# taz.de -- Kampf gegen Cosa Nostra: Antimafia macht Schule | |
> Seit mehr als 30 Jahren kämpft der Staat in Sizilien gegen die Mafia. In | |
> Palermo setzt eine Schulleiterin auf Bildung als Gegengift. | |
Bild: Sie senkte die Schulverweigererquote auf unter 1 Prozent. Direktorin Anto… | |
Palermo ist hier nicht angekommen.“ Antonella Di Bartolo steht an einem | |
sonnigen Januartag am Strand von Sperone und blickt auf den ins Meer | |
mündenden Fluss Oreto. Das Zentrum der [1][sizilianischen Hauptstadt | |
Palermo] ist nur eine Autoviertelstunde entfernt, doch vom Metropolenleben | |
ist hier wenig zu spüren. Der Fluss markiert für Di Bartolo die Grenze | |
zwischen einer boomenden Großstadt voll mit Unesco-Weltkulturerbe, | |
Tourismus, Street Food und Nachtleben – und der Lage, wie sie sich hier am | |
südöstlichen Stadtrand darstellt: Vor uns ein wunderschönes Meer, in dem | |
man nicht baden darf, weil die Kanalisation leckt, unter uns ein toxisches | |
Kies-Sand-Gemisch, eine Deponie für Bauschutt aus den 1960er Jahren. | |
Di Bartolo ist gelernte Englischlehrerin, eine quirlige Frau von 54 Jahren | |
und seit gut zehn Jahren Direktorin der nahegelegenen staatlichen | |
Gesamtschule Sperone-Pertini. In der Sperone-Pertini befinden sich | |
Kindergarten, Grundschule und Sekundarschule unter einem Dach. Kinder und | |
Jugendliche zwischen 3 und 14 Jahren besuchen die Schule, die sieben | |
Dependancen in zwei Stadtteilen hat. | |
Mit ihrer engagierten Interpretation der Rolle einer Schuldirektorin in | |
einem vernachlässigten Viertel hat Di Bartolo Preise gewonnen. Sie wird auf | |
Kongresse eingeladen, hat es zu medialer Berühmtheit gebracht. Und sie hat | |
es geschafft, die Quote der Schulverweigerer:innen in ihrer | |
Einrichtung von über 25 Prozent der Schulpflichtigen auf unter 1 Prozent zu | |
drücken. | |
Der Stadtteil Sperone, wo Di Bartolo ihrer in Italien ausschließlich | |
administrativ angelegten Beschäftigung nachgeht, ist von der Nähe zum | |
Mafiaviertel Brancaccio geprägt. Der Sperone ist der Teil, der ans Meer | |
grenzt. Im Einzugsgebiet der Schule leben mehr als 50.000 Menschen, | |
insgesamt hat Palermo etwa 670.000 Einwohner:innen. | |
In Brancaccio hatten immer die Mafiabosse das Sagen. In den 1980er Jahren | |
kämpften sie um Einflusszonen, in den 1990er Jahren erklärten sie dem Staat | |
den Krieg. Sie sind verantwortlich für grausame Taten wie den Mord an | |
[2][dem Antimafiapriester Padre Puglisi] im Jahr 1993. Er wurde für die | |
Mafia in ihrem Viertel zur unmittelbaren Bedrohung, weil er ihnen mit | |
seiner Jugendarbeit den Nachwuchs abspenstig machte. | |
Im Sperone, sagt Di Bartolo, stünden nachts aber immer noch alle fünf Meter | |
die Dealer, in Brancaccio sei es vergleichsweise ruhig. Ihre Schule ist in | |
jüngerer Zeit Ziel von Attacken geworden. Höhepunkt war ein Einbruch im Mai | |
vergangenen Jahres, als Unbekannte in eine (nach Padre Puglisi benannte) | |
Zweigstelle der Schule eindrangen, sie verwüsteten und prominent in der | |
Aula platziert eine Crackpfeife hinterließen. | |
Di Bartolo interpretiert das als Botschaft: „Eine Verächtlichmachung des | |
Lebens an dem Ort des Lebens schlechthin, der Schule“, sagte sie damals der | |
Zeitung Giornale di Sicilia. Im aktuellen Semesterbericht der Zentralen | |
italienischen Antimafiabehörde DIA (von 2022) heißt es: „Die Kontrolle des | |
Stadtgebiets durch die Cosa Nostra ist engmaschig“. | |
Als Di Bartolo sich 2013 um das Amt als Schulleiterin („preside“) bewarb | |
und den Zuschlag bekam, kannte sie die Gegend nicht, verlor sich in den | |
Straßen. Sie hatte zuvor 17 Jahre als Lehrerin gearbeitet, an 11 | |
verschiedenen Schulen, zuletzt an gutbürgerlichen Gymnasien im Zentrum. | |
„Als Schulleiterin kann ich Einfluss nehmen, sozial und politisch. Am | |
liebsten mag ich es, wenn man mich Antonella nennt, aber ‚preside‘, also | |
‚Vorsitzende‘, Repräsentantin des Staates mag ich auch: Weil es hier sonst | |
nicht viele Personen gibt, die den Staat repräsentieren.“ | |
Anfangs sei es schwer gewesen sich zurechtzufinden. „Die Straßen, die zum | |
Meer führten, waren gesperrt – nicht von den Behörden, sondern von denen, | |
die das hier als ihr Territorium betrachten, die bei ihren Geschäften nicht | |
gestört werden wollen.“ Heute sei die Zusammenarbeit mit den | |
Ordnungskräften sehr eng. Aber Polizei und Carabinieri – die einen | |
unterstehen dem Innenministerium, die anderen dem Verteidigungsministerium | |
– gingen nur gegen Straftäter vor, sie änderten nichts an den | |
Verhältnissen. | |
## Viele ihrer Schüler:innen sind Kinder von Dealer:innen | |
„Die Kinder lernen die Ordnungskräfte nur als diejenigen kennen, die ihre | |
Väter oder Mütter verhaften“, sagt Di Bartolo. Viele ihrer Schüler:innen | |
sind Kinder von Dealer:innen. Die Mütter könnten sich nicht um sie kümmern, | |
weil sie wegen Drogenhandel unter Hausarrest stehen und die Männer im | |
Gefängnis sind. Das führt dazu, dass Di Bartolo schon mal sonntags zu den | |
Kindern nach Hause fährt, um sie zu Sportwettkämpfen zu bringen. | |
Was sie tue, sei keine Heldentat, sondern ist für sie schlicht die Aufgabe | |
von Schule: „Wenn du an einem Gymnasium unterrichtest, ist es etwas | |
anderes: Du machst deine Arbeit und weißt, dass sich die Familie um den | |
Rest kümmert. Hier nicht. Die Familien schaffen das nicht. Sie wissen oft | |
nicht, wie man überhaupt nach Hilfe fragt.“ | |
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts galt Palermo als globale | |
Hauptstadt des [3][Organisierten Verbrechens]. Unter allen mafiösen | |
Organisationen Italiens war die Cosa Nostra („Unsere Sache“) führend. Sie | |
war reich und mächtig, verfügte über internationale Kontakte, beherrschte | |
den Heroinhandel und den Bausektor. Dabei war sie kein lockeres Bündnis von | |
kriminellen Banden, sondern eine streng hierarchisch aufgebaute | |
Organisation, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Sizilien | |
bestimmte. | |
## Wie ist die Situation heute in Palermo? | |
Gerade ist Roberto Savianos Roman „Falcone“ über den 1992 von der Mafia | |
ermordeten Juristen Giovanni Falcone auf Deutsch erschienen. Falcone war | |
die zentrale Figur im Antimafiakampf in Italien. Seine Ermittlungen führten | |
1986/87 zum sogenannten „Maxiprozess“ gegen die Cosa Nostra, am Ende | |
standen 300 Verurteilungen. Saviano schreibt über Falcone, dieser habe „ein | |
soziales Getriebe, das seit Jahrhunderten verrostet stillstand, wieder in | |
Gang gesetzt.“ | |
Die Frage, der wir bei unserem Besuch in Palermo nachgehen wollen, ist, wie | |
dieses soziale Gefüge sich heute präsentiert, ob der Wandel Wurzeln | |
geschlagen hat oder die Gesellschaft noch immer unter einer ständigen | |
Bedrohung lebt. | |
Die Haltung des zuständigen Beamten dazu ist uneindeutig. Der Leiter der | |
Staatsanwaltschaft von Palermo, Maurizio de Lucia, wird im Bericht der DIA | |
mit folgenden Worten zitiert: „Objektiv betrachtet befindet sich die Cosa | |
Nostra in einer äußerst schwierigen Position. Aber es wäre völlig verfehlt | |
zu sagen, dass sie besiegt ist.“ | |
Diese Analyse ergebe sich nicht zuletzt aus den Ermittlungen, die am 16. | |
Januar 2023 zur Festnahme von Matteo Messina Denaro führten. Messina Denaro | |
war der letzte der flüchtigen Bosse, die unmittelbar für das Attentat auf | |
Giovanni Falcone am 23. Mai 1992 und für andere Terrorakte verantwortlich | |
waren. Die Festnahme wird zu Recht als wichtiger Erfolg im Kampf gegen das | |
Organisierte Verbrechen gefeiert – die Kehrseite der Medaille aber ist: | |
über 30 Jahre lang verfügte der seit 1993 untergetauchte Boss über ein | |
Netzwerk, das ihn beschützte. | |
Der 23. Mai 1992 ist einer der Wendepunkte in der italienischen Geschichte. | |
An diesem Tag wurde Giovanni Falcone auf der A29 bei Capaci von einem | |
Terrorkommando der Cosa Nostra ermordet. Falcone war damals auf dem Weg vom | |
Flughafen in die Innenstadt Palermos; heute trägt der Flughafen seinen | |
Namen. Bei dem Sprengstoffanschlag mit 400 Kilogramm TNT starben auch seine | |
Frau und drei Leibwächter der Eskorte. Die Hälfte des Sprengstoffs wurde | |
von dem Boss der Mafiafamilie im Stadtteil Brancaccio besorgt. | |
Zum ersten Mal seit seiner Gründung 1859 entschied sich der italienische | |
Nationalstaat daraufhin, der mächtigsten Mafiaorganisation auf seinem | |
Territorium, der Cosa Nostra, den Krieg zu erklären. Und er gewann diesen | |
Krieg – zumindest dann, wenn man ihn als eine Auseinandersetzung zwischen | |
zwei Organisationen, dem Staat Italien und dem Antistaat Cosa Nostra | |
begreift. Falcone hatte dies vorausgesagt und erklärt, die staatlichen | |
Ressourcen seien der Institution Mafia überlegen. | |
Dem Antimafia-Pool rund um Giovanni Falcone war es dank des innovativen, | |
inzwischen für alle Verfahren des Organisierten Verbrechens sprichwörtlich | |
gewordenen Ermittlungsprinzips „Follow the money“ gelungen, die | |
Vermögenswerte der Cosa Nostra zu attackieren. Deswegen und wegen der | |
streng isolierenden Haftbedingungen für ihre Bosse („carcere duro“, | |
deutsch: Hartes Gefängnis) attackierte die Mafia die Ermittler und verübte | |
1993 terroristische Bombenanschläge in Florenz, Mailand und Rom. | |
Zehn Menschen wurden ermordet, darunter zwei Kinder. Doch nicht der gesamte | |
Staatsapparat unterstützte Falcones Engagement: einige politische Player | |
sabotierten es gar, denn sie profitierten durch den Stimmenkauf von der | |
Cosa Nostra. | |
Maurizio de Lucia hat Falcone als junger Staatsanwalt selbst noch | |
kennengelernt, er hat auch die Ermittlungen gegen Messina Denaro geleitet. | |
De Lucia sitzt an einem Samstagvormittag im Januar leger in Stickjacke in | |
seinem Büro im beeindruckenden Justizpalast von Palermo. Der gebürtige | |
Neapolitaner ist eine faszinierende Mischung aus fast schon preußischer | |
Kurzangebundenheit und mediterraner Ironie. | |
Die aktuelle Verfassung der sizilianischen Mafia beschreibt er so: Dank der | |
Arbeit des Staates erlebe die Cosa Nostra einen Moment der Schwäche, es | |
gebe keine strategische Ausrichtung mehr. Um wieder stark zu werden und | |
ihren korrumpierenden Einfluss ausüben zu können, bräuchte sie vor allem | |
eines: Geld. „Und das“, so De Lucia nüchtern, „haben sie nicht, relativ | |
gesehen natürlich, denn die Beschlagnahmung ihrer Vermögenswerte der | |
vergangenen 30 Jahre war sehr wichtig. Wie kommen sie illegal und schnell | |
zu viel Geld? Mit Drogenhandel.“ | |
Die Drogen, wie in allen westlichen Metropolen zunehmend Crack, sind also | |
Mittel zum Zweck, bringen eine Art Startkapital für die neu versuchte | |
strategische Ausrichtung. | |
Die sizilanische Mafia habe immer versucht, möglichst weit in die | |
Bürgerschaft und die politische Klasse hineinzuwirken, erklärt De Lucia: | |
„Die Cosa Nostra hat ihre Kräfte immer jenem Teil der Gesellschaft zur | |
Verfügung gestellt, der die Illegalität den Regeln des Rechtsstaates | |
vorzieht: der mafiösen Bourgeoisie. Charakteristisch für die Cosa Nostra | |
sind die Kommunikationskanäle zwischen der Mafiaorganisation einerseits und | |
einem wichtigen Teil der politisch-administrativen Klasse in Sizilien | |
andererseits, insbesondere in Palermo. Dieser Austausch hat es der | |
Organisation ermöglicht, sich zu einem politischen Player zu entwickeln.“ | |
Am 23. Mai des vergangenen Jahres hat es De Lucia vorgezogen, nicht | |
zusammen mit den Autoritäten von Staat und Stadt den Gedenkfeierlichkeiten | |
beizuwohnen, sondern im Publikum. Es sei eine bewusste Wahl gewesen, kein | |
Zufall – er wollte unten bei den Menschen sein, nicht oben auf der | |
offiziellen Bühne. | |
Auch für Antonella Di Bartolo hat der 23. Mai eine besondere Bedeutung. Sie | |
sei kein Fan von Ritualen. Dass aber an Schulen in Palermo, an denen sie | |
unterrichtet habe, dieser entscheidende Tag als normaler Unterrichtstag | |
begangen worden sei, habe sie empört.„Das geht nicht, das kann ich als | |
Palermitanerin nicht akzeptieren. Ich erinnere mich genau an den Mafiakrieg | |
der 1980er Jahre. Ich habe mit meinem Vater jeden Tag ‚L’ora‘ gekauft.“ | |
L’ora war die damals berühmteste Antimafia-Zeitung. In ihr war zu lesen, | |
was wirklich in Palermo vorging. Inzwischen hat es die Gazette gar zu einer | |
eigenen Sky-Serie gebracht („L’Ora – Worte gegen Waffen“). In L’ora s… | |
Bartolo damals die Fotos der Ermordeten. Sie wollte daraufhin selbst | |
zunächst Journalistin werden: „Als Kind dachte ich, das würde ich auch gern | |
machen, solche Artikel über Verbrechen schreiben. Doch dann wurde das | |
Gemetzel einfach nur ekelhaft.“ | |
Als sie die Prüfung als Direktorin bestanden hatte, konnte Di Bartolo | |
zwischen verschiedenen Schulen wählen. Der Sperone war ihr nur vom Namen | |
her vertraut. Obwohl sie in Palermo geboren und aufgewachsen ist, hatte sie | |
zuvor nie einen Fuß in das Viertel gesetzt. „Als ich den Vertrag für die | |
Schule unterschrieben habe, sagte der Beamte zu mir: ‚Mein Beileid‘. Dann | |
habe ich mich mit dem scheidenden Schulleiter im Hauptsitz der Schule | |
verabredet. Und es war eine Katastrophe.“ | |
Sie erzählt, in welchem Zustand sie die Schule vorfand: Kein Fenster, das | |
nicht kaputt war. Schultoiletten ohne Türen. Löcher in den Wänden zwischen | |
den Klassen. Ein verwilderter Garten. Auf dem Flachdach hätten Leute ein | |
Lagerfeuer gemacht. „Es war wie am Set für einen Kriegsfilm.“ | |
Mit dem scheidenden Direktor ging Di Bartolo Dokumente und Bücher der | |
Schule durch. Sie stießen auf zahlreiche geförderte Projekte, die auf Eis | |
lagen. Die meisten Lehrer hatten sich versetzen lassen. „All das hatte | |
nichts mit den Schulen zu tun, die ich kannte, als Schülerin oder als | |
Lehrerin. Und ich habe meine Wahl sofort bereut.“ Zwei Wochen lang hätte | |
sie überlegt, wie sie aus dieser Sache bloß wieder raus komme. „Ich war 43 | |
Jahre alt und hatte keine Erfahrung.“ | |
Inzwischen haben wir das Meer hinter uns gelassen, sind in ihrem kleinen | |
Auto ins Viertel Brancaccio hineingefahren. Wir halten zwischen Wohnblöcken | |
aus den 1960er Jahren. Di Bartolo geht zu einem Hauseingang, vor dem ein | |
überdachtes Denkmal mit einer Statue eines Priesters steht: dem von der | |
Mafia 1993 ermordeten Stadtteilpfarrer Padre Pino Puglisi. Diesen Ort habe | |
sie immer mal wieder aufgesucht. „Vor allem, wenn ich verzweifelt war.“ | |
Dann erzählt sie: Am Tag seines 56. Geburtstags, am 15. September 1993, | |
habe der Pater die Tür zu seinem Wohnblock aufgeschlossen, als ihn zwei | |
Männer ansprechen: „Patri“, sizilianisch für Padre. Puglisi wendet sich | |
ihnen zu, lächelt und sagt: „Damit habe ich schon gerechnet.“ Dann schieß… | |
sie ihm ins Genick. | |
Die Umstände, so Di Bartolo, kenne man so genau, weil einer der Mörder | |
später mit der Justiz zusammenarbeitete, eben weil er so beeindruckt | |
gewesen sei vom Verhalten des Priesters, der mit seiner karitativen Arbeit | |
die Machtverhältnisse im Viertel in Frage gestellt habe. Die Menschen seien | |
zu Puglisi gekommen, wenn sie etwas brauchten – nicht zur Mafia. Während | |
sie erzählt, wie sich die Schule entwickelt hat, wirft sie immer mal einen | |
Blick auf ihr Auto. Auf den Balkonen ringsum stehen Leute und rauchen oder | |
hängen Wäsche auf. Eine ältere Frau bekreuzigt sich vor der Statue von | |
Puglisi. | |
Als Di Bartolo ihren Dienst im Sperone antritt, lässt die zuständige | |
Referentin aus dem Stadtrat sie zu sich kommen. „Was machen wir mit der | |
Sperone-Pertini? Schließen wir sie oder wie?“, fragt sie. Di Bartolo hätte | |
davon keine Nachteile, man würde sie sogar befördern. | |
Befördern? Fürs Scheitern? | |
Diese Worte hätten ihren Stolz geweckt. „Ich habe zu ihr gesagt: das geht | |
nicht, dass wir ausgerechnet in diesem Viertel eine Schule schließen!“ Wenn | |
die Schule nicht funktioniere, müsse man sie eben neu gründen, und zwar von | |
der Kita an. Daraus, so die Hoffnung Di Bartolos, könne ein Kreislauf | |
entstehen: Eltern und Schüler, die gute Erfahrung gemacht hätten im | |
Kindergarten, meldeten ihre Kinder auch für die Grundschule an, bis hin zur | |
weiterführenden Schule. | |
## Ein Kitaplatz hat Auswirkungen auf die soziale Realität | |
Aber noch gab es gar keine Anmeldungen für die Kita. „Das lag aber nicht | |
daran, dass es kein Bedürfnis nach Plätzen gäbe – die Leute wussten einfach | |
nicht, dass sie einen Anspruch darauf haben.“ Di Bartolos Vision: Eine | |
Schulkarriere sollte im Sperone etwas Normales werden. Sie wollte bei denen | |
anfangen, die sie täglich sah: den vielen Kindern, die auf der Straße | |
spielten. „Dann knüpfen wir ein Band mit den Müttern, die hier keine | |
Betreuungsmöglichkeit für Kinder unter drei Jahren haben.“ | |
Nur wenn Frauen die Möglichkeit hätten, ihre Kinder betreuen zu lassen, | |
könnten sie auch ökonomisch auf eigenen Beinen stehen – und ihren Partner | |
verlassen, wenn er kriminell oder gewalttätig sei. „So verändern wir | |
tatsächlich die soziale Realität. Die Realität der Geschlechterverhältnisse | |
und die der Gewalt“, sagt Di Bartolo. | |
An diesem Punkt kommt sie auf ihre eigenen Kinder zu sprechen, die damals | |
vor zehn Jahren 9 und 12 Jahre alt waren. Sie erwähnt sie, weil sich von | |
dem Moment, da sie wirklich in Sperone-Pertini einstieg, ihr Leben | |
schlagartig veränderte. Ihre Kinder litten, ihr Mann sei wütend auf sie | |
gewesen. Er habe gesagt: ‚Du bist nicht mehr die Frau, die ich geheiratet | |
habe.‘ „Und er hatte recht. Ich war jetzt erst die geworden, die ich | |
eigentlich sein wollte. Fokussiert und entschlossen.“ | |
Dies ist in unserem gut dreistündigen Zusammensein auch der einzige Moment, | |
wo sie auf die Bedrohung durch die Mafia zu sprechen kommt. Aber nur | |
indirekt. Als wir fragen, ob das, was ihr zugestoßen sei und worüber sie | |
nicht reden möchte, auch hier und jetzt geschehen könne, sagt sie sofort: | |
„Sicher, auf jeden Fall. Sie bekommen alles mit.“ | |
„Werden wir jetzt gerade beobachtet?“ | |
„Das ist möglich, ja. Aber über die negativen Dinge rede ich nicht. Ich bin | |
jetzt hier. Und hier bin ich richtig.“ Kurz darauf stellt sie sich so hin, | |
dass sie die Straße im Blick hat – und sagt beinahe entschuldigend: „Hier | |
haben sie mir vor drei Jahren mein Telefon aus der Hand gerissen.“ | |
## Erst vor Kurzem gab es wieder eine Schießerei in Sperone | |
Ihre mediale Präsenz schütze sie nicht, ganz im Gegenteil: „Ich habe immer | |
versucht, nicht ins Scheinwerferlicht zu kommen. Wenn du ein Symbol wirst, | |
werden sie dich niedermachen.“ Viele würden nur vorgeben, die Mafia zu | |
bekämpfen; nicht selten habe sich die Antimafia in der Geschichte Siziliens | |
als mafiöser erwiesen als die Mafia selbst. Doch wenn man es wirklich ernst | |
meine mit dem Kampf gegen die Mafia – wie Padre Puglisi, wie sie selbst – | |
werde man zur Zielscheibe. „Ein Leben ist hier in Brancaccio 1.500 Euro | |
wert“, sagt sie. Ob diese Zahl realistisch ist, können wir nicht sagen. | |
Maurizio de Lucia sagt, Personal für Gewalttaten zu rekrutieren sei bis | |
heute kein Problem für die Mafia. Entscheidend sei vielmehr, dass die Mafia | |
erlebt habe, dass spektakuläre Gewalt sie in den Fokus der Ermittlungen | |
rücke. Die „militärische Macht“ sei aber weiterhin der zentrale Punkt, mit | |
dem man rechnen müsse. | |
Erst am Montag dieser Woche ist es im Sperone wieder zu einer Schießerei | |
gekommen. Ein Mann wurde getötet, ein anderer schwer verletzt. Ermittlungen | |
der Staatsanwaltschaft zufolge ging es um einen Streit über den Markt mit | |
illegalem Glücksspiel. Der Ermordete gehörte zu einem Clan, der auch an der | |
Ermordung von Padre Puglisi beteiligt war. | |
Die Tat und die Ermittlungen zeigen zweierlei: Einerseits wissen die | |
Behörden viel über die Zusammenhänge im Viertel, sonst könnten die | |
Hintergründe einer solchen Tat nicht so schnell ausgeleuchtet werden. | |
Andererseits: geschossen und gemordet wird auch weiterhin. In den | |
Presseberichten schwingt dabei ein alarmierter Ton mit, der ohne den Bezug | |
auf die spezifische Mafiageschichte Palermos kaum nachvollziehbar wäre. | |
Solange die Verhältnisse prekär seien, biete die Mafia weiterhin ein | |
attraktives Beschäftigungsmodell für junge Menschen, meint Di Bartolo. „Und | |
das macht mich wütend: Ich habe so viele Razzien erlebt. Die Leute werden | |
verhaftet, am nächsten Tag sind die Verkaufsstellen alle wieder besetzt – | |
von anderen Leuten.“ Die Jugendlichen in Gesprächen aufzuklären, sie zu | |
bitten nicht kriminell zu werden, reiche nicht aus. „Ihnen müssen | |
Alternativen aufgezeigt werden. Wenn Kinder ihre Eltern nie etwas anderes | |
haben machen sehen als Drogen zu verkaufen, dann gibt es gar keine | |
Vorstellungswelt, sich als jemand anderen zu sehen.“ | |
Das Geschäft werfe immer noch genug ab für die Familien, ein Dealer | |
verdiene im Sperone 100 Euro am Tag, einer, der aufpasse 70 Euro. „Schon | |
als Dealer ist man Teil des Systems, auch an diesem Geld klebt Blut. | |
Deswegen ist es sehr gefährlich, das mafiöse System zu verharmlosen.“ | |
Wobei genau das an einem sonnigen Vormittag nahe liegt: Das Denkmal für | |
Padre Puglisi ist gepflegt, Blumen stehen drumherum, keine Graffiti, kein | |
Müll – als wollten die Mafiosi sagen: amüsiert euch nur mit eurem Helden, | |
das stört uns überhaupt nicht. „Allein mit dem Drogenhandel“, sagt Di | |
Bartolo, „verdient die Mafia zwei Millionen im Jahr.“ | |
## Die Mafia hat einen Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro | |
Im Bericht der DIA ist entsprechend von einer „Regie“ seitens der Cosa | |
Nostra der über die Stadt verteilten Drogenumschlagplätze die Rede. | |
Allerdings steht im DIA-Bericht nicht mehr Sizilien, sondern die | |
Nachbarregion Kalabrien mit ihrer Mafia 'Ndrangheta an erster Stelle. Sie | |
ist inzwischen zum wesentlichen Player im internationalen Drogenbusiness | |
geworden, die Cosa Nostra ist bei ihr Kunde. Aber kein ganz schwacher. Nach | |
Zahlen aus dem Jahr 2023 generiert [4][die Mafia] in Italien einen Umsatz | |
von jährlich 40 Milliarden Euro. Damit erwirtschaftet sie zwei Prozent des | |
italienischen Bruttoinlandsprodukt. | |
Wer der Mafia den Nachwuchs kappen will, muss Bildung bieten, so früh wie | |
möglich. Di Bartolo erzählt, sie habe sich seinerzeit mit der | |
Schulreferentin auf 50 Anmeldungen für die Kita geeinigt – wenn sie die | |
innerhalb eines Monats heranschaffte, würde die Schule offen bleiben und | |
die Instandsetzung beginnen. „Wir sind von Tür zu Tür gegangen, haben in | |
der Apotheke, in der Metzgerei, in der Bäckerei und im Schreibwarenladen | |
die Anmeldeformulare ausgelegt, haben Zettel verteilt, sie an den Bus- und | |
Tramstationen aufgehängt. Der Enkel vom Bäcker war das erste Kind, das | |
angemeldet wurde. Neun Monate später wurde die Kita eröffnet.“ | |
Die Institutionen hielten also einerseits ihr Wort; anderseits habe man ihr | |
Engagement auch mit Misstrauen beobachtet. Warum tut sie das alles? Warum | |
exponiert sie sich so? Und für wen? Aus ideologischen Gründen? Als | |
Sprungbrett gar für eine politische Karriere? | |
Auch wenn keine Wahl vergehe, vor der sie nicht angesprochen werde, ob sie | |
nicht doch kandidieren wolle – und zwar quer durch alle politischen | |
Parteien – sei ihre Motivation eine andere. Sie zitiert Artikel 54 der | |
italienischen Verfassung: „Bürger, die mit öffentlichen Aufgaben betraut | |
sind, haben die Pflicht, diese mit Disziplin und Ehre zu erfüllen.“ | |
Di Bartolo ist ein Beispiel für eine Staatsdienerin, die an der Basis für | |
diese Werte einsteht. Doch wie sieht es an der Spitze der Stadt aus? | |
Wir treffen Palermos Bürgermeister Roberto Lagalla in seinem provisorischen | |
Amtssitz im Palazzo Palagonia (das eigentliche Rathaus ist gerade wegen | |
Renovierung geschlossen). Lagalla war Universitätspräsident in Sizilien und | |
Gesundheitsminister der Region, er ist mit Positionen, Risiken und | |
Insignien der Macht vertraut. Der 68-Jährige ist eine eindrucksvolle | |
Erscheinung mit sonorer Stimme und Zigarre. | |
Den Tag der Verhaftung von [5][Matteo Messina Denaro] nennt er einen „Tag | |
der Befreiung“, auch wenn das Verhältnis der Stadt zur Mafia schon zuvor | |
eine deutlich andere Dimension angenommen habe als zu Zeiten des Terrors in | |
den 1990er Jahren. Dennoch sei die Mafia nicht weg, sie versuche sich in | |
den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschmuggeln und sei als „Mafiosità“ | |
kulturell in der palermitanischen Gesellschaft weiterhin verankert. | |
Lagalla genießt durchaus Wertschätzung in seinem Umfeld und in der | |
Bevölkerung – doch unumstritten ist er in Palermo nicht. Denn der | |
Mitte-Rechts Politiker hat seit seiner erfolgreichen Wahlkampagne 2022 mit | |
Vorwürfen zu kämpfen, sich nicht genügend von eben jener mafiösen | |
Bourgeoisie zu distanzieren, die Palermo in den Abgrund geführt hat. | |
Solche Vorwürfe sind insofern nicht fair, als sein Vorgänger im Amt, | |
Leoluca Orlando, ein, wenn nicht der Mythos des Kampfes gegen die Mafia | |
ist. Ohne den langjährigen Bürgermeister Orlando gäbe es das moderne, auch | |
für Geflüchtete gastfreundliche, vom Alptraum der übermächtigen | |
Organisierten Kriminalität befreite Palermo nicht. Ohne ihn kein „Frühling | |
von Palermo“, wie man die Epoche in den späten 80er und 90er Jahren deshalb | |
auch nennt. | |
Die Vorwürfe gegen ihn nennt Lagalla mit einem Dialektwort „mascariamento“ | |
und muss spürbar an sich halten, als ihn auch noch ein Journalist aus dem | |
Ausland damit konfrontiert. „Mascariamento“ steht für eine Taktik der | |
Verleumdung und taucht in der Literatur zur Mafia im Zusammenhang mit | |
eindeutigen Gegnern der Cosa Nostra wie Giovanni Falcone auf. | |
Indem Lagalla diesen Terminus auf sich bezieht, macht er sich selbst zum | |
Opfer mafiöser Intrigen. Seine Gegner werfen ihm vor, er habe sich nicht | |
von seinem ehemaligen Chef, dem Präsidenten der Region Sizilien, Salvatore | |
„Totò“ Cuffaro distanziert – 2011 wurde der zu sieben Jahren Haft wegen | |
Mafiabegünstigung verurteilt. Auch eine Wahlempfehlung Marcello dell’Utris | |
habe er nicht zurückgewiesen. Der Sizilianer Dell’Utri, einer der engsten | |
Mitarbeiter [6][Silvio Berlusconis] – insbesondere beim Aufbau seiner | |
Partei Forza Italia – wurde als dessen Mittelsmann zur Cosa Nostra 2014 | |
ebenfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt. | |
Und doch ist es derselbe Lagalla, der ankündigt, demnächst werde man im | |
Meer von Sperone baden können und der im Gespräch ein waches Verständnis | |
für die Vernachlässigung der Peripherien seiner Stadt zeigt. Ebendiese | |
Peripherien, die sich selbst beziehungsweise dem, was von der Mafia übrig | |
ist, überlassen bleiben, hat er schließlich auch von seinen Vorgängern | |
geerbt. Als er uns hinausgeleitet, wartet als nächster Gast der Imam von | |
Palermo. | |
Und als seine Stadtratsmehrheit Ende Februar dem am 22. Juni stattfindenden | |
Palermo Pride die Mittel entziehen will, widersetzt sich der Bürgermeister | |
Lagalla: Er sichert die weitere Unterstützung der Stadt zu und wird auch | |
selbst teilnehmen – wenn auch nicht, wie der wichtigste Bürgermeister in | |
der Geschichte Palermos Orlando, auf einem der Wagen. Das ist im | |
italienischen, sizilianischen und palermitanischen Kontext, derzeit von der | |
politischen Rechten beherrscht, ein vorsichtiges, aber deutliches Signal, | |
den Frühling der Stadt nicht abbrechen zu lassen. | |
Das Dauerproblem der Peripherie kehrt auf indirekte wie deutliche Art | |
wieder, als wir zum Abendessen mit Leoluca Orlando im alternativen | |
Szenelokal „Moltivolti“ („Viele Gesichter“) verabredet sind, das auf von | |
Geflüchteten zubereitete und servierte Fusionküche setzt. Auf die Aussage | |
von Antonella Di Bartolo angesprochen, dass sein trendiges, befreites | |
Palermo im Sperone nie angekommen sei, wendet sich Orlando wortlos einer | |
Antipasti-Platte zu. Später wird er über seine Arbeit sagen, er habe seine | |
Pflicht getan, aber nicht die ganze Aufgabe erfüllt. | |
„Nichts ist unschuldig in Sizilien“: mit dieser Formel hat Giovanni Falcone | |
das gesellschaftliche Leben Siziliens einst charakterisiert. Die Prinzipien | |
der Cosa Nostra seien die sizilianischen Werte auf die Spitze getrieben – | |
tragische Werte als Ergebnis einer tragischen Geschichte: Klientelismus, | |
Familismus, Kastendenken, höchste Arroganz und tiefste Hoffnungslosigkeit. | |
Solche pessimistischen Aussagen Falcones werden selten zitiert, im | |
Gegensatz zum schon sprichwörtliche Sinnspruch von der Mafia als | |
menschlichem Phänomen, das wie alle menschlichen Phänomene einen Anfang und | |
schließlich auch ein Ende habe. Wenn Sicilianità und Mafia aber so | |
deutliche Überschneidungen haben, wie es der in Palermo geborene und | |
aufgewachsenen Falcone sah – dann schwindet mit der einen auch die andere; | |
dann bedeutet Befreiung vom Alptraum der mafiösen Arroganz auch Verlust | |
innerhalb einer spezifischen Kultur. | |
## Statt Mafiastadt heute Disneyland für Partytourist:innen? | |
Spricht man mit älteren Bewohnern der Innenstadt Palermos, dann verzweifeln | |
sie ob der Verwandlung ihrer Heimat in ein Sicily-Disneyland für | |
Partytourist:innen. | |
Ist es Trost genug, dass Schutzgeldzahlung, der sogenannte Pizzo, laut | |
Staatsanwalt de Lucia in den zentralen, angesagten Bezirken keine Rolle | |
mehr spielt? | |
Und wie ist es zu erklären, dass im jährlichen Lebensqualität-Ranking | |
italienischer Städte der Wirtschaftszeitung Il sole 24 ore sich Palermo auf | |
dem 95. von 107 Plätzen wiederfindet? | |
Hier lohnt ein Blick auf die Details: Bei den Themen „Justiz und | |
Sicherheit“ und „Kultur und Freizeit“ hat sich die Stadt leicht um 8 bzw. | |
11 Plätze verbessert, beim Thema „Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ allerdings | |
um 42 verschlechtert. Auch bei städtischen „Dienstleistungen und Umwelt“ | |
ist es um sieben Punkte runtergegangen, die Einwohnerzahl Palermos sinkt | |
zudem seit Jahren langsam, aber kontinuierlich. Und ob Palermo in Zukunft | |
lebenswert bleibt, darf man getrost bezweifeln: Am 24. Juli wurde mit 47 | |
Grad die höchste je gemessenen Temperatur im Stadtgebiet erreicht. | |
Der im Zentrum Palermos lebende Geograph Vincenzo Guarrasi, 74, bejaht die | |
Frage, ob Palermo heute eine freie Stadt sei, in der man leben könne, wie | |
in anderen europäischen Metropolen auch; und doch, glaubt er, seien alle | |
wirtschaftlichen Aktivitäten weiterhin von der Organisierten Kriminalität | |
geprägt. Da sie jedoch als Investor agiere und spektakuläre Aktionen | |
vermeide, um nicht ins Scheinwerferlicht zu geraten, habe sich eine | |
„diffuse, oft vollkommen sinnlose Gewalttätigkeit“ ausgebreitet, | |
insbesondere im Bereich der Jugendkriminalität. Heute sei die Devise „Mach, | |
was du willst“, es gebe keine Regeln mehr für das Zusammenleben. | |
Die alte, blutige Ordnung, so scheint es hier, ist von keiner vollends | |
funktionierenden neuen abgelöst worden. Derzeit scheint es, als habe | |
Palermo nach dem Verschwinden einer totalitären Ordnung Phantomschmerzen, | |
sei konfrontiert mit den Herausforderungen der Freiheit, gezeichnet von den | |
Mühen der Ebene. | |
Antonella Di Bartolo sagt, die wichtigste Aufgabe der Schule heute sei es, | |
die Kinder aus ihrer „Sedierung“ durch die sozialen Medien zu befreien, | |
„die Kinder aufzuwecken“. Diese moderne Herausforderung kann durchaus auch | |
als Normalisierung begriffen werden. | |
In Palermo findet der Kampf um ein freies, selbstbestimmtes Leben weiterhin | |
an zwei Fronten statt: Der Auseinandersetzung einer armen Stadt mit den | |
Problemen, die sich in der westlichen, neoliberalen Welt stellen; und dem | |
fortgesetzten Kampf mit einem geköpften Monster, das aber noch nicht tot | |
ist, das sich vielmehr wie in einem Fantasyfilm auf der Suche nach einer | |
neuen Gestalt befindet, in der es wieder den alten Schrecken verbreiten und | |
absolute Macht ausüben kann. Palermo aber will die Vergangenheit hinter | |
sich lassen. Die Aufgabe zu Ende bringen. Auch und gerade die mit der | |
Mafia. | |
Zu den Anhaltspunkten, dass sich einer solchen Machtergreifung bedeutende | |
gesellschaftliche Gruppen entgegenstellen, gehört eine Episode Ende | |
Februar. In einem Prozess hatten sich erstmals nicht nur der Inhaber einer | |
von einem Cosa Nostra Clan erpressten Baufirma als Nebenkläger registrieren | |
lassen, sondern auch die Arbeiter selbst. | |
Zehn Jahre ist Antonella Di Bartolo nun im Sperone. Ihre Schule hat heute | |
33 Klassen, vor ihrem Amtsantritt waren es fünf. Als wir am Ende unserer | |
Tour in ‚ihre‘ Schule kommen, ändert sich ihr Habitus, sie wird weicher, | |
fröhlicher. Die Schüler:innen umringen sie, es ist ein bunter, lustiger, | |
liebens- und lebenswerter Ort, den sie und ihre Mitarbeiterinnen hier | |
geschaffen haben. Eine ihrer Lehrerinnen hat gerade die Prüfung zur | |
Direktorin abgeschlossen, schweren Herzens sagt sie, wird sie sie ziehen | |
lassen, habe sie aber auch unbedingt zu diesem Schritt ermutigt. | |
Das nennt man dann wohl: Schule machen. Fürs Leben, so kompliziert und | |
widersprüchlich es ist. Und gegen die Mafia. | |
3 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
Claudio La Camera | |
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Ende. |