# taz.de -- Ex-Spotify-Programmierer Glenn McDonald: „Regulierung kann viel b… | |
> Bei Spotify hieß Glenn McDonald „Daten-Alchemist“. Dort entwickelte er | |
> Empfehlungs-Algorithmen und stellt sich eine ganz neue Musikindustrie | |
> vor. | |
Bild: Der „Daten-Alchemist“ Glenn McDonald | |
taz: Herr McDonald, in Ihrem Buch „You Have Not Yet Heard Your Favourite | |
Song“ sind sie sehr optimistisch und sagen: Musik und im Besonderen ihre | |
Globalisierung [1][durch das Streaming] kann die Welt verbessern. Wie das? | |
Glenn McDonald: [2][Musik kann] die intellektuelle Angst vor Fremdem | |
überbrücken, weil sie die Sinne anspricht. Man mag denken: Ich weiß nicht, | |
wie Menschen auf den Seychellen drauf sind. Bestimmt könnte ich sie niemals | |
verstehen. Aber dann hört man ihre Musik und stellt fest: Das ist zwar ein | |
bisschen anders als die Musik, die ich kenne, aber es gibt einen Rhythmus | |
und es wird gesungen. Vielleicht sind diese Menschen gar nicht so anders. | |
Ich glaube, Musik kann ein Grundverständnis etablieren. | |
Sie haben viele der Algorithmen entwickelt, die uns [3][bei Spotify] Musik | |
empfehlen. Neigt ein Rechenvorgang, dessen Ergebnisse gefallen sollen, | |
nicht automatisch zu gefälliger Musik? | |
Ein Algorithmus selbst hat keinerlei Neigungen oder Absichten. Algorithmen | |
sind nur Leistungsverstärker für die Programmierer und deren Absichten. Man | |
könnte auch einen Algorithmus schreiben, der versucht, Hörer*innen zu | |
überraschen. Ob das von den Hörer*innen angenommen würde, hätte aber | |
viel damit zu tun, wie man die Ergebnisse präsentiert. Die meisten | |
Streaminganbieter machen wenig, um ihre Empfehlungen zu kontextualisieren. | |
Deshalb bleiben sie lieber bei den bekannten und bequemen Sachen. Da muss | |
man nicht viel erklären. | |
Sollten die Streaminganbieter ihren Nutzer*innen besser erklären, was | |
unter der Benutzeroberfläche passiert? | |
Demut ist immer eine gute Eigenschaft, wenn man Menschen Computerprozesse | |
vorsetzt. Diese Algorithmen sind sehr leistungsfähig, aber auch sehr | |
fehlbar. Sie basieren ja auf Daten über menschliches Hörverhalten, und es | |
kann alle möglichen Gründe dafür geben, dass ein Mensch sich einen Song | |
angehört hat. Aber Demut ist in den Marketingabteilungen nicht beliebt. | |
Wenn man den Marketingsprech in die Realität übersetzt, müsste über | |
Spotifys Playlisten eigentlich so etwas stehen wie: Dies ist ein | |
fehleranfälliger Versuch, Songs zu finden, die du noch nicht kennst und die | |
dir gefallen. Beides könnte falsch sein: Du könntest den Song schon kennen | |
und er könnte dir nicht gefallen. | |
2019 hat die Countrysängerin Martina McBride eine Countryplaylist erstellt | |
und eine Spotify-Funktion schlug daraufhin weitere Songs vor – nur von | |
Männern. Erst der 136. Vorschlag des Algorithmus war der Song einer Frau. | |
Hat Spotify ein Interesse daran, in solchen Fällen einzugreifen? | |
Spotify geht einen Mittelweg, was knifflig ist. Es gibt Redakteur*innen, | |
die solche Ungleichgewichte adressieren sollen. Man kann die Algorithmen | |
mit deren Input füttern. Dann arbeiten sie nicht mehr allein mit dem Faktor | |
der Beliebtheit. Das funktioniert nun wahrscheinlich für Country ganz gut, | |
aber es gibt nur wenige Redakteur*innen gemessen an den vielen | |
Musikgenres der Welt. Jemanden anzustellen, der bei Country diese | |
Korrekturen vornimmt, ist wirtschaftlich. Im Fall von HipHop von den | |
Seychellen ist es das nicht. Ein Großteil der Musik der Welt ist also immer | |
noch sich selbst überlassen. | |
Spotify wird oft dafür verantwortlich gemacht, dass viele Musiker*innen | |
wenig Geld verdienen und die Industrie ihren Fokus von aufgenommener Musik | |
hin zum Konzertgeschäft verschieben musste. Wer ist Ihrer Meinung nach | |
Schuld? | |
Die Daten des US-Industrieverbands RIAA zeigen, dass die Musikindustrie die | |
Umsatzzahlen der CD-Ära bereits wieder eingeholt hat. Das ist gut. Die Zeit | |
der Piraterie hat die Industrie nicht zerstört. Aber die Anzahl der | |
Künstler*innen, auf die das Geld verteilt wird, ist jetzt sehr viel größer. | |
In der CD-Ära hatte man keine Chance, Karriere zu machen, wenn man nicht | |
bei einem großen Label unter Vertrag stand und im Radio gespielt wurde. Das | |
ist immer noch schwer, aber es gibt jetzt einige Ausnahmen. Man kann | |
hoffen. Ich habe auch Musik auf Spotify. Ich habe damit bisher 4 Dollar | |
verdient. Wahrscheinlich werde ich nie davon leben können. Aber es gibt | |
keinen mechanischen Grund, warum es nicht möglich ist. Meine Songs sind am | |
selben Ort wie die von Ed Sheeran und Taylor Swift. | |
Der Grund für die geringen Tantiemen bei Spotify ist Ihrer Meinung nach | |
also, dass dort so viele Musiker*innen mitspielen dürfen? | |
Das Niveau der CD-Ära zu erreichen, ist nicht ausreichend. Denn eine | |
Industrie, die mehr Künstler*innen unterhält, muss eigentlich auch um | |
den selben Faktor größer sein. Und das ist sie noch lange nicht. Über die | |
Verteilungsprinzipien von Spotify zu diskutieren, ist aber der falsche | |
Ansatz. Wir müssen etwas grundsätzlich anders machen. Taylor Swift und Ed | |
Sheeran sind reich, aber nicht reich genug. Selbst wenn wir all ihr Geld | |
umverteilen, könnten wir nicht alle Künstler*innen bei Spotify | |
angemessen bezahlen. | |
Am Ende Ihres Buchs machen Sie Vorschläge für eine bessere Musikindustrie, | |
in der zum Beispiel transparenter ist, wie die Algorithmen unser Hören | |
beeinflussen. Strategisch gefragt: An wen sollten wir denn solche Ideen | |
herantragen, um etwas zu verändern? | |
Regulierung kann sehr viel bewirken. In den USA ist kürzlich etwas | |
Interessantes passiert. Seit Anfang des Jahres will Spotify erst ab 1.000 | |
Aufrufen für einen Song Geld ausbezahlen. Für die Interpreten ist das | |
möglich: Deren Tantiemen sind durch private Verträge geregelt. Auf der | |
Seite der Songwriter ist es aber nicht möglich, denn deren Tantiemen sind | |
in den USA gesetzlich geregelt. Das finde ich sehr aufschlussreich. Wenn | |
auch die Tantiemen der Interpreten gesetzlich geregelt wären, wäre nichts | |
passiert. Die Streaming-Industrie ist groß und die Major-Labels sind ein | |
sehr symbiotischer Machtapparat. Es ist unwahrscheinlich, dass die große | |
soziale Revolution innerhalb dieser Strukturen passieren wird. Seitdem ich | |
nicht mehr für Spotify arbeite, habe ich jedoch viel mit kleinen Start-ups | |
gesprochen, die sich einzelne Teile der Musikindustrie ansehen und sagen: | |
Das ist kaputt. Wie können wir es reparieren und es ethischer und | |
prinzipienfester machen? Die meisten von ihnen werden scheitern. Die | |
meisten Start-ups scheitern. Selbst die, die scheitern, können vielleicht | |
kleine Brüche im System hinterlassen. Fortschritt passiert, wenn man den | |
Kurs großer Schiffe leicht korrigiert, und den kleiner Schiffe stark. | |
4 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Mathis Raabe | |
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