# taz.de -- Alternative Stadtführung in Neapel: Buchdealer und illegale Gärten | |
> Der neapolitanische Vorort Scampia gilt als Drogen- und Mafiahochburg. | |
> Ein Musiker will Tourist*innen die schönen Seiten des Viertels | |
> nahebringen. | |
Bild: Sozialer Wohnungsbau inspiriert von Le Corbusier: der Komplex Vele di Sca… | |
SCAMPIA taz | Daniele Sanzone grinst und sagt: „Willkommen am Ende von | |
Neapel.“ Der Musiker und Autor – geschorenes Haar, rotes Shirt – lehnt an | |
der Wand des U-Bahnhofs Piscinola-Scampia; in seinem Rücken ist er in | |
Schwarz-Weiß zu sehen, wie er barfuß am Meer entlangläuft, daneben hängen | |
Fotos anderer Größen der neapolitanischen Musik. | |
2019 wurde die Endhaltestelle der U-Bahn-Linie 1, deren künstlerisch | |
gestaltete Bahnhöfe als „metro d’arte“ bei Tourist*innen beliebt sind, | |
nach Scampia verlegt und der einst verrufene Vorort mit dem Zentrum | |
verbunden. Seither hat sich einiges getan. So viel, dass es für eine | |
alternative Stadtführung reicht, wie sie Sanzone anbietet. | |
Der 45-Jährige ist in dem Viertel groß geworden, das lange als Drogen- und | |
Mafiahochburg galt. 2005 landete er mit seiner Band A 67 einen Hit mit dem | |
Antimafia-Song „’a Camorra song’ io“ (Die Camorra, das bin ich). Seine | |
„Scampia Trip Tour“ will vermitteln, dass Scampia mehr ist als der Drehort | |
der Mafiaserie „Gomorrha“: „Wir haben hier keine alten Gebäude, unsere | |
Schönheit ist der Zusammenhalt und unsere aktive Zivilgesellschaft“, | |
verspricht Sanzone und lädt ein, auf dem Beifahrersitz seines verbeulten | |
Kleinwagens Platz zu nehmen. | |
Links und rechts der Straße erheben sich gesichtslose Wohnblöcke. Das | |
Viertel entstand in den 1980ern als Schlafstadt. Zwei monumentale | |
Wandgemälde zieren wie ein Eingangstor die Fassadenreihen: links das | |
Porträt des Regisseurs Pier Paolo Pasolini, rechts die US-Bürgerrechtlerin | |
Angela Davis. | |
Ein Werk des neapolitanischen Street-Art-Künstlers Jorit, erzählt Sanzone, | |
um dann vor einem gigantischen brutalistischen Bau in Rot anzuhalten, | |
dessen zwei Hälften durch Betonstelen verbunden sind. „Es hilft ja nichts“, | |
sagt er und seufzt: „Darf ich vorstellen, unser Wahrzeichen, die Vele.“ | |
## Brutstätten von Gewalt und Elend | |
Vele ist italienisch für Segel, und so sehen die ursprünglich sieben | |
Wohntürme auch aus. Sie wurden vom Architekten Franz Di Salvo für den | |
sozialen Wohnungsbau errichtet. Den Ideen Le Corbusiers folgend, sollten | |
die Bewohner*innen in den 15-stöckigen „Wohnmaschinen“ als Gemeinschaft | |
zusammenleben. Doch die Gebäude verkamen, Feuchtigkeit breitete sich aus, | |
in dunklen Nischen nisteten sich Dealer ein. | |
Als nach dem Erdbeben 1980 Hunderttausende in Kampanien ihre Wohnungen | |
verloren, nutzte die lokale Mafia die Chance, zu ihren eigenen Bedingungen | |
Menschen in die verfallenden Gebäude einzuquartieren. Auch Sanzone kam | |
damals hier her: „Ich war zwei, als unser Haus in Poggioreale unbewohnbar | |
wurde. Weil vom Staat keine Hilfe kam, besetzte meine Mutter kurzerhand | |
eine Wohnung in Scampia.“ | |
Seine Familie habe Glück gehabt. Sie seien in einem ordentlichen Wohnblock | |
gelandet und bald vom Staat „legalisiert“ worden; er wohnt dort noch heute. | |
Die Vele aber wurden zu Brutstätten von Gewalt und Elend. | |
Die Mafia habe Rom*nja und Migrant*innen ohne Aufenthaltsstatus in den | |
bröckelnden Bauten zusammengepfercht, teils ohne Strom und Wasser. Mitte | |
der nuller Jahre war Scampia der größte Drogenumschlagplatz in Europa; eine | |
Fehde zwischen zwei Clans ließ die Gewalt explodieren; zwischen 2005 und | |
2007 wurden rund 70 Menschen ermordet, darunter einige Zufallsopfer. „Es | |
war hart, hier aufzuwachsen“, erzählt Sanzone und startet den Motor. „Nicht | |
nur wegen der Gewalt.“ Es habe keine Arbeit gegeben, kaum Beschäftigung, | |
nicht mal einen Supermarkt oder ein Kino. | |
Ein paar Ecken weiter parkt Sanzone erneut. Über Steinstufen geht er voran | |
zu einer von zerbröckelnden Säulen gesäumten Galerie, von der aus man einen | |
Park überblickt. „Kaum jemand weiß, dass wir den zweitgrößten Park Neapels | |
haben“, sagt der Musiker. Klingt gut, aber der Parkeingang ist | |
verschlossen, das barock anmutende Wasserbassin hinter dem Zaun | |
ausgetrocknet und vermüllt. | |
## Illegal angebauter Mais gegen die Regellosigkeit | |
Am Parkrand wachsen auf einem schmalen, mit Flatterband abgetrennten | |
Streifen Erde Maispflanzen, ein Mann macht sich dazwischen mit der | |
Spitzhacke zu schaffen. Verblüfft bleibt Sanzone stehen, seine gute Laune | |
ist verflogen. „Macht hier eigentlich jeder, was er will?“, schimpft er und | |
tippt wild in sein Handy – er müsse mal kurz jemanden aus der Gemeinde | |
benachrichtigen. | |
Angesichts dieser harmlosen Landnahme ist seine Erregung schwer zu | |
verstehen. Was ist etwas illegal angebauter Mais gegen die Regellosigkeit | |
der Camorra? Sanzone schnaubt, winkt ab und steigt wieder in sein Auto. Auf | |
der anderen Parkseite hält er an, zeigt auf ein zerbröckelndes Gebäude, das | |
man für eine Ruine halten könnte – das Polizeikommissariat mit seiner | |
Antimafia-Einheit ist der heruntergekommenste Bau der Gegend. Gegenüber ist | |
Sanzones alte Grundschule, vor der jetzt eine Gruppe Pfadfinder die Straße | |
überquert. | |
Sanzone stellt den Motor ab, öffnet die Tür und erzählt von seiner Jugend: | |
Er habe viel Glück gehabt, sein Vater, ein Maler, und seine Mutter, | |
Hausfrau, hätten viele Opfer gebracht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Er | |
habe es nach Neapel an die Uni geschafft. Stolz sei er gewesen, das Stigma | |
seiner Herkunft abgeschüttelt zu haben, bis eines Nachmittags etwas | |
passierte: „Ich studierte damals Philosophie“, erzählt er. | |
„Wir saßen nach dem Essen auf einem Mäuerchen in der Sonne, als ein Typ | |
vorbei ging und mir ins Gesicht sah. Ich war direkt auf Hundertachtzig, | |
rannte auf ihn zu und schrie: Was schaust du mich an?! Ich wäre bereit | |
gewesen, den zu killen.“ Damals sei ihm bewusst geworden, wie tief ihn die | |
alltägliche Gewalt im Viertel geprägt habe. Aus diesem Erlebnis heraus | |
entstand der Song: „’a camorra song’ io“. Mit der eindringlichen | |
Schilderung des Kreislaufs aus Gewalt, Ohnmacht und Schweigen verkauften A | |
67 eine Million Platten. | |
Fast 20 Jahre ist das nun her, in Scampia verbesserten sich die Dinge aber | |
nur langsam. Sanzone deutet auf einen gewaltigen neuen Rundbau, der wie ein | |
Ufo in der Landschaft steht: 2022 wurde eins der Vele-Hochhäuser abgerissen | |
und auf dem Standort das neue medizinische Zentrum der Universität Federico | |
II. eröffnet. Hier kann man jetzt einen Abschluss in Medizin, Chirurgie | |
oder Gesundheitsmanagement machen. „Das ist großartig, aber von der Planung | |
bis zur Umsetzung hat es 16 Jahre gedauert.“ | |
Noch immer gebe es in Scampia kein Krankenhaus, bei geschätzten 100.000 | |
Bewohner*innen – und kaum Jobs. Armut und Perspektivlosigkeit bleiben | |
ein Problem, doch mit dem Abklingen der Straßengewalt ist ein Aufwärtstrend | |
zu beobachten. „Mehr als 200 Vereine gibt es in Scampia“, berichtet Sanzone | |
und schwärmt von dem Bürgergeist, der sich in den letzten Jahren entfaltet | |
habe. | |
Im Ortskern des jungen Viertels ducken sich niedrige Häuser um eine Kirche, | |
hier ist fast so etwas wie Dorfatmosphäre zu spüren. In einem mit bunten | |
Wandmalereien geschmückten Betonkubus residiert die Kulturinitiative | |
GRIDAS, Keimzelle des neuen Bürgersinns, die seit 1981 den Karneval von | |
Scampia organisiert. Das Künstlerpaar Felice Pignataro und Mirella La Magna | |
begründeten den Umzug, der mit seinen liebevoll gestalteten Pappfiguren | |
jedes Jahr mehr Besucher*innen anzieht. | |
Auch Vertreter*innen der großen Romn*ja-Community sind in den Karneval | |
mit einbezogen. Mit der „Napulitan Gipsy Power“-Band ’o Rom hat Sanzone | |
2019 einen Song aufgenommen. Im Video zu „Scampia Felix“ sieht man die | |
Einwohner*innen Kulissen basteln und die Frauen des integrativen | |
Italo-Balkan-Restaurants Chikù Teigtaschen rollen. | |
## Das Wahrzeichen der Scugnizzeria: ein Esel mit Flügeln | |
Das Restaurant hat nur an fünf Nachmittagen die Woche auf, auch die | |
Scugnizzeria, eine Buchhandlung mit Café und Kleinverlag, hat geschlossen: | |
Alle seien erschöpft, tags zuvor fand ein Lesemarathon statt, berichtet | |
Sanzone. Vor dem Eingang baumeln Körbe mit gebrauchten Büchern zum | |
Mitnehmen, eine Anspielung auf die Angewohnheit der Dealer, Drogen mittels | |
hochgezogener Körbe zu vertreiben. Vor dem Café steht das Wahrzeichen der | |
Scugnizzeria: ein Esel, Wappentier Neapels, mit Flügeln. „Das Unmögliche | |
träumen“ lautet das Motto, das sich die Scugnizzeria gegeben hat. | |
Am Ende seiner Tour will Daniele Sanzone noch das zeigen, was er „das | |
Wunder von Scampia“ nennt: Ein Nachbarschaftsgarten am Rande eines | |
Wohnblocks mit Pflanzen aus aller Welt. Das „Progetto Pangea“ wird von den | |
Nachbar*innen gepflegt und sauber gehalten. „Früher war hier eine wilde | |
Müllkippe“, sagt er, „jetzt fühlen sich die Leute verantwortlich, das ist | |
so schön.“ | |
Auf der Rückfahrt zum U-Bahnhof springt ein riesiges Graffito auf einem der | |
Vele ins Auge: „No al turismo dell’orore“, Nein zum Horrortourismus. Die | |
Bewohner*innen sind es leid, als Hintergrund für Gruselselfies | |
herhalten zu müssen. Sanzone hofft darauf, dass seine Tour durch die | |
Zivilgesellschaft bald zum Standardprogramm aufgeschlossener | |
Tourist*innen gehört, wie der Karneval von Scampia. „Die Menschen hier | |
verdienen es“, sagt er, bevor er in seinem Kleinwagen zwischen den | |
Hochhäusern verschwindet. | |
11 Mar 2024 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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