrichtung auf den | |
Tourismus. Bildende Kunst profitiert hier von privaten Gönnern und | |
Stiftungen. Eine lokale Musikszene ist darauf angewiesen, dass die Leute | |
immer wiederkommen. Aber hier ist es ein langfristiges Problem.“ | |
Wie Fabio Sgroi sieht auch Pitrolo die düsteren Seiten Palermos als einen | |
wichtigen – wenngleich manchmal übertriebenen – Aspekt des | |
Selbstverständnisses der Musikszene. Obwohl Pitrolos eigene | |
Veröffentlichungen wie etwa die Darkwave-Compilation „Novostj DsorDNE“ | |
nicht direkt von Palermo handeln, war es genau die triste und kulturell | |
abgeschottete Atmosphäre der Stadt, die ihrer Musik einen Fokus gegeben | |
hat, vor allem als junge Gothkünstlerin. | |
Heute veranstaltet sie mit DJ Nunzio Borino – einem Veteranen der Szene und | |
vielleicht Palermos allgegenwärtigster DJ – den Italo-, EBM- und | |
experimentellen elektronischen Abend „Creature“ im Club i Candelai. | |
## Folgen von Covid | |
Ebenso international und dennoch fest in der DiY-Kultur verwurzelt ist | |
Palermos experimentelle Musikszene. Lange Zeit war das Kollektiv Curva | |
Minore mit seinen Konzertreihen die treibende Kraft, obwohl Gründer Lelio | |
Gianetto 2020 leider [3][den Folgen von Covid] zum Opfer fiel. Dennoch | |
finden die von ihm begonnenen Konzerte weiterhin im Kulturzentrum Cantieri | |
Culturali alla Zisa statt. | |
Andere Akteure wie das Mainoff Festival, die Paradigma Club | |
Veranstaltungsreihe oder die Auftritte des renommierten Saxofonisten Gianni | |
Gebbia werden gleichermaßen von einem internationalen Publikum | |
wahrgenommen, genauso wie von den Einheimischen – dank unter anderem auch | |
das Netlabel Brusio, das z.B. die passend benannte Compilation „No Palermo“ | |
mit Musik der lokalen experimentellen Szene bereits 2016 veröffentlichte. | |
Die Kunstbiennale Manifesta, die 2018 in Palermo gastierte, hat den Samen | |
eines neuen Kosmopolitismus gesät. Trotzdem blieb ihre Wirkung auf die | |
heimische Kunstszene und experimentelle Musik relativ gering. | |
Wichtiger und intensiver, was die Noise-Musik-Erfahrung angeht, bleibt der | |
Vucciria, wo nachts an Wochenenden oft mindestens zwei konkurrierende | |
Soundsystems ohrenbetäubend laut Afrobeat, Reggaeton und italienische | |
Popsongs aufeinander prallen lassen. | |
Nach wie vor ist die Entwicklung Palermos und seiner Musikszene ungewiss – | |
dafür sorgen auch die konservative Regierung von Giorgia Meloni in Rom und | |
die zunehmende Gentrifizierung. So bleibt No Future weiterhin aktuell. Wie | |
im Sizilianischen: Die Vergangenheit ist in der Stadt allgegenwärtig und | |
die Zukunft im Präsens. | |
17 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alex Samuels | |
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