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# taz.de -- Soziologe über Radikalismus der AfD: „Es hat sich etwas verschob…
> Wilhelm Heitmeyer hat sich jahrzehntelang mit autoritären Einstellungen
> und Rechtsextremismus beschäftigt. Wie erklärt er Deutschlands
> Rechtsruck?
Bild: Parteitag der AfD-Hessen 2023: Mit dabei Maximilian Krah, Spitzenkandidat…
taz: Herr Heitmeyer, viele haben die rechtsradikale AfD lange als Problem
des Ostens gesehen. Jetzt hat sie auch in den westdeutschen Flächenländern
Bayern und Hessen mit 15 und 18 Prozent ihre bisher höchsten Ergebnisse
eingefahren. Was ist da los?
Wilhelm Heitmeyer: Man muss beginnen bei der Charakterisierung der AfD.
Landläufig ist immer noch verharmlosend von Rechtspopulismus die Rede,
manchmal auch „in Teilen rechtsextremistisch“. Ich frage dann immer, aber
was ist dann mit den anderen Teilen? Inzwischen schreckt auch die
Einordnung als rechtsextremistisch die Sympathisanten und Wähler nicht mehr
ab. Das war anders zu Zeiten der NPD und Republikaner. Und Rechtspopulismus
ist ohnehin eine kriterienlose, leere Hülle, in die man alles reinschütten
kann. Der Begriff zielt ja lediglich auf Erregungszustände ab, die AfD geht
aber weit darüber hinaus. Sie ist viel gefährlicher, weil sie für
unterschiedliche Bevölkerungsgruppen attraktiv ist.
Wie charakterisieren Sie denn die AfD?
Es ist autoritärer Nationalradikalismus. Daraus erklärt sich der derzeitige
Höhenflug. Die AfD propagiert ein autoritäres Gesellschaftsmodell mit
traditionellen Lebensweisen – gegen pluralistische Kultur und für ethnische
Homogenität. Das Nationalistische ist die Überlegenheitsvorstellung von
deutscher Kultur. Wirtschaftspolitisch wird „Deutschland zuerst“ gefordert.
Dann gibt es noch die ethnisch nationale Identitätspolitik mit Deutschsein
als Identitätsanker und die Neudeutung deutscher Vergangenheit. Die
Radikalität besteht vor allem in der Kommunikation und Mobilisierung mit
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen bestimmte markierte
Bevölkerungsgruppen. Diese Bestandteile sind attraktiv, daran muss man
Wahlergebnisse interpretieren.
Was ist aus Ihrer Sicht in [1][Hessen und Bayern] passiert?
Hier ist deutlich geworden: Die AfD ist gesamtdeutsch. Es gab in Bayern
einen deutlichen Rechtsruck. Markus Söder hat im Wahlkampf mit
ausgrenzender Identitätspolitik gespielt, als er sagte: Die Grünen haben
kein Bayern-Gen. Ebenso Hubert Aiwanger mit seinen Parolen davon, dass die
normalen Leute sich [2][die Demokratie zurückholen] sollen. Das ist
original AfD-Sprech. Und die spielt ohnehin mit ihren Kernthemen Migration
und Kriminalität. In Bayern haben mehr als zwei Drittel diese drei Parteien
gewählt – den größten Zuwachs aber hatte die AfD. Die Milieus dieser
Parteien liegen ziemlich eng beieinander.
Was ist das Auffällige an diesen Milieus?
Beachten muss man vor allem das, was ich rohe Bürgerlichkeit nenne. Das
Milieu leidet kaum unter sozialer Not, macht sich aber Statussorgen und hat
Irritationen. Es hat eine glatte Fassade, aber dahinter existiert ein
Jargon der Verachtung, gerade gegenüber den von der AfD negativ markierten
sozialen Gruppen. Das spielt der AfD in die Karten. Was mir Sorgen macht:
Dieses Milieu ist in beträchtlichem Maße in Westdeutschland vorhanden und
für die AfD noch immer nicht ausgereizt.
Was auffällt: Die AfD ist auf dem Land stark und in der Stadt schwach.
Warum?
Das ist eine Parallele zu Ostdeutschland, das ja eine besondere
sozialgeografische Struktur hat. Wir haben in unseren Untersuchungen
zwischen 2002 und 2012 immer wieder festgestellt: Die gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit ist in Kleinstädten immer höher als in größeren
Städten. In dörflichen und kleinstädtischen Gebieten ist die soziale und
kulturelle Homogenität groß, ebenso gibt es eine stärker ausgeprägte
Konformität, die wiederum mit den Charakteristika des Autoritären
korrespondiert: die nationalistische Überlegenheitsattitüde äußert sich
dann in Radikalität gegenüber zugewanderten Gruppen mit anderen kulturellen
Hintergründen. In diesen Sozialformationen ist die AfD erfolgreich. Und:
Die etablierten Parteien haben die ländlichen Gebiete in ihrer Bedeutung
unterschätzt und vernachlässigt.
Ebenso haben jetzt im Westen wie auch zuletzt in Sachsen-Anhalt vermehrt
[3][jüngere Menschen die AfD gewählt]. Was hat sich da verschoben?
Bei den Jüngeren kam der AfD sicher ihr riesiger Vorsprung bei den sozialen
Medien zugute. Die AfD agitiert viel auf Tiktok – und ist hier vor allem
für junge Männer attraktiv. Man denke etwa an [4][Maximilian Krah], der in
Tiktok-Videos sagt: „Echte Männer sind rechts.“ Gerade die Jüngeren halten
sich immer länger auf digitalen Plattformen auf – dort gibt es
Kommunikations- und Mobilisierungslücken bei den etablierten Parteien.
Viele Politologen sagen, dass die AfD-Wählerschaft einen harten
rechtsextremen Kern hat und einen Anteil, der die Ampel abstrafen wollte,
sogenannte Protestwähler. Wie sehen Sie das?
Der Begriff Protestwähler oder Protestpartei ist eine
Selbstberuhigungsformel. Darin steckt: Wenn wir uns nur Mühe geben und
vielleicht die Renten erhöhen, kommen die alle zurück. Das ist eine
Fehleinschätzung. Die autoritären Einstellungsmuster, von denen die AfD
profitiert, hat es schon lange vor ihrer Parteigründung gegeben. Diese
Personengruppen waren häufig wahlpolitisch vagabundierend, wählten mal SPD,
CDU oder wanderten ab in die wutgetränkte Apathie der Nichtwählerschaft.
Erst 2015, als eine größere Anzahl von Geflüchteten nach Deutschland kam
und die AfD dagegen mobilisierte, hatte diese Wählergruppe eine fixe
Anschlussstelle. Seitdem hat die AfD eine stabile Wählerschaft.
Aber erklärt das diejenigen, die in Hessen direkt von den Grünen oder von
der SPD zur AfD gewandert sind?
Ja, es hat sich etwas verschoben. Aber man muss beim Höhenflug der AfD
wesentliche Komponenten zusammenbinden. In den letzten beiden Jahrzehnten
hat sich der Neoliberalismus entsichert, zugleich wurde der Sozialstaat
demontiert, jetzt erleben wir multiple Krisen. Es gibt langfristige
Erklärungen und kurzfristige Trigger, die auch Grünen-Wähler und
Sympathisanten verschreckt haben: zum Beispiel [5][das Heizungsgesetz]. Das
eigene Haus wird auf einmal zum Schrecken und zur Bedrohung, weil man nicht
weiß, wie man das finanzieren soll.
Aber waren dann die Landtagswahlen in Bayern und Hessen doch eine
Protestwahl?
Protest allein reicht nicht als Erklärung. Der größere Kontext sind die
letzten beiden Jahrzehnte mit zahlreichen Krisen. Wir hatten nach 9/11 eine
islamistisch-kulturelle Krise, 2005/06 gab es eine Hartz-IV-Krise, 2008/09
eine Finanz- und Wirtschaftskrise, 2015/16 gab es viele Geflüchtete und
sozialkulturelle Verunsicherung. Und dann kam 2019 die Coronakrise. Während
die anderen sektorale Krisen waren, war die Pandemie eine systemische
Krise. Sie wirkt bis heute nach, wodurch wir jetzt multiple Krisen haben –
denn gleichzeitig rückt die Klimakrise uns direkt auf die Pelle und auch
die Ukrainekrise ist nah.
Was macht das mit uns?
Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass die politischen Routinen der
Problembekämpfung nicht mehr funktionieren – schon gar nicht kostenlos und
schnell. Vor allem können die eingelebten Zustände vor der Krise nicht
wiederhergestellt werden. Daraus entstehen wahrgenommene oder erfahrene
Kontrollverluste über die Zukunft. Teile der Bevölkerung haben das Gefühl,
dass man die eigene Zukunft und den eigenen Status nicht beeinflussen kann.
Viele fürchten Wohlstandsverluste und die Selbstwirksamkeit nimmt ab. Hier
setzt die AfD an mit ihrer Parole der Wiederherstellung von Kontrolle. 2017
hat Alexander Gauland schon gesagt: „Wir holen uns unser Land zurück.“ Die
AfD will die Zahl der Geflüchteten und die Kriminalität kontrollieren. Das
sind Ansatzpunkte, die auch bei Grünen-Wählern ziehen. Die sind ja auch
nicht alle ideologisch gefestigt. Die Bindungswirkung der Parteien nimmt
ab.
Inwiefern spielen Desinformation und Verschwörungsideologien eine Rolle?
Personen mit erfahrenen und wahrgenommenen Kontrollverlusten sind besonders
anfällig für Verschwörungsideologien. Die AfD ist völlig bedenkenlos mit
der Ausbeutung solcher Erzählungen, gepaart mit einer Emotionalisierung
sozialer Probleme als Kontrollverluste, kombiniert mit der Opferrolle.
Was sind aus Ihrer Sicht Gegenstrategien?
Das ist eine schwierige Frage. 2001 habe ich in „Schattenseiten der
Globalisierung“ die These vertreten, dass sich sukzessiv eine
Demokratieentleerung auftut. Wir konnten in einer Langzeituntersuchung
zeigen, dass der politische Apparat funktioniert, aber Vertrauen erodiert.
Diese Entwicklung hat sich immer weiter vollzogen.
Was war ihr Schluss daraus?
Die Politik muss Vertrauen zurückgewinnen. Sie muss Repräsentationslücken
schließen, die es zweifellos besonders im Osten gibt. Menschen müssen sich
gesehen fühlen. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Da hat die AfD
mit ihrer Strategie in vielen Gebieten ganz eindeutig vieles erreicht nach
dem Motto: „Wir machen euch wieder sichtbar“. Die anderen Parteien haben
die ländlichen Gebiete vernachlässigt, diese Repräsentationslücken rächen
sich jetzt.
Warum gibt es derzeit keine Gegenbewegungen?
Soziale Bewegungen scheinen wie gelähmt. Ich habe den Eindruck, dass dies
daran liegt, dass es derzeit nicht gelingt, eine zuversichtliche Vision zu
formulieren, die mobilisierend wirkt. Die AfD hingegen hat eine
motivierende autoritäre Vision gegen die offene Gesellschaft und liberale
Demokratie, von der sich relevante Teile der Bevölkerung angesprochen
fühlen.
Wie kann es gelingen diesen Anteil wieder zu verkleinern?
Es braucht unter anderem eine ganz schnelle Aufholjagd der anderen Parteien
in den digitalen Medien, bei Tiktok und Co. – gerade um auch bei Jüngeren
durchzudringen. Ebenso muss man die Auseinandersetzung suchen: Überall in
Medien und Politik müssen die Konsequenzen der politischen Parolen der AfD
aufgezeigt werden. Einige der politischen Forderungen wären ja selbst gegen
die AfD-Wähler in ihren sozialen Lagen gerichtet. Der Erfolg bei Aufklärung
kann aber dauern, weil zahlreiche Milieus in digitalen Medien gar nicht
mehr miteinander kommunizieren. Wir haben keine Öffentlichkeit im Singular
mehr, die alle inkludiert, sondern nur eine im Plural. Und zu guter Letzt
ist es ganz wichtig, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren.
Was heißt das für Sie konkret?
Die Zivilgesellschaft scheint mir zu wenig konfliktfähig zu sein. Es fehlt
meiner Ansicht nach an Auseinandersetzungen in nahen sozialen
Bezugsgruppen. Was passiert in der Verwandtschaft, im Sportverein, auf der
Arbeit, in der Kirchengemeinde oder mit den Freunden beim Kochen? Die
politische Wirksamkeit in den nahen sozialen Bezugsgruppen ist hochgradig
unterschätzt.
Also Mund aufmachen am Stammtisch, wenn jemand mit rassistischen
Argumentationen um die Ecke kommt?
Ja, wenn man dann nicht gleich reagiert, verfestigt sich das Klima und die
Position der AfD normalisiert sich. Denn genau darum geht es der AfD. Das
sagen ja auch die Eliten der Partei ganz offen: Wir wollen in
gesellschaftliche Institutionen eindringen, in nahen Bezugsgruppen unsere
Positionen normalisieren. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als normal
gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Das Schwierige ist: In
Bezugsgruppen ist man in der Regel allein und muss unter Umständen harte
soziale Kosten tragen und wird möglicherweise aus Bezugsgruppen
ausgeschlossen, je nachdem, wie weit die Normalisierung fortgeschritten
ist. Das ist mein Plädoyer: Sich über die eigene Konfliktfähigkeit Gedanken
zu machen. In den nahen sozialen Bezugsgruppen zeigt sich erst, ob wir in
der Lage sind, für eine humane Gesellschaft einzutreten.
Wo stehen Sie [6][in der Verbotsdiskussion?]
Das ist der völlig falsche Weg: Ein Verbotsantrag würde Jahre bis zur
Befassung dauern und in der Zwischenzeit zu großen und erheblichen
Solidarisierungseffekten führen.
26 Nov 2023
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Gareth Joswig
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