# taz.de -- Gründe für Erfolge bei der EU-Wahl: Kehrseite der Einigkeit | |
> Dass so viele Menschen ihre Stimme Protestparteien geben, liegt nicht nur | |
> an der Entfremdung zur Politik. Dauerhafte Krisen haben die Gesellschaft | |
> verändert. | |
Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es diesen Konsens: Demokratie | |
ist super, unser politisches System der Teilhabe funktioniert, die Medien | |
kontrollieren die Mächtigen. Inzwischen wird das von vielen in Frage | |
gestellt. Verfassungsfeindliche Spinner gab es schon immer, aber so viele | |
Zweifler*innen, von rechten Bauern bis hin zu linken Ökos, das ist neu. Wie | |
groß die Entfremdung ist, hat auch die Europawahl gezeigt: Für Union, SPD, | |
Grüne, FDP und Linkspartei stimmten bundesweit nur knapp 64 Prozent. | |
Zehn Jahre zuvor waren es noch 84 Prozent. Die AfD profitiert von dieser | |
Schwäche, ebenso das Bündnis Sahra Wagenknecht – und bei den jungen | |
Wähler*innen die Partei Volt. Die Erklärungsversuche, warum sich so | |
viele Menschen vom politischen Betrieb abwenden, wirken häufig hilflos. Es | |
wird dann auf die Fehler der Ampel verwiesen, auf das [1][vergurkte | |
Heizungsgesetz] und das Gezeter innerhalb der Koalition. Auf Olaf Scholz, | |
der zu wenig spricht. | |
Da ist sicher was dran, es reicht als Erklärung aber nicht aus. Die | |
Ursachen der Entfremdung liegen tiefer. Es sind die Krisenerfahrungen der | |
letzten zehn Jahre, die die Gesellschaft verändert haben. Sie haben eine | |
psychologische Dynamik ausgelöst, die das entstandene Misstrauen gegenüber | |
den Parteien und den Medien zu guten Teilen erklärt – und auch die | |
Vehemenz, mit der dieses Misstrauen artikuliert wird. | |
Was genau passiert in einer Krise? Der israelische [2][Psychologe und | |
Gruppenanalytiker Robi Friedman] hat sich lange damit beschäftigt, wie | |
Krieg eine Gesellschaft verändert. Nun ist Deutschland nicht im Krieg. | |
Trotzdem sind seine Überlegungen auch für uns interessant, Friedmans Modell | |
lässt sich auf alle Formen existenzieller Bedrohungen anwenden. Die | |
gesellschaftlichen Auswirkungen sind vergleichbar, wenn auch weniger stark | |
ausgeprägt. | |
## Bedingungsloser Zusammenhalt in der Gruppe | |
Krieg ist in diesem Sinne die krasseste Form der Krise und legt die | |
Dynamiken besonders deutlich offen. Friedman sagt, dass eine existenzielle | |
Bedrohungslage das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft grundlegend | |
verändert. Es komme zu einer „weitgehenden Unterordnung der Individuen | |
unter die Ziele und Interessen des Kollektivs“. Man kennt das als | |
„Rally-’round-the-Flag“-Effekt: Die Menschen rücken zusammen, sie | |
versammeln sich um die eigene Flagge. | |
Das gibt nicht nur der jeweiligen Regierung Rückhalt, es führt auch zu | |
einer großen Solidarität untereinander, schreibt Friedman. Man hilft sich, | |
wo man kann. Die Kehrseite dieser Einigkeit ist ein Zwang zur Konformität. | |
„Die Menschen glauben, mit einer Stimme sprechen zu müssen“, sagt Friedman. | |
Wer das erklärte Ziel in Frage stellt oder die eigenen Leute kritisiert, | |
wird als Verräter*in ausgegrenzt. Darunter leidet auch die | |
Meinungsvielfalt. | |
Fühlen sich die Menschen existenziell bedroht, gibt es weniger Raum für | |
Differenzen oder gar für Empathie mit dem Feind. Die Welt wird in Gut und | |
Böse eingeteilt, die Abwehr der Bedrohung hat Priorität. Mit einer | |
liberalen, offenen Gesellschaft vertrage sich so ein Denken nicht gut, sagt | |
Friedman. „Die liberale Gesellschaft funktioniert nur ohne Angst.“ Mit | |
Friedmans Konzept im Hinterkopf lässt sich besser verstehen, wie die Krisen | |
der vergangenen Jahre die deutsche Gesellschaft geprägt haben. | |
Schon 2015 konnte man einige der von Friedman beschriebenen Effekte | |
beobachten. Die Zuwanderung von Flüchtlingen setzte Energien frei, es gab | |
eine große Welle der Solidarität. Sehr viele erlebten die Ereignisse nicht | |
als Krise, andere schon. Sie fühlten sich offenbar bedroht. Das gab der AfD | |
Auftrieb, die Merkels Asylpolitik deutlich kritisierte. Noch besser lässt | |
sich Friedmans Modell auf die Pandemie anwenden. | |
## Unmut auch in der Mitte | |
Ähnlich wie ein Krieg stellte Corona eine konkrete Bedrohung dar, viele | |
hatten gerade zu Beginn große Angst. Um Schlimmeres zu verhindern, griff | |
die Regierung durch: Ausgangssperren, Schulschließungen, Kontaktverbot – | |
die Menschen mussten sich dem Interesse des Kollektivs unterordnen und | |
starke Einschränkungen hinnehmen, die Abwehr des Virus hatte Priorität. | |
Auch während Corona gab es eine große Solidarität. | |
Nachbarn kauften füreinander ein, Ärzte meldeten sich freiwillig für | |
Impfzentren. Um vulnerable Gruppen zu schützen, verzichteten viele auf | |
persönliche Treffen. Die Menschen rückten, wenn auch kontaktlos, zusammen. | |
Mit dieser Einigkeit ging, wie von Friedman beschrieben, auch ein sozialer | |
Druck einher. Wer Maßnahmen oder die Impfung ablehnte, wurde zur | |
Außenseiter*in. Manche verglichen sich mit Widerstandskämpfern, was maßlos | |
übertrieben ist. | |
Niemand musste um sein Leben fürchten, alle konnten, rechtlich gesehen, | |
immer ihre Meinung sagen. Eine soziale Ächtung gab es aber schon. Davon | |
waren mehr betroffen, als man vielleicht denkt. Zu Beginn der Pandemie | |
äußerte ein Fünftel der Deutschen großes oder sehr großes Verständnis für | |
die Coronaproteste, gegen Ende sogar jeder Vierte. Das zeigen | |
[3][repräsentative Zahlen des Wissenschaftszentrums Berlin] für | |
Sozialforschung. Dabei handelte es sich nicht um eine homogene Gruppe. | |
Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen fanden nicht nur am rechten Rand | |
Zustimmung, sondern auch in der politischen Mitte, schreiben die | |
Wissenschaftler*innen. Die etablierten Parteien standen hinter der | |
Coronapolitik der Regierung, angesichts der Bedrohung waren auch sie | |
zusammengerückt. Nur die AfD wetterte von Beginn an gegen Maßnahmen, gegen | |
Impfungen, ebenso wie einzelne Abgeordnete, etwa Sahra Wagenknecht. Im | |
Laufe der Pandemie kritisierte auch die FDP die Einschränkungen immer mehr. | |
## Pandemie schwächt Meinungsvielfalt | |
Für jene 20 bis 25 Prozent, die die Coronapolitik schwierig fanden, hieß | |
das: Sie wurden kaum repräsentiert. Wer sich in der politischen Mitte | |
verortete und die AfD ablehnte, war politisch weitgehend heimatlos. Auch | |
die Meinungsvielfalt litt in der Pandemie. Obwohl ein nicht unerheblicher | |
Teil der Bevölkerung die Maßnahmen kritisch sah, kamen | |
Coronaskeptiker*innen in der Berichterstattung kaum vor, [4][zeigt | |
eine Studie], in der die Beiträge großer Medien zwischen Januar 2020 und | |
April 2021 ausgewertet wurden. | |
Und wenn sie denn vorkamen, wurden sie praktisch durchgängig negativ | |
bewertet. Die Journalist*innen waren insgesamt noch mehr auf Vorsicht | |
aus als die Regierung, zeigt die Studie. „Die Maßnahmen zur Bekämpfung der | |
Pandemie wurden in den meisten Medien als angemessen oder sogar als nicht | |
weitreichend genug bewertet“, so das Fazit der Wissenschaftler. Man kann | |
das richtig finden. Auch Journalist*innen fühlten sich dem Ziel | |
verpflichtet, das Virus zu bekämpfen. | |
Gut möglich, dass sich Menschen auch wegen der Berichterstattung streng an | |
die Maßnahmen hielten und so mehr Ansteckungen verhindert wurden. Ein | |
Ergebnis war aber auch, dass sich ein Viertel bis ein Fünftel der | |
Bevölkerung mit der eigenen Position weder bei den großen Parteien noch in | |
den Medien wiederfand. Es folgte der russische Angriff auf die Ukraine im | |
Februar 2022. Die Angst ging um, dass es auch bei uns Krieg geben könnte. | |
Die Menschen rückten wieder zusammen: Die Solidarität mit der Ukraine war | |
riesig, viele nahmen Geflüchtete sogar [5][in ihren Wohnungen auf]. Auch | |
politisch war die Einigkeit groß. Dass die Ukraine mit Waffen unterstützt | |
werden müsse, diese Ansicht vertraten bald – mit Ausnahme einzelner | |
Abgeordneter – alle demokratischen Parteien. Und auch ein Großteil der | |
Journalist*innen: Eine [6][Studie zur Berichterstattung] in den ersten drei | |
Monaten des Krieges kommt zu dem Schluss: | |
Die „meisten deutschen Leitmedien haben überwiegend für die Lieferung | |
schwerer Waffen plädiert“. Laut einer ARD-Umfrage waren die Deutschen bei | |
dieser Frage allerdings gespalten. Im April sprachen sich [7][45 Prozent | |
gegen die Lieferung schwerer Waffen] aus – auch hier hat sich also eine | |
Lücke aufgetan. Fast die Hälfte der Bevölkerung sah die eigene Meinung | |
weder bei den großen Parteien noch in der Berichterstattung repräsentiert. | |
## Propaganda mit Minderheitenpositionen | |
Vor diesem Hintergrund versteht man eher, dass bei mehr Menschen der | |
Eindruck entstand, „die da oben stecken alle unter einer Decke“. Dass sie | |
anfälliger sind für Verschwörungserzählungen. Dass nur noch 40 Prozent das | |
Gefühl haben, man könne in Deutschland seine [8][politische Meinung frei | |
äußern]. Vor zehn Jahren glaubten das noch 69 Prozent. Krisen wie Corona | |
und der Ukraine-Krieg setzen Kräfte frei, die die Gesellschaft verändern, | |
im Guten und im Schlechten. | |
Sie entfalten eine eigene psychologische Dynamik. Die Einigkeit, die sie | |
mit sich bringen, hilft bei der Bewältigung der Krise. Sie führt aber auch | |
zu einem Verlust von Vielstimmigkeit – und damit bei jenen, die sich nicht | |
repräsentiert sehen, zu einem Verlust von Vertrauen. Mit Friedman könnte | |
man sagen: Krisen bekommen der offenen, liberalen Gesellschaft nicht | |
besonders gut. Und da haben wir über die Klimakrise und den Krieg im Nahen | |
Osten noch gar nicht gesprochen. | |
Der AfD nutzt das, genau wie Sahra Wagenknecht. Sie machte sich zum | |
Sprachrohr all jener, die sich in den Krisen politisch nicht vertreten | |
sahen. Sie machte Stimmung gegen Geflüchtete. Sie setzte sich während | |
Corona als Ungeimpfte in Szene und kritisierte die Maßnahmen. Sie ist gegen | |
Waffenlieferungen an die Ukraine. Damit stößt Wagenknecht in die | |
Repräsentationslücke – mit Erfolg. | |
So wenig einem diese Entwicklung gefallen mag, zeigt sie doch: Die viel | |
gescholtene Demokratie funktioniert. Wenn zu „denen da oben“ vermehrt auch | |
Vertreter*innen der Protestparteien gehören, läuft die | |
Establishment-Schelte irgendwann ins Leere. Genau das könnte ihnen den Wind | |
wieder aus den Segeln nehmen. | |
17 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Habeck-weicht-Heizungsgesetz-auf/!5934970 | |
[2] /Israelischer-Psychologe-ueber-Krieg/!6000125 | |
[3] https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2021/zz21-601.pdf | |
[4] https://rudolf-augstein-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/Studie-einse… | |
[5] /Private-Unterbringung-Gefluechteter/!5935522 | |
[6] https://presse.uni-mainz.de/medien-plaedieren-ueberwiegend-fuer-waffenliefe… | |
[7] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2991.html | |
[8] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1067107/umfrage/umfrage-zur-… | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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