# taz.de -- Sizilianische Kindheit: Der Würgegriff lockert sich | |
> Mafiaboss Matteo Messina Denaro wurde Mitte Januar verhaftet. Unsere | |
> Autorin wuchs auf Sizilien auf und erlebte seinetwegen ein Klima der | |
> Angst. | |
Bild: Die Polizei fasste Mafiaboss Denaro nach 30 Jahren Flucht in einer Privat… | |
Es ist keine drei Jahre her, als ich mir in Castelvetrano, im Westen | |
Siziliens, ein Theaterstück mit dem Titel „Ciao Matteo, dove sei?“ (Ciao | |
Matteo, wo bist du?) ansah. Der „Matteo“ des Titels war [1][Matteo Messina | |
Denaro], „Boss der Bosse“ der Cosa Nostra. Er wurde am vergangenen Montag | |
nach dreißig Jahren auf der Flucht in [2][Palermo] verhaftet. | |
Vor Beginn der Aufführung wollten wir noch in einem bekannten | |
[3][Restaurant in der Gegend eine Pizza essen gehen]. Wir hatten nicht viel | |
Zeit bis zum Beginn des Stückes und aßen deswegen schnell. Als wir zahlten, | |
machte der Besitzer sich ein wenig über uns lustig. Was denn so wichtig | |
gewesen sei, dass wir die Pizza so eilig heruntergeschlungen hätten, fragte | |
er uns lächelnd. Wir erzählten ihm von dem gleich beginnenden Theaterstück. | |
Als wir den Namen Matteo Messina Denaro erwähnten, verdüsterte sich sein | |
Gesicht. Er sagte: „Wir müssen damit aufhören, schlecht über unsere Heimat | |
zu reden. Das ruiniert das Image der Stadt.“ Wir sagten: „Vielleicht ist es | |
ja auch die Mafia, die unsere Heimat ruiniert.“ Aber das überzeugte unseren | |
Gesprächspartner nicht. Er sagte nur trocken: „Hoffen wir, dass sich | |
niemand dieses Stück ansieht.“ | |
Auch für den Rest Italiens war Montag, der 16. Januar 2023, mit Sicherheit | |
ein denkwürdiger Tag. Für diejenigen aber, die wie ich in der Heimat von | |
Messina Denaro geboren worden und aufgewachsen sind, war es ein Tag der | |
Befreiung. Der Schatten dieses Mannes hat unser Leben verdüstert. Er lag | |
wie ein Albtraum über unserer Kindheit. | |
## Aufwachsen auf einem Minenfeld | |
Ich bin nur ein paar Kilometer entfernt von Castelvetrano, dem Geburtsort | |
von Messina Denaro, aufgewachsen; und auch ganz in der Nähe von Campobello | |
di Mazara, dem Örtchen, wo Messina Denaro sich all die Jahre erfolgreich | |
versteckt hatte. In Castelvetrano selbst habe ich das Gymnasium besucht. Es | |
ist ein Ort, dessen normale Entfaltung, wie die des restlichen Siziliens, | |
immer durch die erdrückende Präsenz der Mafia verhindert worden ist. Die | |
Auswirkungen dieser mafiösen Präsenz gehen dabei weit über die | |
unmittelbaren kriminellen Handlungen ihrer Mitglieder hinaus. In einer von | |
der organisierten Kriminalität geprägten Gemeinde aufzuwachsen bedeutet, | |
mit dem Wissen groß zu werden, dass man eine Reihe von Dingen nicht tun | |
kann oder dass man zumindest dazu bereit sein muss, viele Kompromisse | |
einzugehen, um sie zu tun. | |
Schon als Kind war mir zum Beispiel klar, dass ich in meiner Heimat nie ein | |
eigenes Unternehmen gründen würde. Ich hatte einfach zu viele Geschichten | |
von Unternehmern und Ladenbesitzern gehört, die gezwungen wurden, | |
Schutzgeld zu zahlen. In meiner kindlichen Vorstellung war die Welt der | |
Selbstständigen aufgeteilt in diejenigen, die Schutzgeld zahlten und sich | |
damit der Mafia unterwarfen, und diejenigen, die getötet wurden, weil sie | |
das nicht wollten. Ich wollte mich weder der Erpressung der Mafia | |
unterwerfen noch sterben und beschloss deswegen, jede Branche, die mich in | |
diese unangenehme Situation bringen könnte, zu meiden. | |
Ich hatte das Gefühl, auf einem Minenfeld aufzuwachsen. Meine | |
Sozialisierung umfasste wie bei allen sizilianischen Kindern die ständige | |
geschärfte Aufmerksamkeit, Strategien dafür zu entwickeln, keine der Minen | |
auszulösen. Es gab Dinge, über die man besser nicht sprach, Orte, die man | |
besser nicht aufsuchte, Blicke, die man besser nicht erwiderte, Menschen, | |
die man besser nicht traf. | |
Diese Art der Sozialisierung bedeutet natürlich keineswegs, dass alle | |
sizilianischen Unternehmer und Kaufleute den Pizzo zahlen oder tot sind. | |
Wie bei allen übermächtigen Formen der organisierten Kriminalität liegt der | |
Erfolg der sizilianischen Mafia darin, dass sie auch die Mentalität und | |
Handlungen derjenigen prägt, die nicht zu ihr gehören. Sie bringt sie dazu, | |
sich so zu verhalten, als müssten sie sich ständig mit dieser Macht | |
auseinandersetzen, auch wenn sie ihr nicht direkt begegnen. | |
Zu den vielen, gar nicht mehr bewusst reflektierten, wie selbstverständlich | |
angewandten Strategien, den von der Mafia gelegten Minen zu entgehen, | |
gehört auch eine besonders bittere: Sizilien zu verlassen. Eine | |
Entscheidung, die viele von uns getroffen haben und die, wie schon | |
beschrieben, natürlich nicht alternativlos ist. Man kann in Sizilien | |
bleiben und sehr gut und kompromisslos leben, was glücklicherweise viele | |
tun. Das Weggehen ist nicht einmal eine vollkommen bewusst getroffene | |
Entscheidung, die explizit mit der Mafia verbunden wäre. Es ist einfach | |
eine der Optionen, die sich für diejenigen, die in diesem Land geboren | |
sind, selbstverständlich anbietet. | |
## Die Mafia ist noch lange nicht besiegt | |
Ich habe Sizilien nicht verlassen, weil ich ein konkretes Problem mit der | |
Mafia hatte, das mich daran hinderte, das zu tun, was ich tun wollte. Ich | |
bin zunächst fast zufällig weggegangen, habe in Rom studiert, um | |
Erfahrungen zu sammeln. Dann haben mich die Wechselfälle des Lebens einige | |
Jahre dort gehalten und schließlich nach Deutschland geführt, wo ich heute | |
lebe. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass mir immer präsent war, wie | |
sehr die Mafia meine Heimat im Würgegriff hat und dass dieser Punkt bei all | |
meinen Lebensentscheidungen eine unbewusste Rolle gespielt hat. | |
Die Verhaftung von Matteo Messina Denaro lockert diesen Würgegriff der | |
Mafia, doch der Weg zur vollständigen Befreiung ist noch weit. Wie der | |
ehemalige Staatsanwalt von Palermo, Roberto Scarpinato, heute im Senat in | |
Rom nicht müde wird zu betonen, sind Messina Denaro, wie auch die bereits | |
früher verhafteten und in Hochsicherheitsgefängnissen verstorbenen „Bosse | |
der Bosse“ Toto Riina und Bernardo Provenzano „nur“ der bewaffnete Flügel | |
der Mafia. | |
Ihre andauernde Stärke liegt aber in den engen Beziehungen, die sie mit den | |
sogenannten White Collars und politischen Kräften knüpft – der berühmten | |
„Grauzone“ (zona grigia). Sie schafft es noch immer, sich dem Zugriff der | |
Justiz weitgehend zu entziehen. Solange diese Verbindungen nicht gekappt | |
werden, ist die Mafia nicht besiegt. Auf einen verhafteten Messina Denaro | |
werden neue Bosse oder ein anderes Gremium folgen, das seine Funktionen | |
übernimmt. | |
Der Kampf gegen die Mafia muss zudem auf europäischer Ebene ausgefochten | |
werden. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass einige Dynamiken eng mit | |
ihrem Ursprungsgebiet verbunden sind, aber die Mafia lebt von gewaltigen | |
Geschäften, deren Erlöse sehr oft außerhalb Siziliens und Italiens | |
reinvestiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist Deutschland mit seiner | |
für die Mafia durchlässigen Gesetzgebung ein idealer Ort, um das | |
erwirtschaftete Kapital aus den schmutzigen Geschäften zu waschen. | |
## Die Probleme zu verschweigen hilft nicht | |
Meine Hoffnung setze ich vor allem auf die junge Generation. Eine | |
Theateraufführung, wie diejenige, der ich dann – trotz der Verwünschungen | |
des Gastronomen – beiwohnte, wäre einige Jahre zuvor wohl noch undenkbar | |
gewesen. Ebenso undenkbar wie die Tatsache, dass Enzo Alfano, der | |
Bürgermeister von Castelvetrano, mit im Publikum saß. | |
Viele fragen sich, wie Matteo Messina Denaro, der meistgesuchte Kriminelle | |
Italiens, dreißig Jahre lang ungestört in Sizilien leben konnte. Die | |
Antwort findet sich in den Worten des Wirts wieder, die die ganze | |
kriminelle Macht der Mafia zum Ausdruck bringen. Es geht um Kontrolle des | |
Territoriums, der wirtschaftlichen Aktivitäten und des politischen | |
Handelns. Eine Kontrolle, dank der um den Boss herum ein Netz der | |
Komplizenschaft und der Omertà gezogen wurde. Es ermöglichte ihm nicht nur, | |
sich jahrelang der Verhaftung zu entziehen, sondern auch weiter zu | |
herrschen. | |
Aber dieses Netz hat nun große Löcher bekommen. Das ist zum einen dem | |
unermüdlichen Einsatz der Richter und Ordnungskräfte zu verdanken, zum | |
anderen aber auch den jungen Theaterleuten, die vor drei Jahren mitten in | |
Castelvetrano laut den Namen von Messina Denaro riefen. All jenen also, die | |
wissen, dass es nicht das Sprechen über die Mafia ist, was Sizilien schadet | |
– sondern das Schweigen über sie. | |
Aus dem Italienischen übersetzt von Ambros Waibel | |
Die Autorin gehört der Chefredaktion der linken italienischen Zeitschrift | |
MicroMega an, wo der Text in einer kürzeren Fassung erschienen ist | |
18 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Mafiaboss-in-Italien-verhaftet/!5906271 | |
[2] /Prozess-gegen-Seenotretter-auf-Sizilien/!5852520 | |
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## AUTOREN | |
Cinzia Sciuto | |
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